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Gesundheit als Wachstumsmotor der Wirtschaft?
Die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
Von Erik Händeler, Wirtschaftsjournalist, Autor und Zukunftsreferent
Hamburg (22. November 2007) – Wer die heutigen Lebensbedingungen in die Zukunft verlängert, steht vor einem Horrorszenario, wie es der ZDF‑Dreiteiler „Aufstand der Alten" vor einem halben Jahr ausmalte: Demnach überaltert die Gesellschaft, mit Massen von schlecht versorgten Pflegebedürftigen, verarmten Rentnern und ausgebluteten Sozialsystemen. Das wird auch so eintreffen ‑wenn sich am Gesundheitssystem, am Lebensstil und in der Arbeitswelt nichts ändert. Wer die Zukunft plant, sollte den sozio‑ökonomischen und technischen Wandel mit einbeziehen. Die Alten von morgen werden in der Wissensgesellschaft ein anderes Berufsleben hinter sich haben als heutige Rentner. Sie werden ihre Kompetenzen bei weniger Arbeitslast und flexiblen Bedingungen länger einbringen, weil sie länger gesund sein werden ‑ ein wirklich reformiertes, präventives Gesundheitssystem wird ein Leben lang in sie investiert haben.
An den Knappheiten entstehen Innovationen
Im Gesundheitszustand der Deutschen sind die größten, bislang schlafenden Ressourcen der Volkswirtschaft zu mobilisieren ‑ ein Antrieb für einen langanhaltenden Wirtschaftsboom. Den Grund für diesen Optimismus liefert eine alte Argumentation: Dinge werden nicht aus Zufall oder Spielerei (weiter)entwickelt und angewendet ‑ oft wurden dieselben Erfindungen zur selben Zeit unabhängig voneinander gemacht. Sondern Innovationen und neue Märkte entstehen, weil sie wirtschaftlich notwendig werden, schrieb der russische Ökonom Nikolai Kondratieff vor 80 Jahren. Weil die englischen Unternehmer nicht mehr hinterherkamen, Bergwerke zu entwässern und Spinnräder mit Tierkraft anzutreiben, musste die Dampfmaschine erfunden werden. Weil die hohen Transportkosten der Wirtschaft den Atem abdrückten, musste die Eisenbahn gebaut werden. Und weil die Informationsmenge explodierte, brauchte man eben so eine elektronische Kiste wie den Computer, um Wissen effizienter zu verwalten. Was diese Neuerungen an Zeit und Kraft einsparten, damit konnte etwas Zusätzliches geschaffen werden so wuchs dann der Wohlstand.
Nachdem wir inzwischen die Probleme ganz gut gelöst haben, wie wir eine Waschmaschine zusammenmontieren oder Briefe ausdrucken, ist die Nachfrage nach Gesundheit trotz steigender Beiträge längst größer, als es das reglementierte staatliche System finanzieren kann. Die stetig steigenden Schäden für die gesamte Volkswirtschaft verdeutlichen: Der vermeintliche Kostenfaktor Gesundheit wird der künftig entscheidende Produktionsfaktor für die Wirtschaft in der Informationsgesellschaft, eine wirtschaftliche Macht. Gesundheit, und zwar im Ganzen, also auch im seelischen und sozialen Sinne ‑ das ist heute die neue Knappheitsgrenze im Sinne der Kondratiefftheorie, die das Wachstum niedrig hält. Deswegen werden sich daran die neuen Strukturen und Märkte entwickeln.
Der Lebensstil treibt die Krankheitskosten
Die genetische Ausstattung des Menschen reicht theoretisch für 120 Jahre. Wenn die Menschen früher mit Mitte 40 im Bergwerk an Erschöpfung oder an Seuchen starben, dann war das unnormal. Es ist normal, rüstig 80 Jahre alt zu werden. Dass immer mehr Menschen bei uns immer älter werden, ist angesichts unserer historischen wirtschaftlich‑technischen Entwicklung keine demografische Katastrophe, sondern schlicht eine Normalisierung. Nicht das Altern ist das Problem. Kaum einer wagt auszusprechen, was das System sprengt: Das meiste Geld der Pflege‑ und Krankenkassen wird für die Folgen des individuellen Lebensstils in den vorangegangenen Jahrzehnten ausgegeben. Immer mehr Kinder sind dick und haben die Krankheitssymptome alter Menschen. Zu wenig Schlaf ruiniert die Gesundheit, weil der Körper im Schlaf Zellen und Organe repariert, den Körper wachsen lässt und das Immunsystem aufrüstet. Wer das Rauchen aufgibt und täglich auch Obst und Gemüse isst, hat eine gute Chance, länger gesund zu leben.
Einst haben wir mit besserer Hygiene Pest und Kindbettfieber präventiv besiegt. Heute haben wir es mit Seuchen wie der körperlichen Faulheit zu tun, euphemistisch auch „Bewegungsmangel" genannt. Sie verursacht einen Großteil der Zivilisationskrankheiten samt Todesfolgen. Denn der Körper leidet darunter, dass er nicht in Schwung kommt. Ohne Bewegung gibt es kaum Stoffwechsel, die Zellen werden dann zu schlecht versorgt und auch nicht mehr repariert, das Immunsystem vernachlässigt. Oder unsere Gedankenhygiene: Alles, was uns ärgert, wütend macht, ängstigt, sorgt auch dafür, dass wir (Seele) unseren Körper anspannen. Doch ein Muskel, der nur zu einem Drittel angespannt ist, wird nicht mehr durchblutet. Nur wenig mehr moderate, tägliche Bewegung könnte den kommenden Druck auf Renten‑ und Krankenkassen stark mildern.
