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Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) und Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD)

Bekämpfung der COVID-19-Epidemie in Deutschland
Notwendige Rollenverteilung zwischen ambulantem und stationärem Sektor sowie öffentlichem Gesundheitsdienst

Peter Walger1, Ute Teichert2, Martin Exner3


1. Aktueller Anlass

Berlin (9. März 2020) — Verdachtsfälle von SARS-CoV-2 Virus zu erkennen, Kontaktpersonen zu ermitteln, Quarantänemaßnahmen zu gewährleisten und das Management der ambulant zu versorgenden Infizierten zu organisieren, damit eine unverzügliche medizinische Versorgung bei klinischer Verschlechterung garantiert werden kann – das kennzeichnet die aktuellen Prioritäten des Pandemie-Managements für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) in Deutschland in Kooperation mit den ambulanten und stationären Versorgungsbereichen.


2. Überforderung des ÖGD am Beispiel der aktuellen COVID-19-Epidemie

BVÖGD und DGKH sehen in unzureichenden Schwerpunktsetzungen und oftmals unzureichender Kooperation der Hauptakteure des Krisenmanagements, den niedergelassenen Ärzten und ihren Kassenärztlichen Vereinigungen, den Gesundheitsämtern und den Krankenhäusern die Gefahr, dass die weitere Ausbreitung des neuen Coronavirus nicht effektiv genug verlangsamt wird. In Kenntnis der aktuellen Entwicklungen der SARS-CoV-2-Ausbreitung müssen die Kräfte des ÖGD auf das Wesentliche konzentriert werden.

Das beinhaltet Verdachtsfälle zu erkennen, Kontaktpersonen zu ermitteln und das Management der ambulant zu versorgenden Infizierten so zu organisieren, dass eine unverzügliche medizinische Versorgung bei klinischer Verschlechterung gewährleistet werden kann. Das erfolgt durch Symptommonitoring, Einbindung der niedergelassenen Ärzteschaft, der ambulanten medizinischen Dienste, der Rettungsdienste, der Polizei und der Zivilbevölkerung in Form von Nachbarschaftshilfe und anderer Formen privater Unterstützungen.

Die rasante Ausbreitung von Covid-19 in Südkorea, im Iran und in Italien zeigt aktuell, dass auch in Deutschland trotz aller Eindämmungsstrategien damit gerechnet werden muss, dass es zu einer weiteren exponentiellen Zunahme der Zahl der Infizierten kommen wird.

Der nordrheinwestfälische Hot-Spot Heinsberg zeigt, dass bereits nach wenigen Tagen die bislang empfohlenen Maßnahmen der Kontaktnachverfolgung nicht ausgereicht haben, um eine weitere Ausbreitung von SARS-CoV-2 in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus zu verhindern.

Das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) weist aus diesem Grund daraufhin (https://www.ecdc.europa.eu/en/publications-data/resource-estimation-contact-tracing-quarantine-and-monitoring-activities-covid-19), wie sich die Bedeutung der Kontaktpersonennachverfolgung im Verlauf einer zunehmenden Ausbreitung der Infektionen wandelt:

„As cases increase it will become increasingly challenging to trace all contacts of cases. Contract tracing alone is unlikely to control the outbreak and additional measures will be necessary (consult ECDC guideline on non-pharmaceutical measures). The point at which extensive contact tracing becomes unsustainable due to limited resources will vary between different countries in the EU/EEA. It must be emphasized, however, that there is still value in tracing contacts even if not all contacts of each case are traced. This will help slow the spread of infection and if, on average, less than one new case arises from each case, the outbreak can be contained. In such a scenario, contact tracing and follow-up can be prioritized first to the highest-risk exposure contacts of each case, which are usually the easiest to find, including HCWs or staff working with vulnerable populations, followed by as many as possible of the low-risk exposure contacts.”

