37. Münchener Fachpresse-Workshop

Onkologische Supportivtherapie:
Neues zur Antiemese, Neutropenie-Prophylaxe und zur Integration der Selentherapie

München (30. März 2017) – Die überwiegende Mehrheit der Tumorpatienten in Deutschland leidet unter Selenmangel. Insbesondere nach einer Strahlentherapie werden stark defizitäre Werte gemessen. Über das Potenzial einer Substitution bei diagnostiziertem Selendefizit mit anorganischen Selen in Form von Natriumselenit berichtete Dr. Peter Holzhauer, Oberaudorf. Nach ersten vielversprechenden Studienergebnissen forderte er weitere Studien in der onkologischen Supportivtherapie. Febrile Neutropenien sind eine potenziell lebensbedrohliche Komplikation vieler Chemotherapieprotokolle. Eine Prophylaxe mit Granulozyten-koloniestimulierenden Wachstumsfaktor (G-CSF)-Präparaten wie Pegfilgrastim (Neulasta®) kann helfen, Mortalität12 und Morbidität durch febrile Neutropenien zu reduzieren, stationäre Aufenthalte zu vermeiden und die geplante Dosisintensität der Chemotherapie zu erhalten, erklärte Prof. Hartmut Link, Kaiserslautern. Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen werden durch verschiedene Pathomechanismen ausgelöst. Die aktuellen Antiemese-Leitlinien nationaler und internationaler Fachgesellschaften empfehlen bei hoch emetogenen Chemotherapien und seit Neuem auch bei bestimmten moderat emetogenen Substanzen wie Carboplatin vor der Chemotherapie ein antiemetisches Kombinationsregime aus 5-HT3-Rezeptortantagonist, NK1-Rezeptorantagonist und Dexamethason, berichtete Prof. Karin Jordan, Heidelberg. Ein neuer NK1- Rezeptorantagonist mit besonders langer Halbwertzeit ist Rolapitant, dessen Zulassung in der EU im April 2017 erwartet wird.

Immer mehr Tumorpatienten fordern supportive und komplementäre Maßnahmen ein. Diese gewinnen damit im klinischen Alltag an Bedeutung und entwickeln sich beständig fort, konstatierte die Moderatorin des 37. Münchener Fachpresseworkshops, Prof. Petra Feyer, Berlin. Die Integration von Selen in die onkologische Supportivtherapie steht noch am Anfang, wie Dr. Peter Holzhauer, Oberaudorf, berichtete. Selen ist ein essentielles Spurenelement und entfaltet als Bestandteil von Selenoproteinen zahlreiche pleiotrope Effekte. Selen wirkt antiinflammatorisch, antioxidativ, zytoprotektiv und spielt eine wesentliche Rolle bei DNA-Reparaturvorgängen sowie im Schilddrüsenstoffwechsel. Für den Bereich der Onkologie und Hämatologie sind neben der Optimierung von DNA-Reparaturmechanismen bei gesunden Zellen vor allem wichtige immunologische Abläufe wie Aktivierung des T-Zell-Rezeptors und Antikörper vermittelte Zytotoxizität (ADCC) abhängig von einer ausreichenden Versorgung mit Selen, sagte Holzhauer. Darüber können Selenmetabolite selektiv für Tumorzellen Apoptose auslösen.

Anorganisches Selen: Hohe Bioverfügbarkeit

„Selen ist allerdings nicht gleich Selen. In Deutschland wird bei onkologischen Patienten Natriumselenit eingesetzt“, so Holzhauer weiter. Anorganisches Selen wird selektiver in Selenoproteine eingebaut. Die Auswahl des geeigneten Selenmetaboliten für die Substitution sei von großer Bedeutung, so Holzhauer. Während anorganische, redoxaktive Selenverbindungen wie Natriumselenit unmittelbar bioverfügbar seien („nach 30 Minuten wird das anorganisches Selen bereits in Selenoproteine eingebaut“), würden organische Selenverbindungen überwiegend unspezifisch in Strukturproteine eingebaut. Erst nach drei bis vier Monaten sei organisch gebundenes Selen in Selenproteinen nachweisbar. „Organisches Selen ist damit als nicht bioverfügbarer Metabolit therapeutisch völlig ungeeignet und für onkologische Anwendungen obsolet“, sagte Holzhauer. Organisch gebundenes Selen könne zudem im Organismus kumulieren, während anorganisch gebundenes Selen im Falle einer Überdosierung ausgeschieden werde.

