Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2017

Cannabinoide in der Medizin – Patienten profitieren von der neuen Gesetzgebung

Frankfurt am Main (24. März 2017) – Ein neues Gesetz, das der Deutsche Bundestag im Januar verabschiedet hat, erlaubt Ärzten seit 10. März 2017, Cannabinoid-haltige Arzneien zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherungen zu verschreiben. Von dieser neuen Regelung sollen schwerkranke Menschen profitieren, insbesondere auch Schmerzpatienten. „Wir begrüßen das neuen Gesetz sehr“, erklärt DGS-Vizepräsident Dr. Johannes Horlemann bei einer Pressekonferenz im Rahmen des Deutschen Schmerz- und Palliativtages.

Seit Anfang März 2017 können Ärzte schwerkranken Patienten vereinfacht Cannabis-basierte Arzneimittel verschreiben: eine Erstattung der Kosten durch die gesetzliche Krankenversicherung ist auf Antrag möglich und darf nur in begründeten Ausnahme­fällen abgelehnt werden. Damit können Patienten unter anderem zur Behandlung von Schmerzen, Spastiken, neurologischen Symptomen oder multiplen Beschwerden in der Palliativsituation Cannabinoide bzw. getrocknete Cannabisblüten und Cannabisextrakte in kontrollierter Qualität erhalten.

Wo Kritiker den Rausch auf Rezept befürchten, sieht Horlemann vor allem eine wichtige Erweiterung therapeutischer Optionen: „Bestimmte Cannabinoide helfen etwa bei Multipler Sklerose, lindern deutlich die Folgesymptome einer Chemotherapie bei Krebspatienten und stillen Schmerzen – bei chronischen Schmerzpatienten ebenso wie bei Menschen in der Lebensendphase.“ Wie Horlemann in seinem Vortrag „Cannabinoide auf Rezept – Umsetzung des neuen Cannabis-Gesetzes“ erläutert, versprechen grundsätzlich Rezeptur- oder Fertigarzneimittel die sicherste Anwendung. Allerdings können Letztere aufgrund der bestehenden engen Zulassungen in vielen Indikationen nur im Off-label-Use verordnet werden.

In der Schmerz- und Palliativmedizin wird künftig Dronabinol unter den Cannabis-Wirkstoffen besonders relevant sein, ist Prof. Dr. Sven Gottschling, Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Universitätsklinikums Homburg/Saar, überzeugt. Dronabinol ist der internationale Freiname für den Wirkstoff Delta-9-THC, den Hauptinhaltsstoff der Hanfpflanze Cannabis sativa. Es ist in Deutschland bereits seit 1998 verordnungsfähig als BtM-Rezeptursubstanz, die Apotheker zu Tropfen oder Kapseln verarbeiten können. Allerdings haben sich bisher viele Ärzte gescheut, diese Therapieoption einzusetzen, da die Erstattung je nach Kasse und Indikation höchst unterschiedlich gehandhabt wurde.

Laut Gottschling “ermöglichen Rezepturen gegenüber Blütenzubereitungen eine standardisierte Gabe“. Darüber hinaus gehöre Dronabinol zu den Cannabinoiden mit der breitesten klinischen Datenlage in vielen Indikationen und besitze im Gegensatz zu den Blüten kein bekanntes Missbrauchspotenzial. Als Rezepturarzneimittel habe der Wirkstoff keine Beschränkung auf eine konkrete Indikation. Eine solche werde auch durch das neue Gesetz nicht auferlegt. Die Indikationsstellung bleibt im Ermessen und in der Verantwortung des Arztes.

In seinem Vortrag „Evidenz und praktischer Nutzen – Cannabis-Wirkstoffe unter der Lupe“ beschreibt Prof. Gottschling seine langjährigen Erfahrungen mit dem Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerz- und Palliativmedizin bei Kindern und Erwachsenen. Gerade in der Behandlung onkologisch bzw. neurologisch erkrankter Patienten sieht er ein großes Anwendungspotenzial. Gottschling, der Cannabinoide als Rezepturarzneimittel schon seit 15 Jahren einsetzt, sieht sie grundsätzlich als „sichere Medikamente mit einem sehr breiten Wirkspektrum und einer hohen therapeutischen Breite“. Zwar könnten vor allem in der Auftitrationsphase Nebenwirkungen auftreten, die aber oft im Therapieverlauf abklingen würden und nur selten zum Therapieabbruch zwängen. Hierzu gehöre auch eine – oft vorübergehende – Einschränkung der Verkehrstüchtig­keit zu Beginn einer Cannabinoidtherapie.

Wichtig sei die Vermeidung psychotroper Nebenwirkungen durch Wahl eines geeig­neten Cannabinoids bzw. einer geeigneten Applikationsform: „In therapieüblichen oralen Dronabinol-Dosierungen für Erwachsene zwischen 5 und 20 Milligramm Tages­dosis bzw. im Mittel zwischen 0,1 und 0,5 Milligramm THC pro Kilogramm Körper­gewicht und Tag für Kinder sind diese aber selten“, weiß Gottschling. Interaktionen sind möglich, etwa mit Trizyklika, Benzodiazepinen, Opioiden, Naltrexon, Atropin oder Scopolamin. „Dabei kann bei vielen Patienten durchaus therapeutisch genutzt werden, dass die analgetische Wirkung von Opioiden durch Cannabinoide verstärkt wird.“ Kritisch sieht er dagegen die Abgabe von Cannabisblüten, für die keine gut etablierten Dosierungen und Applikationsformen existieren. „Cannabisblüten, am besten noch zum Rauchen, muten ja eher anachronistisch an, wir kratzen heute ja glücklicherweise auch keine Salicylsäure aus der Weidenrinde, sondern nehmen Aspirin oder ASS in standardisierter Form zu uns“, so Gottschling in Frankfurt.

Die neue Gesetzeslage eröffnet für zahlreiche schwer kranke, bisher nicht zufriedenstellend therapierbare Patienten eine neue Behandlungsoption. Darin waren sich die Experten beim Deutschen Schmerz- und Palliativtag einig.


Quelle: Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V., 24.03.2017 (tB).

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