DGKH und BVÖGD sehen mit großer Sorge, dass die aktuellen personellen und strukturellen Ressourcen bereits in der Frühphase der Epidemie in unserem Land erkennbar an ihre Grenzen gestoßen sind. Die stereotype Wiederholung, dass wir in Deutschland bestens vorbereitet sind und dass wir eines der besten Gesundheitswesen der Welt hätten, wird durch die aktuellen Entwicklungen außerhalb der Krankenhäuser in Frage gestellt.

Deutschland hat in Europa und im OECD-Vergleich mit die höchste Anzahl an hospitalisierten Patienten und mit die ungünstigste Relation von Pflegepersonal/Patienten, wodurch eine erhebliche Belastung des medizinischen Personals resultiert (https://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/health-at-a-glance-2019_4dd50c09-en).

Der BVÖGD weist seit Jahren darauf hin, dass der ÖGD in Krisensituationen an die Grenzen seiner Belastbarkeit stößt. Aus den Erfahrungen mit SARS, Ebola, EHEC sowie der Vogel- und Schweinegrippe sind keine Lehren hinsichtlich der praktischen Fragen von Ressourcen für den ÖGD gezogen worden. Seine personelle Situation hat sich stattdessen weiter verschärft. Die aktuelle Lage bereits zu Beginn der massiven Herausforderungen durch Covid-19 ist durch einen eklatanten Personalmangel in den Gesundheitsämtern gekennzeichnet. Die Aufgabenzuschreibung der Kontaktpersonennachverfolgung und des Quarantäne-Managements von Infizierten und Verdachtsfällen ist mit qualifiziertem Personal kaum bewältigbar.

Die DGKH hat in ihren aktuellen Stellungnahmen die Sorge geäußert, dass auch im stationären Bereich die Prioritäten neu bestimmt werden müssen. Die Situation der Krankenhäuser im Falle eines erheblichen Anfalles von Schwerkranken wird man gleichfalls neu bewertet werden müssen. Entscheidend wird sein, mit welcher Geschwindigkeit sich die Epidemie ausbreitet und absehbar auch zu einer steigenden Zahl Schwerkranker führen wird.

Nur Patienten mit klinisch schwerer Verlaufsform sollten in stationäre Behandlung aufgenommen werden. Das stationäre Versorgungssystem darf nicht mit dem Quarantänemanagement symptomloser oder symptomarmer Covid-19-Patienten überfordert und auch nicht durch Abklärungsaufgaben im Aufnahmebereich fehlbelastet werden.

Die DGKH hat dabei auch das Risiko einer nosokomialen Übertragung auf weitere Patienten in stationärer Behandlung und auf das medizinische Personal im Blick, wenn sich Aufgaben im Krankenhaus konzentrieren, die ambulant gelöst werden können. Das gilt auch, wenn Medizinische Dienste, Polizei und Rettungsdienste für Aufgaben in Anspruch genommen werden, die absehbar nicht dazu beitragen, die weitere Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen. Das massenhafte Screening von Personengruppen, die erkennbar nicht zu den hauptbetroffenen Gruppen potentiell Schwerkranker gehören, gehört ebenso zu den unnötigen Aktivitäten wie das Fieberscreening an Flughäfen oder bei Grenzkontrollen, die erhebliche Ressourcen binden, ohne dass der Wert für die Abschwächung (Mitigation) eines Ausbruchgeschehens belegt ist.

Je rasanter sich Covid-19 ausbreitet, je mehr muss sich die Kontaktpersonennachverfolgung auf prioritäre besonders zu schützende Kontaktgruppen konzentrieren. Je mehr Infizierte krank werden, je mehr müssen sich die zur Verfügung stehenden Ressourcen auf das frühe Erkennen und die medizinische Versorgung der schwer Erkrankten konzentrieren.