Substitution mit Natriumselenit nur bei nachgewiesenem Mangel

Deutschland ist wie viele europäische Länder Selenmangelgebiet. Als Optimalbereich für die Selenkonzentration werden derzeit 122 μg (130–150 μg/l im Serum), entsprechend 152,5 μg (167-188 μg/l) im Vollblut3 diskutiert. Das Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gibt Werte von 100-140 μg/l im Serum und 120 -160 μg/l im Vollblut an. Im Selendefizit sei keine ausreichende und optimale Aktivität von Selenoproteinen gewährleistet, sagte Holzhauer: „Ab der Untergrenze von 100 μg/l im Vollblut werden wichtige Selenoproteine wie die Glutathionperoxidase überhaupt erst aktiv“. In Deutschland lägen die durchschnittlichen Selenspiegel jedoch nur bei 70-80 μg/l im Serum. „80-90 % aller Tumorpatienten haben einen Selenmangel“, konstatierte Holzhauer. Eine Selensupplementation sollte nur bei Personen mit defizitärer Versorgungslage nach vorheriger Diagnostik durchgeführt werden. Deshalb sei es obligat, vor einer Substitution den Selenspiegel der Patienten zu messen. Es gelte der Grundsatz: „Nur Defizite, keine Normalwerte und nur mit anorganischem Selen substituieren.“

Selen in Form von Natriumselenit besitzt nach Angaben von Holzhauer eine sichere therapeutische Breite, Selentoxizitäten seien im Grunde nur bei einer dauerhaften extremen Überdosierung möglich. „In Nahrungsergänzungsmitteln wie Multivitamin-/Multimineral- Kombinationen ist fast ausschließlich organisch gebundenes Selen enthalten. „Selenvergiftungen durch solche Nahrungsergänzungsmittel mit Fingernagelveränderungen und Haarverlust wurden beobachtet“, berichtete Holzhauer.

Selen als supportive Maßnahme in der Onkologie

Rationale für den therapeutischen Einsatz von Selen bei Tumorpatienten ist die Beobachtung, dass der Selenbedarf von onkologischen Patienten in der therapeutischen Belastungssituation erheblich zunimmt, etwa während einer Strahlen- und/oder Chemotherapie sowie in der perioperativen Situation. „In der Onkologie haben wir leider kaum aktuelle Therapieinterventionsstudien mit Selen mit ausreichendem Evidenzniveau“, konstatierte Holzhauer. Bei hämatologischen Tumoren ergab eine ältere Untersuchung bei Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphom Hinweise auf eine Korrelation zwischen erniedrigten Selenleveln und dem Ansprechen auf eine Chemotherapie und mit dem Überleben4. Bei Patientinnen mit Mammakarzinom, die mit einer Strahlentherapie behandelt wurden, wurden nach der Radiotherapie gegenüber der Ausgangssituation signifikant reduzierte Selenspiegel beobachtet5. „In der Studie hatten 62,7% der 209 Patientinnen nach der Strahlentherapie kritische Selenspiegel von unter 40 μg/l“, berichtete Holzhauer. In einer Phase-III-Studie bei Patientinnen mit Zervix- und Endometriumkarzinom wurde Natriumselenit in pharmakologischer Dosierung (500 μg) an den Tagen der Strahlentherapie gegeben, an therapiefreien Tagen mit 300 μg. Dadurch konnten die vor der Behandlung deutlich erniedrigten Selenspiegel der Patienten (um 65 μg/L im Serum) auf rund 90 μg/l im Serum erhöht werden. Außerdem wurde als Folge der Supplementation eine Verminderung der Inzidenz der Diarrhoe beobachtet6. Ein Langzeit-Follow-Up über 10 Jahre zeigte keine nachteiligen Effekte der Selensupplementation auf die Wirkung der Strahlentherapie. „Außerdem ließ sich ein Trend zu einem verbesserten Gesamtüberleben beobachten“, berichtete Holzhauer7. In einer doppelblinden randomisierten Studie bei 122 Tumorpatienten unter Cisplatin-Therapie wurde gezeigt, dass Selenit die Nephrotoxizität von Cisplatin vermindert. In der Placebogruppe erlitten 11,5% der Patienten ein akutes Nierenversagen, bei den mit Selen behandelten Patienten keiner (p=0,013)8. Bei Patientinnen mit Ovarialkarzinom wurde Selen in supportiver Zielsetzung begleitend zur Chemotherapie eingesetzt. Durch die Supplementierung ergaben sich höhere Selenspiegel, signifikant höhere Zahlen neutrophiler Granulozyten / Leukozyten (p<0,0001) sowie weniger Übelkeit und Erbrechen, Stomatitis und Fatigue9.

