Deutsche Transplantationsgesellschaft (DTG)

Wie kann eine sinnvolle Verteilung der Spenderorgane erfolgen?

Bonn (26. Oktober 2017) – „Wir brauchen eine Organallokation, die vor dem Hintergrund des eklatanten Mangels an Spenderorganen als gerecht empfunden wird und medizinisch vertretbar ist“, erklärt Prof. Dr. Christian Strassburg, Präsident der 26. Jahrestagung der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) in Bonn und President-Elect der Fachgesellschaft. Notwendig sei dabei auch eine stärkere Beachtung der Erfolgsaussicht einer Transplantation, der Entwicklung ihrer transparenten Bewertung, was auch die Faktoren Alter und Gebrechlichkeit („frailty“) von Kandidaten umfasst.

Die Zahl der für eine Transplantation zur Verfügung stehenden Organe ist in Deutschland auf einem historischen Tiefstand; trotz langjähriger Bemühungen zeichnet sich bisher keine Trendwende ab. Die Transplantationsmedizin steht nun vor dem Dilemma, die wenigen zur Verfügung stehenden Organe nach den Vorgaben des Transplantationsgesetzes (d.h. insbesondere nach Dringlichkeit und Erfolgsaussicht) möglichst gerecht zu verteilen – doch was ist gerecht?

Die Entwicklung des Allokationssystems für die Lebertransplantation legt aktuell – bis auf wenige Ausnahmen – ausschließlich die Dringlichkeit einer Transplantation zugrunde, die mit dem „model of end stage liver disease“ (MELD) über die kurzfristige Wahrscheinlich, an der Lebererkrankung zu versterben, berechnet wird. Bei der Niere kommt der Faktor Wartezeit hinzu und – anders als bei der Leber – werden u. a. Gewebemerkmale und Antikörper bewertet, die am Erfolg der Transplantation beteiligt sind. „Das System der Lebertransplantation kommt in Zeiten extremer Organknappheit damit trotz zuletzt effektiver Maßnahmen, die Regeln zu revidieren und an den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft anzupassen, an seine Grenzen“, sagt Prof. Dr. Christian Strassburg, President-Elect der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG). „Wir müssen angesichts der extrem knappen Ressource Spenderorgan und der damit verbundenen Zunahme des Schweregrades der Erkrankungen von Patienten auf der Leberwarteliste, die die Ergebnisse der Organtransplantation negativ beeinflussen, über eine Verteilung diskutieren, die über das Ziel der Dringlichkeit hinausgeht.“ Als Beispiel nennt er die Transplantation beim hepatozellulären Karzinom (HCC), einer bösartigen Lebererkrankung, die einzig durch eine Lebertransplantation in vielen Fällen geheilt werden kann und gute Überlebenswahrscheinlichkeiten hat. „Das HCC ist ein Beispiel, in dem basierend auf wissenschaftlicher Evidenz bei der Indikationsstellung zur Lebertransplantation die Erfolgswahrscheinlichkeit des Eingriffs zugrunde gelegt wird, was sich fundamental von anderen Indikationsgruppen unterscheidet. Dabei ist anzumerken, dass diese Herangehensweise auch dazu führt, dass in vielen Fällen basierend auf der Erfolgs- und Überlebenswahrscheinlichkeit Patienten nicht für eine bevorzugte Lebertransplantation vorgesehen werden.“ Die Frage ist, wieviel es wert ist, dass ein Transplantat möglichst lange dem Empfänger zur Verfügung steht und seine Lebensqualität und sein Überleben positiv beeinflusst? Dies muss auch über einzelne Indikationen für die Lebertransplantation wie das HCC hinaus diskutiert werden. Wenig beachtet, geschweige denn umgesetzt, sind beispielsweise Faktoren wie die Gebrechlichkeit – „frailty“. Diese in der Altersmedizin entwickelten Konzepte beschreiben die Anfälligkeit eines Transplantationskandidaten für Eingriffe wie eine Organtransplantation. Hierbei spielen Muskelmasse und Ernährung auch eine große Rolle. Die Bewertung von „frailty“ kann schon bei jungen Patienten dazu führen, dass ein Transplantationserfolg eher unwahrscheinlich ist, umgekehrt können ältere Patienten danach gute Transplantationskandidaten sein. Die Frage ist einfach, ob der kränkste Patient immer der beste Kandidat für die Organtransplantation ist und ob wir es als gerecht empfinden, wenn wir diese Aspekte bei unseren Entscheidungen zugrunde legen. Der Spendermangel spitzt die Frage zu, ob die empfundene Gerechtigkeit in der Organtransplantation allein die Zuteilung einer Chance sein soll, oder ob wir uns mehr Gedanken über die Schaffung einer längerfristigen Perspektive für den Organempfänger machen müssen. Wir transplantieren oft Organe, die problemlos 10-20 Jahre arbeiten könnten, von denen wir aber wissen, dass sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in bestimmten Patienten vielleicht keine 5 Jahre überleben. Das ist ein Problem, das wir auf diesem Kongress diskutieren müssen.“

