BVMed initiiert "Wunddialog"

Wundexperten fordern ein Deutsches Wundregister, um Datenlage und Versorgungsstrukturen zu verbessern

 

Berlin (2. Dezember 2015) – "Chronische Wunden gehören in spezialisierte Hände!" Dazu gehören interdisziplinäre Wundzentren oder Wundnetze. Das war eine der Kernbotschaften des ersten "Wunddialogs", den der Bundesverband Medizintechnologie, BVMed, gemeinsam mit Versorgungsnetzwerken, Krankenkassen, Ärztevertretern und den Herstellern von Wundversorgungsprodukten am 1. Dezember 2015 in Berlin durchführte. Die präsentierten Fallbeispiele zeigten, dass gut ausgebildete Experten und vernetzte Strukturen teilweise schon regional vorhanden sind. Man müsse aber die problematischen Wundpatienten besser in diese Versorgungsstrukturen bekommen. Ein Hebel dabei seien geänderte Vergütungsstrukturen, um falsche Anreize im System zu beseitigen.

 

Ein Lösungsansatz könnte die Einführung eines "Deutschen Wundregisters" sein, um die Datenlage zu verbessern und besser definieren zu können, welche Patienten chronische Wunden haben und durch ein Fallmanagement besser unterstützt werden müssen. Eine Chance für verbesserte Versorgungsstrukturen sahen die Experten auch in dem neuen Innovationsfonds. Er müsste genutzt werden, um interdisziplinäre Versorgungsmodelle in der Wundversorgung zu fördern. Die Präsentationen beispielhafter Versorgungsnetzwerke und Versorgungsmodelle von Krankenkassen zeigten als Erfolgsfaktor auch eine "phasengerechte Wundversorgung in interdisziplinären Strukturen". Zum Thema Wundversorgung hat der BVMed unter www.info-wundversorgung.de ein Informationsportal eingerichtet.

In Deutschland leben geschätzt rund 1,5 Millionen Menschen, die unter einer chronischen Wunde leiden. Experten gehen davon aus, dass ihre Zahl entsprechend dem demografischen Wandel und dem Anstieg an Zivilisationskrankheiten wie Diabetes mellitus zukünftig stark zunehmen wird. Schon jetzt zeigt sich nach Ansicht des BVMed allerdings, dass die vorhandenen Versorgungsstrukturen weder dem aktuellen Stand medizinischer Forschung entsprechen, noch eine kostendeckende Behandlung zulassen. Die Hersteller moderner Wundversorgungsprodukte im BVMed stellen deshalb im Rahmen des Wunddialogs zur modernen und phasengerechten Versorgung chronischer Wunden unterschiedliche beispielhafte Ansätze interdisziplinärer Versorgungsstrukturen zur Diskussion und möchten so den Erfahrungsaustausch aller Beteiligten im Gesundheitssystem initiieren.

André Lantin stellte das Versorgungsmodell der Gesellschaft für Versorgungskonzepte in der Wundbehandlung (gvw) vor. Sie betreibt insgesamt 10 Wundzentren in Deutschland. In den Zentren sind seit dem Jahr 2008 über 10.000 Patienten behandelt worden. Eine hohe Versorgungsqualität wird durch leitliniengerechte Behandlungskonzepte und zertifizierte Prozesse durch spezialisierte Fachärzte sichergestellt, die interdisziplinär mit spezialisierten und erfahrenen Pflegekräften zusammenarbeiten. Zu den Erfolgsfaktoren gehören nach Lantin eine zeitintensive Betreuung der Patienten nach strukturierten Verfahren sowie Schulungen und Weiterbildungsmaßnahmen. Die Erfolgsquote der Zentren sei sehr hoch. Mehr als 80 Prozent der chronischen Wunden können in weniger als sechs Monaten geschlossen werden. Das Problem: Wundversorgung ist zeitaufwändig und kostspielig. Die Vergütung steht damit nicht im Verhältnis zum Aufwand.

Dr. Claas Ulrich von der Hautklinik der Charité stellte das Interdisziplinäre Wundzentrum am Campus Mitte in Berlin vor. Er plädierte dafür, die Erfahrungen aus der Onkologie zu übertragen. "Die Wundversorgung muss einen ähnlichen Weg wie die Krebsbehandlung gehen: über spezialisierte Zentren, die bis in die einzelnen Regionen heruntergebrochen werden." Zur Organisationsstruktur des "Comprehensive Wound Centre Charité" gehören ein interdisziplinäres Leitungsboard mit Ärzten, Pflegern, Sozialdienst oder Ernährungsmedizin, sowie Wundambulanzen und Wundexperten. Problematische Fälle werden in einer Wundkonferenz besprochen. Begleitet wird das Konzept durch Forschung und Lehre mit Studien und Patienten-Schulungen. Am Behandlungsplan sind mehrere ärztliche Disziplinen beteiligt, um durch individualisierte Behandlungskonzepte die Versorgungsqualität zu verbessern, erläutert Ulrich. Sein Appell: "Um das Konzept auf die Straße zu bekommen, brauchen wir eine nationale Initiative, die Politik, Krankenkassen, Medizin, Pflege und Industrie an einen Tisch bekommt, um nationale Strukturen zu schaffen." Er forderte die Etablierung leistungsfähiger und unabhängiger Wundzentren, die bessere Verknüpfung ambulanter und stationärer Wundversorgung durch qualitätskontrollierte Netzwerke sowie die "Incentivierung einer Wundheilung, nicht der Therapie".