„Selen als Natriumselenit hat ein vielversprechendes Potenzial für den Einsatz in der supportiven Tumortherapie, leider ist die Studienlage völlig unzureichend“, resümierte Holzhauer. Klinische Studien zu Selen hält Holzhauer vor allem in den Bereichen internistische Onkologie, gynäkologische Onkologie, urologische Onkologie und Strahlentherapie für sinnvoll. Diese sollten unbedingt mit Natriumselenit durchgeführt werden. Zukünftige Studien sollten unter anderem die offenen Fragen klären, ob Natriumselenit als Prämedikation einer medikamentösen Tumortherapie im Allgemeinen oder einer Strahlentherapie im Besonderen geeignet ist und möglicherweise auch als zytotoxische Komponente in der Onkologie sinnvoll eingesetzt werden kann.

Neutropenien und therapiebedingte Infektionen

Infektionen sind eine häufige therapiebedingte Todesursache bei Patienten unter myelosuppressiven Chemotherapien, die zu Neutropenien führen. „Fieber ist Ausdruck der Infektion bei diesen neutropenen Patienten und ein sehr ernstzunehmendes Alarmsignal. Insofern ist die febrile Neutropenie etwas, was uns Onkologen immer beschäftigt“, berichtete Prof. Hartmut Link, Kaiserslautern. Kurzfristige Folge einer febrilen Neutropenie (FN) ist die Hospitalisierung, schwer wiegen jedoch auch die langfristigen Konsequenzen, etwa eine verminderte Dosisintensität der tumoraktiven Therapie. „Die Dosisintensität pro Zeiteinheit verschlechtert sich nicht nur durch Dosisreduktionen, sondern auch durch die Zyklusverschiebungen aufgrund der Neutropenie. Im Sinne einer optimalen und eventuell kurativen Therapie sollten wir die geplante Dosisintensität aber tunlichst einhalten“, betonte Link. Studien haben gezeigt, dass eine verringerte Dosisintensität bei Patientinnen mit primärem Mammakarzinom unter anthrazyklinhaltiger Chemotherapie10 und bei Patienten mit DLBCL unter CHOP-21 Chemotherapie11 zu einem reduzierten Gesamtüberleben führt.