3. Forderungen von BVÖGD und DGKH

  • DGKH und BVÖGD erwarten von den politisch Verantwortlichen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, dass eine entsprechende Prioritätensetzung jetzt erfolgen muss. Während Patienten mit milden Verlaufsformen von Covid-19 in ambulanter häuslicher Quarantäne von niedergelassenen Ärzten gemeinsam mit den Gesundheitsämtern versorgt werden können, müssen sich die Krankenhäuser auf die medizinische und intensivmedizinische Versorgung der Schwerkranken konzentrieren. Krankenhauspersonal, Hausärzte und der ÖGD müssen daher in besonderer Weise u.a. mit ausreichender Schutzausrüstung versorgt werden.
    In der jetzigen Situation muss Kooperation und nicht Schuldzuweisung höchste Priorität haben.
  • DGKH und BVÖGD erwarten eine transparente Information der Bevölkerung, dass wir nach Bewertung aller seriösen Daten gemäß Einschätzung der WHO am Beginn einer Pandemie durch das neue Virus SARS-CoV-2 stehen. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus weltweit und mittlerweile auch in Europa und Deutschland ausbreitet, entscheidet darüber, welche Herausforderungen in den nächsten Wochen und Monaten bewältigt werden müssen. Es wird voraussichtlich ein Zeitpunkt kommen, an dem uns die Entwicklung zwingt, uns nur noch mit dem Wesentlichen zu befassen, das ist die medizinische Versorgung der Schwerkranken und das Symptom-Monitoring von Patienten der Risikogruppen.
  • Schwerpunkte der nächsten Tage muss die flächendeckende Einrichtung und Inbetriebnahme von stationären oder mobilen Diagnostikeinheiten (Abstrichzentren) in Städten und in ländlichen Flächenbezirken außerhalb der Krankenhäuser sein. Diese unterliegen der organisatorischen Planung sowohl durch die Kassenärztlichen Vereinigungen als auch die Gesundheitsbehörden auf Landes- oder kommunaler Ebene. Dies sollte in enger Abstimmung gemeinsam erfolgen. Hierdurch werden die Arztpraxen entlastet, die Krankenhäuser können sich auf ihre eigentliche Aufgabe, die Versorgung schwerkranker Personen, konzentrieren. Dadurch werden auch die Übertragungsrisiken für das medizinische Personal deutlich reduziert.
  • Die Abstrichdiagnostik sollte, wenn möglich, durch die zu untersuchenden Personen selbst erfolgen, um das Risiko der Tröpfchenexposition eines medizinischen Untersuchers zu vermeiden. Anamneseerhebung und Indikationsstellung erfolgen in gegenseitiger Absprache von niedergelassenen Ärzten oder Ärzten im ÖGD. Zusätzlich könnten im Ruhestand befindliche Ärzte oder „Reservisten“ zur Unterstützung gewonnen werden.
  • Die Herausforderungen des ambulanten Managements verlangen eine Prioritätensetzung, die die personellen und strukturellen Defizite unseres öffentlichen Gesundheitsdienstes berücksichtigt und viel stärker als bisher die niedergelassene Ärzteschaft, die ambulanten medizinischen Dienste, die Ordnungs- und Rettungsdienste sowie die Zivilbevölkerung einbezieht.
  • DGKH und BVÖGD begrüßen die zielgerichtete Kooperation zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und den staatlichen Gesundheitsbehörden mit ihren kommunalen Gesundheitsämtern bei der Bewältigung des ambulanten Epidemie-Managements, wie sie beispielhaft in Hessen und in Westfalen-Lippe vereinbart wurden und aktuell umgesetzt werden.
  • Spätestens nach einem Ende der Pandemie müssen endlich die notwendigen Lehren aus der unzureichenden Personalausstattung des ÖGD gezogen werden, um den Gesundheitsschutz der Bevölkerung nachhaltig zu sichern.


Anmerkungen

1 Verantwortlicher für Öffentlichkeitsarbeit der DGKH;
2 Vorsitzende des BVÖGD, Berlin;
3 Präsident der DGKH, Bonn

 

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Quelle: Stellungnahme – Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) und Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), 09.03.2020 (tB).

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