Prof. Dr. Knut Kröger von der Klinik für Angiologie des Helios Klinikums Krefeld stellte das interdisziplinäre Gefäßzentrum an der Klinik vor. Erfolgsfaktoren seien die Stärkung der phasengerechten Wundversorgung, ein ganzheitlicher Therapieansatz, eine Gesamtkostenberechnung, Qualifikationsverbesserungen bei Ärzten und Pflegern oder eine leistungsorientierte Vergütung. Die Ansätze der spezialisierten Wundzentren müssten aber auch besser in die Fläche gebracht werden. Kröger sieht das Problem, dass zu wenig zuverlässige Daten vorliegen. Abhilfe könnte ein "Deutsches Wundregister" schaffen. "Wir brauchen klare Zahlen zu Inzidenz und Prävalenz von Wunden – getrennt für Diabetischer Fuß, Ulcus cruris und Dekubitus", so Kröger. Außerdem müsse das Wissen der Ärzte zur Wundversorgung verbessert werden. Er schlug zudem ein Zweitmeinungsverfahren in einem mit dem ICW-Wundsiegel zertifizierten Wundzentrum bei Patienten vor, deren Wunden nach drei Monaten nicht abgeheilt sind.

Uwe Imkamp von der Managementgesellschaft mamedicon unterstützt Wundzentrumsstrukturen und integrierte Versorgungsverträge. Wundzentren machen aus seiner Sicht in Ballungsgebieten Sinn. In der Fläche brauche man mobile Lösungen in Netzwerken. Er sprach sich für Modellfinanzierungen über ein kalkuliertes Modell zur selektivvertraglichen Umsetzung aus. Entscheidend sei, dass die Leistung des Case-Managements eigenständig, also unabhängig von der Produkterstattung, finanziert werde. "Die Netzwerke sollten für ihren Mehraufwand wie Dokumentation und Koordination eine Vergütung erhalten", so Imkamp. Hürden sieht er unter anderem in der schlechten Datenlage bei den Krankenkassen sowie in der mangelnden Bereitschaft der Kostenträger zur selektivvertraglichen Zusammenarbeit.

Die niedergelassene Chirurgin Barbara Temme schilderte ihre Erfahrungen mit einer eigenen Wundpraxis in Berlin. Sie findet sich dabei nicht in Versorgungsmodellen wieder. Temme spricht stattdessen von einem "lebendigen Netzwerk in der Regelversorgung". Dazu gehören Hausärzte, Diabetologen, Dermatologen, Pflegedienste, Gefäßchirurgen, Therapeuten, Homecare-Unternehmen, Hersteller, Apotheken und Krankenkassen. "Diese Netzstrukturen kann man nicht erzwingen, sondern man muss sie sich erarbeiten", so Temme. Sie legt bei den Pflegediensten beispielsweise großen Wert darauf, dass sie mit ICW-zertifizierten Wundexperten arbeiten. Das größte Problem sieht sie in der pauschalen Vergütung der niedergelassenen Ärzte: "Die Berechnungskriterien des EBM werden der schwerpunktmäßigen Behandlung chronischer Wunden nicht gerecht", so Temme. Sie forderte, die richtigen Vergütungsanreize zu setzen, lokale individuelle Vernetzungsstrukturen im System zu akzeptieren sowie mit Akteuren zu arbeiten, "die sich weiterbilden und in deren Fokus die Abheilung der Wunde steht". Zu den Erfolgsfaktoren gehöre auch der phasengerechte Einsatz moderner Wundauflagen. Sie forderte, dass die Praxisbesonderheit im Rahmen der Versorgung von chronischen Wunden neu definiert werden müsse, um die Versorgungsstrukturen zu verbessern.

Dr. Jens Olaf Jonescheit, Oberarzt an der chirurgischen Klinik des Universitätsklinikums Mannheim, stellte das "Wundnetz Kurpfalz" vor. Am Anfang stand eine eigene Wundambulanz an der Klinik. Die Säulen des aufgebauten Wundnetzwerkes seien neben der stationären und ambulanten Versorgung auch die Hersteller von Wundversorgungsprodukten. Im Mittelpunkt müsse die Patientenbehandlung stehen: durch Case-Management, Information, Prävention und Aufklärung. Ziel des Wundzentrums Kurpfalz sei die Etablierung von Standards gemeinsam mit dem Wundzentrum Hamburg als Kooperationspartner. Wichtig seien regelmäßige Fortbildungen und eine stärkere Versorgungsforschung, um bessere Daten zu bekommen. Mängel sieht auch Jonescheit in erster Linie bei der Vergütung, "die in der Regel nicht dem Aufwand entspricht". Er bemängelte auch eine fehlende Vergütung bei der Kontrolle der Wunde. Zudem gebe es Probleme bei der Verordnung von initial teureren Wundversorgungsprodukten.

