Deutscher Schmerztag 2008: Symposium „Aktuelle Herausforderungen der differenzierten Therapie starker Schmerzen“

Differentialtherapie bei Patienten mit Tumorschmerzen

 

Von Dr. med. Peter Ahrens, Chefarzt der Abteilung Anästhesie und Intensivmedizin der Aller‑Weser‑Klinik Verden

 

Frankfurt am Main (8. März 2008) – Eines der Hauptsymptome bei Tumorpatienten sind Schmerzen. Die Häufigkeit, mit der die Schmerzen auftreten, differiert allerdings individuell sehr stark.

 

So haben im Anfangsstadium lediglich 35 bis 45 % der Patienten Schmerzen, während in der Terminalphase der Anteil der Patienten mit Schmerzen bis auf 90 % steigt. Vor Einleitung einer Schmerztherapie muss der Therapeut verschiedene Voraussetzungen beachten, um dem Patienten möglichst schnell und sicher helfen zu können. Eine gründliche Schmerzanamnese ist unabdingbar für die Erzielung eines Therapieerfolges. Zusätzliche Diagnostik ist im Einzelfall hilfreich. Die Angehörigen sind möglichst einzubinden und die Aufklärung des Patienten über Wirkungen, Nebenwirkungen und möglicherweise auftretende Probleme sind obligat. Die Führung eines Schmerztagebuches wird empfohlen. Bei allen Bemühungen um eine Schmerzlinderung sollte versucht werden, im multimodalen Ansatz auch kausale Therapien zu integrieren. Begleitende Verfahren wie Strahlentherapie, Chemotherapie u.a. können bei der Reduktion von Tumorschmerzen erforderlich sein. Es bleibt aber zu bedenken, dass auch diese Maßnahmen Schmerzen verstärken bzw. hervorrufen können.

 

In der Klassifikation des Schmerzes ist der Nozizeptorschmerz mit seiner somatischen und viszeralen Komponente vom neuropathischen Schmerz abzugrenzen. Ein immer wieder unterschätzter Schmerzgrund ist in der psychosomatischen Disharmonie des schwerkranken Menschen mit Krebs zu finden.

 

Ursachen von Tumorschmerzen

Auch erfordern die vier verschiedenen Ursache von Tumorschmerzen eine unterschiedliche, individuelle Herangehensweise und ggf. die Kombination von analgetisch wirksamen Substanzen.

 

1. tumorbedingte Schmerzen (60 ‑ 90 %)

‑ Knochen‑/Weichteilinfiltration

‑ Kompression und Infiltration von Nerven‑, Blut‑ und Lymphgefäßen

‑ Tumornekrosen an Schleimhäuten mit Ulzeration und Perforation

 Ausbildung eines Hirnödems

 

2. therapiebedingte Schmerzen (10 ‑ 25 %)

‑ Operation (Nervenläsion, Vernarbung, Ödem, Muskelverspannung)

‑ Radiatio (Fibrose, Neuropathie, Strahlenosteomyelitis, Mukositis)

 Chemotherapie (Entzündung, Paravasat, Mukositis, Neuropathie)

 

3. tumorassoziierte Schmerzen (5 ‑ 20 %)

‑ Paraneoplastisches Syndrom

‑ Zosterneuralgie, Pilzinfektion

‑ Venenthrombose, Lymphödem

 Dekubitus

 

4. tumorunabhängige Schmerzen (3 ‑ 10 %)

‑ Migräne

‑ Kopfschmerzen

‑ unspezifische Rückenschmerzen

 Rheumatoidarthritis

 

Ein wesentlicher Faktor in der Schmerztherapie ist und bleibt die Kommunikation mit dem Patienten über seine Krankheit sowie auch das Gespräch mit den Angehörigen.