Die DTG möchte dazu eine Diskussion anstoßen, die über die rein medizinische Betrachtung basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Evidenz hinausgeht. „Natürlich geht es uns immer um Menschenleben, denen wir als Ärzte allem voran verpflichtet sind, und wir müssen ethische Gesichtspunkte einbeziehen. Dennoch müssen wir unsere Entscheidungssysteme kritisch reflektieren, die zu Zeiten entstanden sind, in denen es keinen Organmangel im heutigen, dramatischen Ausmaß gab. Und das ist die große Herausforderung, vor der wir zum jetzigen Zeitpunkt stehen“, erklärt Prof. Strassburg.

Allokationsgerechtigkeit kann andererseits aber auch nur dann funktionieren, wenn es nicht nur klare Regeln und verbindliche Normen gibt, sondern auch in allen Zentren eine vergleichbare Behandlungsqualität erreicht wird. „Ein Patient muss sich sicher sein dürfen, dass er in jedem Teil unseres Landes die gleichen Chancen auf eine Organtransplantation bekommt und auch durch gut ausgebildete Mediziner betreut und behandelt wird.“ Dafür ist die regelmäßige Anpassung von Allokationsregeln an den Stand der medizinischen Wissenschaft ebenso notwendig wie die verbindliche Einhaltung dieser Normen in allen Transplantationszentren. Kritisch bewertet Prof. Strassburg in diesem Zusammenhang die zum 1.1.2017 in Kraft getretene Mindestmengenregelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Nieren- und Lebertransplantation, nach der Transplantationszentren jährlich mindestens 20 Leber- bzw. 25 Nierentransplantationen durchführen müssen. Die Festlegung auf diese Zahlen sei durch keine ausreichende Evidenz gesichert – im Gegenteil. „Wer in die Berichte der Prüfungs- und Überwachungskommission der Bundesärztekammer (BÄK) schaut, wird feststellen, dass gerade kleinere Zentren gute Qualität und wenig Richtlinienverstöße aufwiesen. Auch ist die Frage zu stellen, warum es Mindestmengen nur für die Nieren- und die Lebertransplantation gibt, aber nicht für andere Organtransplantationen? Hierdurch wird eine problematische Fokussierung auf Zahlen propagiert („Masse statt Klasse“). Letztlich seien sogar potentielle Fehlanreize zu befürchten, die auch schon beim Transplantationsskandal 2012 in der Diskussion waren. Dieser Druck wird ohne Not erzeugt. Die kleineren Zentren arbeiten gut, das wissen wir aus den Qualitätsberichten. Des weiteren wird ein falscher Anreiz gesetzt." Strassburg befürchtet, dass insbesondere diejenigen Zentren, die die Richtlinien strikt befolgen und ggf. auch von risikovollen Transplantationen absehen würden, durch diese Regelungen sogar noch bestraft würden, indem sie ohne Not geschlossen werden.

Eine weitere gravierende Folge einer Schließung von Zentren sei, dass sich auch die Zahl der Ausbildungsstätten (und Karriereperspektiven) für Transplantationsmediziner stark reduzieren würde – was langfristig die Qualität der flächendeckenden Versorgung von transplantierten Patienten gefährden wird. „Würde die Zahl der Transplantationszentren deutlich verkleinert, fallen Karrieremöglichkeiten für Transplantationsmediziner weg, die über viele Jahre und hochspezialisiert ausgebildet werden müssen. Ohne die Aussicht auf einen attraktiven Job werden sich aussichtsreiche Kandidaten für andere Berufsfelder entscheiden und die Expertise schwindet“ prognostiziert Prof. Strassburg. „Im Übrigen ist Deutschland im internationalen Vergleich im Mittelfeld der Zahl an Transplantationszentren pro Bevölkerung und keineswegs durch eine besonders hohe Zahl gekennzeichnet.“

„Die Medizinpolitik erklärt einerseits Organspende zur Chefsache, unternimmt andererseits aktuell aber auch Schritte, die die Transplantationsmedizin langfristig aushöhlen kann. Die Mindestmengenregelung wurde leider ohne eine öffentliche und ohne eine wissenschaftliche Diskussion erneuert, obwohl sie die Transplantationslandschaft in Deutschland erheblich verändern wird. Das trägt in unseren Augen nicht dazu bei, die Hoffnung der Bevölkerung auf ein besseres Transplantationssystem zu stärken“, erklärte Prof. Strassburg.

Weitere Informationen


Quelle: Deutsche Transplantationsgesellschaft e.V. , 26.10.2017 (tB).

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