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Behandlung von Angststörungen

Experten empfehlen Internet-Therapie zur Überbrückung oder Ergänzung

 

Berlin (11. Juni 2021) – Panikattacken, ständige Besorgtheit ohne triftigen Grund, Furcht vor der Ablehnung durch andere Menschen: Angststörungen führen die Rangliste der häufigsten psychischen Erkrankungen noch vor Depressionen an. Die neue Fassung der S3-Leitlinie zur Therapie und Diagnostik von Angststörungen sieht nun erstmals vor, eine Online-Therapie als Überbrückung bis zum Beginn einer Psychotherapie oder als therapiebegleitende Maßnahme anzubieten. Wie die Studienergebnisse für Internettherapien zu bewerten sind und welche weiteren Neuerungen die Leitlinie bringt, berichten Experten am 16. Juni 2021 auf einer Online-Pressekonferenz zum Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Der Kongress findet vom 16. bis 18. Juni 2021 unter dem Motto „Mind the Gap – Forschung und Praxis im Dialog“ virtuell statt.

Bis zu 14 Prozent der deutschen Bevölkerung sind an einer behandlungsbedürftigen Angststörung erkrankt, jeder Vierte leidet mindestens einmal im Leben darunter. Zu den wichtigsten Formen gehören die Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie, die generalisierte Angststörung, die soziale Angststörung und spezifische Phobien wie etwa die Angst vor Spritzen.

Um die Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie für diese psychische Erkrankung aktuell zu halten, hat ein Gremium von 29 Fachverbänden und Organisationen aus den Bereichen Psychotherapie, Psychologie, Psychosomatische Medizin, Psychiatrie, Allgemeinmedizin sowie Patientenvertretern und Selbsthilfeorganisationen die Leitlinie bearbeitet. „Dafür wurden neu erschienene Publikationen recherchiert und internationale Leitlinien ausgewertet“, erläutert Kongresspräsident Professor Dr. med. Volker Köllner, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Abteilung Psychosomatik, Reha-Zentrum Seehof sowie Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

 

Stärkste Evidenz für Verhaltenstherapie und medikamentöse Behandlung

Bestätigt wurde, dass für die kognitive Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie weiterhin die meisten positiven Studienbefunde vorliegen. „Diese beiden Therapien stehen als Empfehlungen an erster Stelle“, erklärt Professor Dr. med. Borwin Bandelow von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Göttingen, der an der Leitlinienerstellung inhaltlich federführend beteiligt war. „Eine psychodynamische Therapie soll angeboten werden, wenn eine kognitive Verhaltenstherapie sich nicht als wirksam erwiesen hat, nicht verfügbar ist oder eine diesbezügliche Präferenz des informierten Patienten besteht“, fügt der Angstforscher hinzu. Die psychodynamische Therapie konzentriert sich auf unbewusste Konflikte, die bearbeitet und aufgelöst werden sollen.

Aber die Leitlinie hält auch eine Neuerung bereit. „Künftig können Internetinterventionen angeboten werden“, erläutert Leitlinien-Koordinator Professor Dr. med. Dipl.-Psych. Manfred Beutel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Mainz. „Solche Online-Programme lassen sich niedrigschwellig von zuhause durchführen, sind gut erreichbar und flexibel anwendbar.“ Dabei absolvieren Betroffene strukturierte Selbsthilfe-Programme, die meist verhaltenstherapeutische Anleitungen zur Bewältigung der Störung geben, oder die Patienten verfassen Blogs, die Therapeuten kommentieren – ein persönlicher Kontakt mit einem Therapeuten findet nicht statt. Für die soziale Phobie gibt es inzwischen auch ein erfolgreiches psychodynamisches Online-Programm.

 

Online-Therapie: Schwächen beim Studiendesign, Defizite bei Expertise und Interaktion

Aktuelle Studien, die die Wirksamkeit der Online-Selbsthilfe untersuchen, berichten über ähnlich gute Effekte wie bei persönlichen Psychotherapien. Diese Ergebnisse betrachten die Experten allerdings mit großer Zurückhaltung. „Die Wirksamkeit der Online-Therapie für die Praxis dürfte überschätzt werden, da die Studienteilnehmer sehr selektiv – meist mit akademischem Hintergrund – eingeschlossen werden“, kritisiert Bandelow. Außerdem fehle vielen Studien eine eindeutige Verblindung, was ihre Aussagekraft erheblich schwäche.

„Die Diagnosen wurden zudem überwiegend online und nicht im direkten Kontakt mit einem ausgebildeten Therapeuten gestellt“, bemängelt der Göttinger Spezialist für Angststörungen weiter. Da durch die Online-Behandlung Therapeutenzeit gespart werden soll, haben die digitalen Teilnehmer mit ihrem Behandler nur minimale Kontakte per E-Mail oder Telefon. Bei den „Therapeuten“ handelte es sich in den Studien häufig um Psychologiestudenten ohne Therapieausbildung. „In der Leitliniengruppe bestand daher Einigkeit, dass eine Online-Therapie eine Psychotherapie keinesfalls ersetzen kann, sondern nur zur Überbrückung bis zum Beginn einer Psychotherapie oder als therapiebegleitende Maßnahme zur Vertiefung der Behandlung dienen sollte“, resümiert Beutel.

 

Systemische Therapie und virtuelle Konfrontationstherapie

Weitere Neuerungen der Leitlinie: Die Experten empfehlen eine systemische Therapie bei sozialer Phobie, wenn weder kognitive Verhaltenstherapie noch psychodynamische Behandlung wirksam oder verfügbar sind. Zentrales Konzept der systemischen Therapie ist es, Probleme nicht als Störung eines einzelnen Menschen zu begreifen, sondern als Folge einer Störung im sozialen Umfeld des Individuums – also des Systems. Auch die Möglichkeit, sich bei einer sozialen Phobie auf virtuelle Weise, in einer virtuellen Realität, seinen Ängsten zu stellen, wurde jetzt als Ergänzung zur Standardtherapie empfohlen.

Über die Neufassung der Leitlinie zu Angststörungen informieren Professor Dr. med. Dipl.-Psych. Manfred Beutel und Professor Dr. med. Borwin Bandelow auf einer Pressekonferenz, die am 16. Juni 2021 von 14.45 bis 15.45 Uhr stattfindet.

 

 


Quelle: Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 11.06.2021 (tB).

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