Gabriela Kostka vom Gesundheits- und Versorgungsmanagement der DAK-Gesundheit stellte ein neues Versorgungskonzept vor. Die Ist-Analyse der Krankenkasse habe gezeigt, dass die Versorgungsrealität "ein hohes Maß an ineffizienter Versorgung chronischer Wunden" aufweist. Ein Beispiel: Verbände wurden bei nicht akut infizierten chronischen Wunden siebenmal wöchentlich gewechselt. Das Problem für die gesetzliche Krankenkasse sei, dass sie nicht am Versorgungsprozess beteiligt ist, so Kostka. Das Versorgungsmodell sehe daher die Fachberatung der Patienten mit chronischen Wunden als Service der DAK vor, "um den Versorgungsprozess zu optimieren." Dabei arbeitet die DAK in Kooperation mit dem BVMed und seinen Herstellern mit externen Wundfachberatern, die sich in Netzwerkstrukturen und Wundzentren auskennen und den Versicherten als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Kostkas Appell: "Wir müssen die Patienten, deren Wunden nicht abheilen, aus der Versorgungsschleife der Hausärzte herausbringen." Ziel des DAK-Modells sei die Erhöhung der Behandlungsqualität "durch Hinzuziehung von Expertenwissen und telemedizinischen Verfahren".

In der Diskussion wies Dr. Dominica Schroth von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe auf die Fortbildungen und den Aufbau guter Versorgungsnetzwerke hin, die die KV regional fördert. Dr. Thomas Wild vom Wundzentrum Dessau unterstützte dies mit dem Hinweis auf die Fortbildungen zur Arztassistenz, die von der KV Westfalen-Lippe als Modell entwickelt würden. Arztassistenzen entlasten Mediziner und stärken die Versorgung. Er machte auch deutlich, dass die Dokumentation chronischer Wunden ein großes Problem sei, dass mit einem Wundregister als Lösungsansatz verbessert werden kann. Dr. Schroth sieht zudem eine Möglichkeit in der Verbesserung der Versorgungssituation in einer Integration der Patienten mit chronischen Wunden in die Facharztversorgung. Die Schaffung von Wundärzten als Facharzt mit entsprechender Förderung und Finanzierung sah auch Dr. Jonescheit als einen Ansatz zur Verbesserung der Versorgungssituation von Menschen mit chronischen Wunden.


Zum Hintergrund

Obwohl die Probleme der behandelnden Ärzte und Institutionen seit Jahren bekannt sind, wird die einzelne Wundbehandlung mit einem Kostenfaktor abgerechnet, der einer Behandlungsdauer von maximal 10 Minuten entspricht. Die Realität aber sieht anders aus: Eine professionelle, phasengerechte Wundbehandlung dauert einschließlich fachgerechter Reinigung zwischen 30 und 40 Minuten. Sie ist für die Versorger somit defizitär, sofern sie keine Sondervergütungen mit den Kostenträgern ausgehandelt haben. Dies ist wiederum meist nur im Rahmen größerer, regionaler Netzwerke möglich. Viele Praxen ziehen sich daher aus der Wundbehandlung zurück, was dazu führt, dass Patienten mit chronischen Wunden allein gelassen werden. Menschen, die teils über Jahre hinweg beispielsweise an offenen Beinen leiden, können dann nicht mehr adäquat behandelt werden. Neben dem menschlichen Leid und der psychischen Belastung ist diese Situation auch ökonomisch kontraproduktiv, da erhebliche Folgekosten, beispielsweise durch vermeidbare Amputationen beim Diabetischen Fußsyndrom, entstehen.

"Versorgungsengpässe werden das Szenario der Zukunft sein, wenn es nicht gelingt, die Komplexität moderner Wundbehandlung sowie die dafür nötige Expertise durch eine entsprechende Vergütung abzubilden", so die BVMed-Wundversorgungsexpertin Daniela Piossek. Deshalb sei es dringend nötig, mit allen Beteiligten, also Ärzten, Kliniken, Versorgungsnetzwerken und Kostenträgern, einen laufenden Austausch zu initiieren. Ziel müsse es sein, sowohl bei Kassen als auch bei kassenärztlichen Vereinigungen und anderen Stakeholdern das Wissen über die Evidenz und Effizienz moderner Wundversorgung und ihrer phasengerechten Anwendung weiter zu verbessern.

Moderiert wurde der BVMed-Wunddialog von dem Berater Hendrik Briesemeister.

 

 


Quelle: BVMed – Bundesverband Medizintechnologie e.V., 02.12.2015 (tB).

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