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Alkoholismus – die Sucht der anderen
Stuttgart (18. Mai 2010) – Der FC Bayern hat gerade die 22. Deutsche Fußballmeisterschaft gewonnen. Es passierte, was bisher stets passierte: Die Spieler verpassen dem Trainer des Vereins eine „Bierdusche“ – sie übergießen ihn mit Weizenbier. Kaum etwas illustriert besser, wie sehr Alkohol akzeptiert und geduldet ist: Alkohol ist auch im Jahr 2010 ein Symbol für Erfolg. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Alkohol allgegenwärtig und meist positiv besetzt ist“, meint der Psychiater Georg Schomerus von der Universität Greifswald. In einer in der Fachzeitschrift „Psychiatrische Praxis“ (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2010) publizierten Studie wertete er 27 Bevölkerungsbefragungen zum Thema „Alkoholismus“ aus den Jahren 1951 bis 2008 aus – und weist auf einen eklatanten Widerspruch hin: Einerseits ist der „gesunde Trinker“ gesellschaftlich bestens integriert; andererseits wird kaum eine Personengruppe sozial so stark ausgegrenzt und abgelehnt wie die der Alkoholiker.
Nach Auffassung der Bevölkerung haben der gesellige Feierabendtrinker und der suchtgeplagte Säufer nichts miteinander gemein. „Dabei ist es vom starken, regelmäßigen Alkoholkonsum zur Abhängigkeit nur ein kleiner Schritt – zumindest medizinisch betrachtet“, so Schomerus. Wer alkoholkrank ist, der wird gemieden, geächtet und ausgegrenzt. Menschen mit Schizophrenie, AIDS oder Depression genießen beispielsweise ein höheres Ansehen als Trinker.
Auf die Frage, ob man bereit wäre, einem Alkoholiker ein Zimmer zu vermieten, antworteten bei einer Bevölkerungsumfrage 78 Prozent der Befragten mit „Nein“. Soviel Ablehnung schlägt kaum jemandem entgegen. Zum Vergleich: Einem schizophrenen Menschen würden „nur“ 64 Prozent der Menschen eine nächtliche Bleibe verwehren. „Die Bevölkerung reagiert auf Alkoholkranke mit starker Ablehnung“, sagt Schomerus. Nur das Image von Neonazis und Drogen-Junkies ist noch schlechter. In Befragungen zeigte sich, dass etwa sieben von zehn Menschen Alkoholiker für unberechenbar und gefährlich halten. Zu diesem Ergebnis kamen Forscher in den USA, England und Deutschland. Dieses Negativ-Urteil der Bevölkerung hat sich in den letzten zehn Jahren nicht gewandelt.
Das Bild des Alkoholikers ist von Widersprüchen gekennzeichnet: So hält die Mehrheit der Menschen den Alkoholismus zwar für eine Krankheit. Gleichzeitig attestiert sie dem Alkoholiker jedoch einen schlechten Charakter und mangelnde Willenskraft. Stärker noch als bei anderen psychiatrischen Leiden geht der Durchschnittsbürger davon aus, dass Alkoholismus biografische Ursachen hat – also auf Lebensereignisse wie Scheidung, Gewalterfahrung oder Arbeitsplatzverlust zurückzuführen ist.
„Das Laienpublikum favorisiert eindeutig eine psychosoziale Verursachung des Alkoholismus“, meint Schomerus. Biologische Ursachenannahmen fallen dahinter deutlich zurück. Diese Tendenz ist noch ausgeprägter als bei anderen psychischen Erkrankungen.
Und auch jene Befragten, die genetische oder biochemische Gründe für Alkoholismus anführen, betonen die Eigenverantwortlichkeit des Süchtigen: Die Befürworter eines biologistischen Krankheitsmodells bescheinigen dem Alkoholiker gleichfalls charakterliche Defizite.
G. Schomerus:
Einstellung der Bevölkerung zu Alkoholkranken.
Psychiatrische Praxis 2010; 37 (3): S. 111-118
Quelle: Thieme Presseservice, 18.05.2010 (tB).