 

Die 5 Hauptsäulen der Schmerztherapie

Insgesamt stehen uns heute 5 Hauptsäulen der Schmerztherapie zur Verfügung:

‑ medikamentöse Therapie

‑ Physiotherapie

‑ lokale Schmerzblockaden

‑ Psychotherapie

 operative Behandlung

 

Dabei stellt die medikamentöse Therapie einen wesentlichen Schwerpunkt dar. Insgesamt werden hier 3 große Gruppen von Medikamenten unterschieden: Nichtopioide ‑ Opioide ‑ Co‑Analgetika.

 

Ihr differenzierter Einsatz ermöglicht eine erfolgreiche Behandlung des Tumorschmerzes. Bei der Betrachtung aller auf dem Markt befindlichen Opioide sind die Substanzen Morphin, Oxycodon, Hydromorphon, L‑Methadon, Fentanyl und Buprenorphin die heute gebräuchlichen Wirkstoffe.

 

Das Therapieziel aus klinischer Sicht ist es, eine effektive analgetische Wirkung bei guter Verträglichkeit mit wenig Interaktionen und gleichmäßiger Analgesie sicher zu stellen. Nach Möglichkeit sollte wenig oder kein Bedarf an Durchbruchschmerz-Medikation erforderlich sein. Auch ist die optimale Wirkdauer der Medikation und eine einfach durchzuführende Applikation zu bedenken.

 

Was ist bei der Auswahl des Opioids in der Tumorschmerztherapie zu beachten?

Auf den ersten Blick scheinen alle Medikamente am gleichen Rezeptor anzusetzen. Bei einer genauen pharmakologischen und klinischen Analyse stellen sich jedoch einige wesentliche Unterschiede heraus. Die Pharmakokinetik, die sich mit der Wirkung des Organismus auf das Arzneimittel beschäftigt, beschreibt die Frage der Resorption und die damit verbundene Bioverfügbarkeit der Medikamente. Hier schwankt die Bioverfügbarkeit vom Morphin (30 %) bis zum Levomethadon (80 %). Allerdings ist bei den transdermalen Systemen (Fentanyl‑ und Buprenorphinpflaster) die Resorption sehr häufig durch Hauttyp, wechselnde Hautdurchblutung (Fieber!) und Schwitzen gerade bei Tumorschmerz und Palliativpatienten gestört.

 

Bei der Verteilung eines Analgetikums im Organismus ist die Plasma‑Eiweißbindung (PEB), die den Anteil der an Plasmaproteinen gebundenen Medikamentenmenge in Prozent beschreibt, von Bedeutung. Gebundene Medikamente sind praktisch unwirksam und Medikamente mit einer hohen Plasma‑Eiweißbindung stehen häufig in einer Interaktion mit anderen Medikamenten. Hier ist Hydromorphon mit einer Plasma-Eiweißbindung von nur 8 bis 10 % führend, während beispielsweise Fentanyl eine Plasma‑Eiweißbindung von 80 bis 90 % aufweist.

 

Bei der Elimination muss man die unterschiedliche Metabolisierung und Ausscheidung über die unterschiedlichen Organe (Niere, Leber, Haut) berücksichtigen. Gerade bei Tumorschmerzpatienten kommt es sehr häufig im Rahmen der Grunderkrankung zu einer Einschränkung der Leber‑ und insbesondere der Nierenfunktion. Hier ist es besonders wichtig, dass bei einer eingeschränkten Elimination keine oder wenig wirksame Metaboliten entstehen, die bei einer Niereninsuffizienz kumulieren können. Das früher als „Goldstandard" gesehene Morphin hat hier deutliche Schwächen, denn bei einer Leber‑ und vor allem bei einer Niereninsuffizienz kommt es zu einer klinisch relevanten Kumulation des Morphinmetaboliten Morphin‑6‑Glucuronid, der nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Lebensdauer des Patienten massiv beeinträchtigen kann.