Leitlinien empfehlen primäre Prophylaxe mit G-CSF

Nach einer myelosuppressiven Chemotherapie regt die prophylaktische Gabe von Granulozyten-koloniestimulierenden Wachstumsfaktor (G-CSF)-Präparaten wie Pegfilgrastim (Neulasta®) die Proliferation und Differenzierung von Vorläuferzellen an und beschleunigt so die Regeneration der Granulozyten-Zellzahlen in den protektiven Bereich. Dadurch können Schwere und Dauer von Neutropenien und infektionsassoziierte Risiken reduziert werden. Zur Prävention der FN empfehlen internationale Leitlinien wie die der EORTC12 und der ASCO13 sowie die deutsche S3-Leitlinie „Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen14 den Einsatz von G-CSF ab einem Risiko für eine FN von 20% bzw. bereits ab 10%, wenn zusätzlich patientenbezogene Risikofaktoren vorliegen. Diese wurden in der S3- Leitlinie nach intensiven Literaturrecherchen als folgende Faktoren definiert: Alter > 65 Jahre, niedriger Performancestatus (niedriger Karnofsky Index, hoher ECOG), Komorbiditäten (COPD, Herzinsuffizienz NYHA III-IV, HIV-Infektion, Autoimmunerkrankung, deutlich eingeschränkte Nierenfunktion), eine weit fortgeschrittene, symptomatische Tumorerkrankung, Chemotherapie in der Vergangenheit, Anämie, Lymphozytopenie <700/μl, Hypalbuminämie und Hyperbilirubinämie.

Leitlinienumsetzung im Alltag besser, aber noch nicht befriedigend

Leider finden die evidenzbasierten Leitlinien im praktischen Alltag häufig keine Berücksichtigung. Schon 2012 hatte eine von der Arbeitsgemeinschaft Supportive Maßnahmen in der Onkologie, Rehabilitation und Sozialmedizin (ASORS) der Deutschen Krebsgesellschaft durchgeführte retrospektive, multizentrische Datenerhebung und Umfrage ergeben, dass die Leitlinien auch im deutschen Praxisalltag bei Patienten mit Mammakarzinom, Lungenkarzinom und malignen Lymphomen nur teilweise umgesetzt werden15. Drei Jahre später führte die ASORS in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) in der Deutschen Krebsgesellschaft eine zweite Umfrage zur Leitlinienumsetzung bei der Neutropenieprophylaxe auf etwas schmalerer Datenbasis durch16. „Auch diese zweite Umfrage ist eine repräsentative Stichprobe und sie erfasst durch die Auswertung von Patientenakten, was tatsächlich passiert ist“, berichtete Link, der wissenschaftliche Leiter der Studie. Parallel dazu wurden die behandelnden Ärzte zu ihrem Kompetenzprofil, ihrer Beurteilung der Leitlinienqualität und ihrem Therapieverhalten bei der G-CSF-Prophylaxe befragt. „Diese Befragung wurde wiederum anonym durchgeführt, was natürlich die Bereitschaft zur Teilnahme erhöht“, ergänzte Link.

Die zweite Umfrage mit einem Kollektiv von 1374 Patienten mit Lungen- und Mammakarzinom ergab, dass die Leitlinien inzwischen bekannter geworden sind und auch zunehmend umgesetzt werden. Bei der Behandlung von Patienten mit Lungenkarzinom hat sich die Leitlinienadhärenz im Vergleich zur vorhergehenden Umfrage zwar signifikant verbessert, allerdings ist sie noch immer nicht befriedigend. „Hier haben wir immer noch viel Luft nach oben“, so Link. Bei den Patientinnen mit Mammakarzinom hatte sich die Leitlinienadhärenz der Behandler bei denjenigen Patientinnen mit hohem FN-Risiko bereits in der ersten Studie als gut erwiesen und war in der zweiten Umfrage erneut gut. Die zweite Umfrage ergab, dass auch bei den Patientinnen mit mittlerem Risiko die Leitlinientreue signifikant gestiegen war. „Interessanterweise schnitten zertifizierte Zentren und Comprehensive Cancer Centers signifikant besser ab, und das, obwohl supportivmedizinische Standards bei der Zertifizierung durch die DKG bisher keine Rolle spielen“, berichtete Link weiter.