Weder Kopfpauschale noch Bürgerversicherung verändern jedoch den Lebensstil. Je knapper die Ressourcen im Gesundheitswesen werden, um so mehr steigt der Druck auf den Einzelnen, an seiner Gesundheit weniger Raubbau als bisher zu betreiben. Die Wirklichkeit wird ein Gesundheitssystem erzwingen, in dem nicht wie heute alle Akteure nur ein Interesse an Kranken haben, sondern in dem sie das Geld der Krankenkassen mit Gesunderhaltung verdienen: Individuell passende Bewegung für den Stoffwechsel, Umgang mit Gefühlen und Stress, Lebensberatung. Deswegen wird die neue Gesundheitspolitik einen öffentlichen Rahmen schaffen, in dem der einzelne die Verantwortung für seine Gesundheit nicht mehr allein an die Ärzte oder an den Staat delegiert. Ein präventives System wird dem einzelnen zu einer persönlichen Gesundheitsreform verhelfen, und ihn fördern und fordern, seine Gesundheit zu erhalten. Technischer Fortschritt wird ebenfalls nicht nur Geld kosten, er wird vor allem Geld einsparen ‑ auch weil sich Bildungskapital länger amortisieren kann.
Entspannter und länger Arbeiten in der Wissensgesellschaft
Vergreisungsszenarien sind eng gekoppelt an die Erwerbsbiografien der alten Industriearbeitsgesellschaft, als man in der Produktion arbeitete oder in starren acht‑bis‑17‑UhrBüros. Das Lebensarbeitsende kam damals so abrupt wie vollständig. Die Generation dagegen, die in die Informationsgesellschaft hineingewachsen ist, leistet hauptsächlich immaterielle Wertschöpfung: Planen, organisieren, Wissen finden, das man braucht, um ein Problem zu lösen. Das erzwingt direkte Zuarbeit und oftmals wechselnde Kollegen in verschiedenen Projekten statt Hierarchie und Gleichförmigkeit. Eine kooperative Arbeitskultur und Phasen der Regeneration vorausgesetzt, zehren die Bedingungen der Wissensarbeit weniger an der Gesundheit als vorangegangene Erwerbsbiografien. Und es hilft, auf unspektakuläre Weise länger zu arbeiten.
Die Zukunft ist nicht mehr der Standardmitarbeiter mit der Standardleistungsfähigkeit, sondern Teams, die die individuellen Stärken der Einzelpersonen nutzen. Während früher die älteren Mitarbeiter entweder nach oben befördert oder in den Vorruhestand geschickt wurden, bekommt der Informationsarbeiter eine neue Perspektive: Er wird im Alter bei Projekten Kundenkontakte pflegen, Kollegen beraten und ‑ ohne Gesichtsverlust ‑ hierarchisch „niedriger" als früher Einzelaufgaben übernehmen. Dabei wird er flexibler als in seinen besten Jahren eingesetzt, zeitlich weniger arbeiten und weniger verdienen als bisher, aber eben nicht zwischen 60 und 80 so verarmen, dass er Apotheken überfallen müsste, um an die benötigten Medikamente zu kommen.
Zwar verlieren wir mit zunehmendem Alter an Kraft und manche Fähigkeiten. Wahr ist aber auch, dass ältere Erwerbstätige Wettbewerbsvorteile haben, weil sich manche Eigenschaften eben erst mit den Jahren herausbilden: Die Fähigkeit, drohende Fehler schon vorher zu erkennen; das Überblickswissen über Markt und Kunden; eine Breite an kommunikativem Repertoire. Ältere sichern Entscheidungen besser ab, schätzen Probleme realistischer ein ‑ alles auch aus dem gesammelten Schatz eigener Niederlagen. Wer dann ohne zuviel Stress in Abläufe eingebunden bleibt, der bleibt auch länger lebenstüchtig.
Zugegeben: Altern bleibt eine Herausforderung. Doch die schwärzesten Szenarien werden nicht eintreffen, wenn wir so früh wie möglich Leben und Arbeiten umstellen.
Kurzthesen
- Der drohenden Pflegekatastrophe begegnen wir nicht erst im Alter, sondern in den Jahrzehnten vorher
Altern ist keine Krankheit, sondern rüstig zu altern ist erwünschte Normalität. - Pflegebedürftigkeit lässt sich dort vermeiden, wo sie von den Gesamtfolgen des Lebensstils verursacht ist.
- Ein neues, präventives Gesundheitssystem wird dem einzelnen helfen, seine persönliche Gesundheitsreform zu vollziehen.
- Staat und Arbeitskultur müssen stärker auf Gesunderhaltung achten.
- Aus der Kondratiefftheorie lässt sich ableiten: Je relativ knapper Gesundheit wird, um so stärker werden sich auf diesem Markt neue Dienstleistungen und Produkte etablieren.
- Deswegen werden die Alten von morgen gesünder sein und bei weniger Arbeitslast länger arbeiten können.
Die flexiblen Strukturen der Wissensarbeiten sind eine Chance, auch im Alter noch seine Kompetenzen einzubringen. - Eine Gesellschaft, in der die Mensche länger produktiv am Leben teilnehmen, hat mehr Ressourcen für die, die am Ende pflegebedürftig sind.
Autor
Erik Händeler ist Autor der Bücher „Die Geschichte der Zukunft" sowie „Kondratieffs Welt" und ist Referent des Zukunftsinstitutes von Matthias Horx in Kelkheim bei Frankfurt. haendeler@aol.com, www.Kondratieff.biz