Hydromorphon und Buprenorphin sind bei einer Niereninsuffizienz Mittel der Wahl, während Oxycodon und Fentanyl an den Grad der Einschränkung angepasst werden müssen.

 

Aktuelle Strategie bei der Tumorschmerzbehandlung

Bei Tumorpatienten mit einem niedrigen Schmerzniveau (innerhalb der Gruppe starker und stärkster Schmerzen, die mit einem Stufe‑III‑Opioid behandelt werden), die ein WHO‑Stufe III‑Präparat erhalten sollen, kann mit der modernen Kombination des Oxycodons mit Naloxon (Targin®) begonnen werden. Auch eignen sich häufig tumorunabhängige Schmerzen wie Rückenschmerzen oder Schmerzen bei Osteoporose oder Osteoarthritis gut für die Behandlung mit dieser Substanz.

 

Der Vorteil des Naloxons im seit Oktober 2006 verfügbaren Targin® (in den Wirkstärken 10mg/5mg und 20mg/10mg verfügbar) ist die lokale Wirkung auf die Opiatrezeptoren im Darm. Dadurch ist der Einsatz von Laxantien meist nicht mehr erforderlich und die gastrointestinalen Nebenwirkungen sind insgesamt signifikant geringer. Der hohe FirstPasseffekt des Naloxons in der Leber verhindert eine Abschwächung des Opiats an den peripheren und zentralen p‑Rezeptoren. Bei einem Bedarf von > 40mg Targin© pro Tag kann Oxygesic® zusätzlich verabreicht werden. Allerdings wird dadurch der Vorteil von Targin® im Hochdosisbereich durch die Kombination mit dem Oxycodon abgeschwächt.

 

Seit 1.07.2007 steht auch eine intravenöse Form des Oxycodons (Oxygesic® injekt) zur Verfügung. Die Ampullen gibt es in einer 10mg/1 ml sowie in einer 20mg/2mlDosierung. Hier ist allerdings mehr der perioperative Schmerz ein Indikationsfeld. Als Bedarfsmedikationen steht seit 1.10.2007 das wirkstoffgleiche Oxygesic® Akut zur Verfügung

 

Das Mittel der Wahl bei Patienten mit progredienten Tumorschmerzen, ist das Hydromorphon (Palladon®). Die retardierte Kapsel ist in den Wirkstärken 4, 8, 16 und 24 mg verfügbar. Es ist kein Ceiling‑Effekt beschrieben. Zudem sind alle Applikationsformen vorhanden, die im Rahmen einer umfassenden Tumorschmerztherapie erforderlich sein können. Bei Patienten mit Tumorschmerzen kommt es häufig zu Schmerzspitzen, die eine rasche Rescue‑Medikation erfordert. Hier steht das nichtretardierte Palladon® in der 1,3mg und 2,6mg Dosis zur Verfügung. Die orale Form kann bei Unfähigkeit des Patienten zu schlucken durch die subkutane Gabe oder auch die intravenöse Gabe abgelöst werden (Palladon® injekt). Für Patienten mit einer PEG‑Sonde kann das Palladon° einfach verabreicht werden. In speziellen Fällen ist auch die peridurale und intrathekale Gabe (off label use) des Hydromorphons möglich. Es liegen für den parenteralen (intravenös, subkutan) Kombinationseinsatz mit Co-Analgetika (Buscopan®, Metoclopramid, Midazolam, Dexamethason, Haldol®, Ketamin-HCI) ausreichende Kompatibilitätsdaten vor. Bei der subkutanen Applikation des Palladon® injekt tritt der Wirkungseintritt nach 5‑10 Minuten auf (Morphin 15‑20 Min). Die seit April 2007 auf dem Markt befindlichen unterschiedlichen Stärken des Palladon® injekt (2mg/1 ml, 10m/1 mlg, 100mg/10ml) ermöglichen so den Einsatz dieser Substanz als Standardmedikament für den Tumorpatienten in jeder Schmerzsituation.