Pegfilgrastim überlegen

Eine aktuelle prospektive Studie zeigt, dass eine unzureichende und nicht leitliniengerechte G-CSF-Prophylaxe zu signifikant mehr Störungen der Chemotherapie durch Neutropenie und FN führt17. „Wichtig ist, dass wir die Prophylaxe mit G-CSF richtig durchführen“, betonte Link. So bestehe bei unpegyliertem Filgrastim, das täglich gegeben werden muss, die Gefahr einer zu kurzen Anwendung, so dass die klinische Wirksamkeit nicht sicher gewährleistet sei. „Die tägliche G-CSF-Prophylaxe sollte aber unbedingt bis zur Regeneration der neutrophilen Granulozyten in den Normbereich erfolgen“. Langwirksames Pegfilgrastim, das pro Zyklus nur einmal nach der Chemotherapie gegeben werden muss, dürfe frühestens 24 h und spätestens 3 Tage nach Applikation der Chemotherapie verabreicht werden. Pegfilgrastim ist dem konventionellen Filgrastim auch bei ausreichend langer Anwendung von Filgrastim hinsichtlich der Reduktion febriler Neutropenien überlegen, wie Studien gezeigt haben18 19. Auf einem beim ECCO 2017 publizierten Poster empfiehlt eine internationale Expertengruppe nach Auswertung von 44 Publikationen, langwirksames Pegfilgrastim gegenüber der täglichen Filgrastim-Injektion zu bevorzugen20. Eine Prophylaxe mit Antibiotika solle aufgrund der Gefahr der Resistenzbildung grundsätzlich unterbleiben, so Link.

„Ein Problem ist, dass viele Kollegen das FN-Risiko der eingesetzten Chemotherapieprotokolle und auch vieler neuer Substanzen in der Onkologie gar nicht kennen. Hier bedeutet die Internetseite Onkopti® einen enormen Qualitätssprung in der Onkologie“, so Link abschließend. Onkopti® ist eine Datenbank mit digitalisierten Therapieprotokollen der Onkologie und standardisiert die Chemo- und die dazugehörige Supportivtherapie“ (www.onkopti.de)21.

Antiemese 2017

Ein Update zur Antiemese, nach wie vor einer der bedeutendsten Bausteine der onkologischen Supportivtherapie, lieferte Prof. Karin Jordan, Heidelberg: „Hier hat sich in der letzten Zeit einiges getan – wir haben aktualisierte internationale und nationale Leitlinien und uns wird ab Mai 2017 mit Rolapitant ein neuer NK1-Rezeptorantagonist zur Verfügung stehen“. Während die neuen Antiemese-Leitlinien der Multinational Association of Supportive Care in Cancer (MASCC) und der European Society for Medical Oncology (ESMO) bereits 2016 veröffentlicht wurden, befinden sich die der American Society of Clinical Oncology (ASCO) derzeit in Überarbeitung. Auf nationaler Ebene berücksichtigt der Abschnitt „Tumortherapie induzierte Nausea und Emesis“ der S3-Leitlinie „Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen“ die aktuelle Studienlage und folgt in den meisten Aspekten den Empfehlungen der MASCC/ESMO-Leitlinie.

Multiple Pathomechanismen für Übelkeit und Erbrechen erfordern antiemetische Kombinationstherapie

„Das Rückgrat der antiemetischen Prophylaxe für unsere Patienten bilden die 5-HT3-Rezeptorantagonisten. Sie wirken vornehmlich in der akuten Phase nach der Applikation der Chemotherapie“, erklärte Jordan. Gegen verzögert, also an den Tagen 2 bis 5 nach der Chemotherapie, auftretende Übelkeit und Erbrechen wirken vor allem die Neurokonin-1-Rezeptorantagonisten (NK1-RA), der zweite wichtige Pfeiler antiemetischer Kombinationsregime. Zu erklären ist dies durch die unterschiedlichen Pathomechanismen, die der akuten und der verzögerten Chemotherapie-induzierten Übelkeit und Erbrechen (CINV) zugrunde liegen. Jedoch lösen diese Mechanismen nicht ausschließlich, sondern nur vorwiegend die jeweilige Form der CINV aus, betonte Jordan. „Außerdem sind immer die individuellen Risikofaktoren der Patienten zu berücksichtigen: Ein junges Alter, weibliches Geschlecht und eine ängstliche Persönlichkeit erweisen sich immer wieder als entscheidende Risikofaktoren“. Für den primären Einsatz von Metoclopramid, das im Alltag noch häufig eingesetzt würde, sieht Jordan keine klare Indikation mehr. „MCP ist leider ein für die Prophylaxe der CINV völlig überschätztes Medikament.“ Die dritte wichtige Substanzklasse bilden die Kortikosteroide, deren antiemetische Wirkmechanismen jedoch nicht vollständig geklärt sind. Dexamethason wird sowohl in der akuten als auch verzögerten Phase eingesetzt.

Neuer NK1-Rezeptorantagonist

Als Vertreter der Substanzklasse der NK1-RA standen in Deutschland bislang orales Aprepitant, intravenöses Fosaprepitant und in der oralen Fixkombination mit Palonosetron Netupitant zur Verfügung. Allen bisher verfügbaren NK1-RA ist gemeinsam, dass die für die Prophylaxeregime der akuten und verzögerten CINV empfohlene Dosierung von Dexamethason reduziert werden muss. „Diese Dosisanpassung des Kortikosteroids ist aufgrund der Interaktion dieser NK1-Rezeptorantagonisten mit dem Enzym CYP3A4 notwendig“, erklärte Jordan. Da bei Rolapitant eine Interaktion mit CYP3A4 nicht zu erwarten ist, muss die Dexamethason-Dosis nicht angepasst werden. „Dexamethason kann also mit 20 mg gegeben werden“, sagte Jordan, seit 2009 MASCC/ESMO-Boardmember der „Consensus Conference on Antiemetic Therapy“.

Rolapitant ist ein oraler, hoch selektiver, lang wirksamer NK1-RA mit einer sehr langen Halbwertszeit von etwa 7 Tagen (169-183 Stunden). In den USA ist Rolapitant bereits unter dem Handelsnamen Varubi® als Teil einer antiemetischen Kombinationstherapie bei Erwachsenen für die Prävention von verzögerter Übelkeit und Erbrechen durch emetogene Chemotherapien zugelassen, einschließlich, aber nicht beschränkt auf, hoch emetogene Chemotherapien. „Die Indikation ist im Zulassungstext die verzögerte Übelkeit, der primäre Endpunkt der Zulassungsstudien, dennoch muss die Rolapitant-Tablette nur einmal an Tag 1 vor der Chemotherapie gegeben werden, danach muss man daran nicht mehr denken“, berichtete Jordan.

„Die nicht zu erwartende CYP3A4-Interaktion könnte in der Klinik ein Vorteil sein, das wird sich jedoch erst zeigen“, so die Expertin weiter und wies auf die Interaktion von Rolapitant mit CYP2D6, BCRP und P-gp hin. „Derzeit gibt es keine Head-to-head-Studien mit anderen NK1-RA“.

Überzeugende Studienlage

Rolapitant wurde in zwei Phase-III-Studien bei Cisplatin-basierter hoch emetogener Chemotherapie (HEC 1 und 2) und einer Phase-III-Studie bei moderat emetogener Chemotherapie (MEC) geprüft. „Nach damaliger Definition galten auch Anthrazyklin/Cyclophosphamid (AC)-basierte Regime als moderat emetogen, diese waren somit in der MEC-Studie eingeschlossen“, ergänzte Jordan. Primärer Endpunkt sowohl der HEC1-Studie bei 532 Patienten als auch der HEC2-Studie bei 555 Patienten war das Erreichen eines kompletten Ansprechens auf die Antiemese (Complete Response (CR): kein Erbrechen, keine Notfallmedikation) in der verzögerten Phase (> 24 h – 120 h nach Beginn der Chemotherapie). Beide Studien erreichten ihren primären Endpunkt. In der HEC1-Studie betrug das Delta zwischen den Studienarmen 15%. In der HEC1-Studie erzielten in der verzögerten Phase 73% der Patienten, die das Regime mit Rolapitant erhalten hatten, ein komplettes Ansprechen gegenüber 58% der Patienten, die mit einer Placebotablette, Granisetron und Dexamethason behandelt worden waren (p=0,0006). In der HEC2-Studie lag die Differenz in der verzögerten Phase bei 8%22. In der MEC-Studie erhielten 1369 Patienten 1:1 randomisiert entweder Rolapitant oder Placebo vor der Chemotherapie, Granisetron an den Tagen 1 bis 3 und Dexamethason an Tag 1. Auch hier waren die Komplettansprechraten unter der Kombinationstherapie aus Rolapitant, Granisetron und Dexamethason gegenüber der alleinigen Kombination von Granisetron und Dexamethason in der verzögerten Phase und im gesamten Risikozeitraum signifikant verbessert (p<0,002 bzw. p<0,0001)23.