 

Die transdermalen Systeme sind zwar bei Schluckunfähigkeit eine mögliche Option, Nachteile sind aber die schon oben beschriebenen unterschiedlichen Resorptionsprobleme gerade bei Tumorschmerz‑ und Palliativpatienten. Auch sind die transdermalen Systeme außerordentlich träge und ermöglichen keine individuelle Behandlung bei unterschiedlichen Schmerzen in Ruhe und Bewegung.

 

Der Ceiling‑Effekt beim Buprenorphin läßt die Verwendung dieses Medikamentes bei stärksten Schmerzen selten zu. Während bei der Substitutionsbehandlung Drogensüchtiger der Ceiling‑Effekt der atemdepressiven Wirkung erwünscht ist, ist er bei der palliativen Situation ein entscheidender Nachteil, um die Atemnot des Patienten zu behandeln. Auch steht kein langwirkendes Retardpräparat zur Verfügung und die Kombination von Buprenorphin als Partialagonist mit einem reinen m‑Rezeptoragonisten ist abzulehnen.

 

Eine interessante Alternative bei stärksten neuropathischen Schmerzen ist das L-Methadon. Es wirkt sowohl auf den m‑ und Deltarezeptor als auch auf den NMDA-Rezeptor. Aufgrund seiner besonderen Kinetik ist es allerdings ein Reservemedikament und sollte nur in der Hand des Erfahrenen eingesetzt werden.

Die buccalen Fentanyllutscher oder Tabletten sind eine gute, aber teure Ergänzung.

 

Polymorphismen

Zukünftige Bedeutung werden die Erkenntnisse aus der Pharmakogenetik haben. Pharmakogenetik beschäftigt sich mit hereditären Ursachen, die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik eines Arzneimittels beeinflussen und zu individuell unterschiedlichen Reaktionen auf Arzneimitteln führen. Ein Beispiel ist der so genannte Polymorphismus. Hier gibt es eine genetische Veränderung an einer bestimmten Position der DNA‑Sequenz. Diese Veränderung kann eine reduzierte, aufgehobene, aber auch gesteigerten Funktion des Proteins und damit des Rezeptors bewirken.

 

Ein Beispiel für solch eine Veränderung sind Polymorphismen des CYP2D6‑Rezeptors im Cytochrom‑P450 Enzymsystem der Leber. So wird das Codein als Prodrug bei Kaukasiern in bis zu 20 % der Fälle nicht in die wirksame Form metabolisiert, also ein komplettes Ausbleiben der Wirkung bei Erhalt der Nebenwirkungen wie Juckreiz und Müdigkeit. Ähnlich kommt es beim Tramadol bei 10 % der Patienten zu einer klinisch relevanten Abschwächung der Wirkung.

 

Zusammenfassung

Der Erfolg in der Tumorschmerztherapie ist von vielen Faktoren abhängig. Dazu gehören neben den pharmakologischen Grundlagen folgende Punkte: ‑ Erfassung des Schmerzes in seiner Gesamtheit ‑ Der Einsatz eines adäquaten und effizienten Schmerzmittels ‑ Schmerzdokumentation ‑ intensive Zusammenarbeit und Kommunikation aller Beteiligten

Bei allem bleibt zu bedenken: Nicht der Schmerz soll behandelt werden, sondern der Mensch.

 

Anschrift

Dr. med. Peter Ahrens
Chefarzt der Abteilung Anästhesie und Intensivmedizin
der Aller‑Weser‑Klinik Verden
Sedanstraße 1
27283 Verden


Quelle: Symposium "Aktuelle Herausforderungen der differenzierten Therapie starker Schmerzen", veranstaltet von Mundipharma am 8. März 2008 im Rahmen des 19. Deutschen interdisziplinären Schmerzkongresses (Deutscher Schmerztag), Frankfurt am Main (Dorothea Küsters Life Science Communications).

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