NK1-Rezeptorantagonisten verbessern Schutz vor CINV bei Carboplatin signifikant

Carboplatin rangiert in der Gruppe der als MEC klassifizierten Substanzen am oberen Ende der mit einem Emesisrisiko von 30-90 % sehr weit gefassten Spanne, erklärte Jordan. Eine Reihe von Studien der letzten Jahre hatte bei verschiedenen Carboplatin-haltigen Chemotherapieregimen und Tumorerkrankungen ebenfalls deutliche Vorteile für diejenigen Patienten gezeigt, die eine antiemetische Prophylaxe mit einem NK1-RA analog der Vorgehensweise bei HEC erhalten hatten24 25 26. In der MEC-Studie mit Rolapitant wurde in einer post hoc-Analyse die Kombinationsantiemese mit Rolapitant bei 401 Patienten unter Carboplatin-basierter Chemotherapie in Zyklus 1 evaluiert27. Mit 80,2% erzielten im gesamten Risikozeitraum (Tag 1-5) signifikant mehr Patienten ein komplettes Ansprechen im Vergleich zu den nur mit 5-HT3-RA und Dexamethason behandelten Patienten, von denen 64,6% komplett auf die Antiemese ansprachen (p < 0,001). „Diese klinisch relevante Differenz von 15,6% ist bemerkenswert. Sie liegt im gleichen Bereich wie die durch die Hinzunahme eines NK1-Rezeptorantagonisten erzielten Verbesserungen, die bei Cisplatin beobachtet werden“, kommentierte Jordan. Noch deutlicher war der Unterschied bei den Komplettansprechraten mit 16,7% in der verzögerten Phase (p<0,001).

Leitlinien empfehlen Antiemese mit NK1-Rezeptorantagonist bei Carboplatin

Der offensichtlichen Sonderstellung von Carboplatin unter den als moderat emetogen klassifizierten Substanzen tragen die aktuellen MASCC/ESMO-Leitlinien Rechnung, die bei Carboplatin-Applikation an Tag 1 eine antiemetische Kombinationstherapie mit NK1-RA, 5-HT3-RA und Dexamethason empfehlen. Dieser Einschätzung folgt auch die DGHO in ihren Onkopedia-Leitlinien „Antiemese bei medikamentöser Tumortherapie“28. In der deutschen S3-Leitlinie „Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen“ ist die Hinzunahme eines NK1-RA bei Carboplatin-baserten Regimen mit einer Kann-Empfehlung versehen. Rolapitant sei in der im November 2016 publizierten S3-Leitlinie noch nicht enthalten, da Verweise auf in Deutschland noch nicht zugelassene Medikamente nicht zulässig seien. Deshalb könne Rolapitant erst in einem Update der Leitlinie berücksichtigt werden, betonte Jordan, Koordinatorin der S3-Leitlinie.

Literaturverweise

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  28. Onkopedia Leitlinie „Antiemese bei medikamentöser Tumortherapie“. Abrufbar unter https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/antiemese-bei-medikamentoeser-tumortherapie/@@view/html/index.html; letzter Zugriff 8.4.2017

Autorin: Mascha Pömmerl, Feldkirchen-Westerham


Quelle: 37. Münchener Fachpresse-Workshop der POMME-med GmbH am 30.03.2017 in München; Gemeinsame Sponsoren: AMGEN GmbH, Mundipharma Deutschland GmbH & Co. KG, TESARO Bio Germany GmbH (tB).

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