Diabetes-Kongress 2019

Aktuelles zur diabetischen Neuropathie:
Frühzeitige multikausale Intervention verhindert Leid und Komplikationen!

 

Berlin (29. Mai 2019) — Neuropathien zählen zu den häufigsten und schwerwiegendsten Folgeerkrankungen des Diabetes. Trotz des gravierenden Einflusses der Erkrankung auf Morbidität und Mortalität wird sie meist zu spät erkannt und behandelt. Experten appellierten daher bei einer Pressekonferenz der Nationalen Aufklärungsinitiative (NAI) „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?“ anlässlich des Kongresses der Deutschen Diabetes Gesellschaft DDG in Berlin, frühzeitig alle diagnostischen und therapeutischen „Register zu ziehen“, um der Nervenschädigung und ihren Folgekomplikationen entgegenzuwirken.

Was früher als „Spätkomplikation“ des Diabetes bezeichnet wurde, erweist sich in aktuellen Studien als das Gegenteil: Neueren Erkenntnissen zufolge ist bereits im Stadium des Prädiabetes die Prävalenz der Neuropathie erhöht, erklärte Prof. Dr. Dan Ziegler, Stv. Direktor am Institut für Klinische Diabetologie des Deutschen Diabetes-Zentrums an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Insbesondere bei gleichzeitigem Vorliegen einer gestörten Nüchternglukose und Glukosetoleranz sei mit einer ähnlich hohen Neuropathie-Rate zu rechnen wie bei bekanntem Diabetes. Bei etwa jedem dritten Patienten mit Diabetes liegt eine distale sensomotorische Polyneuropathie (DSPN) vor, die sich insbesondere an den Füßen durch Empfindungsstörungen wie Kribbeln, Brennen, Schmerzen, Taubheit und/oder eine nachlassende Sensibilität bemerkbar macht.

 

Bei Symptomen an den Füßen ist auch das Herz gefährdet!

Ziegler wies darauf hin, dass bei nachgewiesener DSPN auch an mögliche autonome Manifestationen der Nervenschädigung zu denken ist. Häufig liege bei Patienten mit DSPN auch eine kardiale autonome Neuropathie (KAN) vor, von der etwa jeder fünfte Diabetiker betroffen ist. Beide Manifestationen können sich in frühen Stadien des Diabetes entwickeln und gehen mit einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität und einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko einher, erinnerte der Experte. „Dennoch wird das Neuropathie-Screening in der allgemeinmedizinischen Praxis nicht hinreichend in Anspruch genommen“, beklagte Ziegler mit Verweis auf die Ergebnisse der PROTECT-Studie der Nationalen Aufklärungsinitiative, an der 1.850 Personen mit oder ohne Diabetes teilnahmen: Fast 70% der Untersuchten mit Anzeichen für eine DSPN wussten nicht, dass sie eine Neuropathie haben (1).

 

Aufklärung der Patienten fördert Früherkennung

In einer aktuellen Nachbefragung (n=222) der PROTECT-Studie gaben 60% der Befragten an, aufgrund des Testergebnisses am Stand der Aufklärungsinitiative einen Arzt aufgesucht zu haben, der bei 75% der Teilnehmer mit DSPN diese Diagnose bestätigte. Eine verbesserte Aufklärung der Patienten kann daher die Diagnose der Nervenschädigung erleichtern. Allerdings berichtete nahezu die Hälfte (47%) der Teilnehmer der Nachbefragung mit Brennen und Schmerzen in den Füßen, dass diese Symptome im Verlauf der Erkrankung deutlich stärker geworden seien. Mehr als 70 Prozent der von neuropathischen Symptomen betroffenen Teilnehmer erhielten außerdem keine Pharmakotherapie gegen ihre Beschwerden. „Daher ist von einer mangelnden Versorgung, Adhärenz oder Wirksamkeit hinsichtlich der Therapie der schmerzhaften Neuropathie auszugehen“, schlussfolgerte Ziegler und forderte effektivere Maßnahmen zur Behebung dieser Defizite.

 

Moderne Therapieoptionen: multikausal bis symptomatisch

In der Praxis stellt die Therapie der Neuropathie eine große Herausforderung dar, wie Privat-Dozent Dr. med. Ovidiu Alin Stirban, Chefarzt der Abteilung für Innere Medizin – Endokrinologie & Diabetologie an der Schön Klinik Nürnberg Fürth, verdeutlichte: Im Vordergrund stehe einerseits die Behandlung der oft stark lebensqualitätsmindernden Symptome und anderseits das Aufhalten der Progression oder die Zurückbildung der Nervenschäden. Diese entstehen wiederum durch komplexe Pathomechanismen. Stirban empfiehlt daher eine multikausale Therapie nach dem 3-Säulen-Schema (2):

 

Basis jeder Therapie: Optimale Einstellung und Lebensstilintervention

Erste und wichtigste Maßnahme ist danach eine Optimierung der Diabeteseinstellung. Insbesondere bei Personen mit einem Typ-1-Diabetes kann dadurch die Prävalenz der diabetischen Neuropathie reduziert werden. Bei Personen mit einem Typ-2-Diabetes sind dafür nach Stirbans Ausführungen komplexere Interventionen notwendig, die auch eine Veränderung des Lebensstils beinhalten. Diese metabolischen Interventionen sollten nach Meinung des Experten die Grundlage jeder Behandlung bilden, da sie nicht nur der Entstehung einer diabetischen Neuropathie vorbeugen, sondern auch eine bereits existierende Nervenschädigung zumindest teilweise rückgängig machen können.

 

Pathogenetische Therapie gegen Nervenschäden und Symptome

Ergänzend kommt die zweite Therapiesäule zum Tragen. Sie hat zum Ziel, sowohl die Pathomechanismen der Neuropathie als auch die Symptome zu behandeln. „Klinisch einsetzbar sind aktuell die Therapie mit dem Vitamin B1-Prodrug Benfotiamin und dem Antioxidanz alpha-Liponsäure“, berichtete Stirban. Die hoch bioverfügbare Vitamin B1-Vorstufe Benfotiamin gleicht einen Vitamin B1-Mangel aus, der bei vielen Diabetikern aufgrund renaler Verluste auftritt. So wurden bei Diabetikern um 75 Prozent niedrigere Vitamin B1-Konzentrationen im Blut nachgewiesen als bei Nicht-Diabetikern (3). Dieser Mangel fördert Neuropathien und komplexe metabolische Störungen, die die schädlichen Auswirkungen der Hyperglykämie forcieren. Wird das Defizit mit Benfotiamin ausgeglichen, können diese Pathomechanismen gehemmt und neuropathische Symptome gelindert werden (4).

Alpha-Liponsäure wirkt unter anderem dem bei Diabetes vermehrt auftretenden oxidativen Stress entgegen und reduziert dadurch nervenschädigende Prozesse und neuropathische Symptome.  „Klinische Studien haben die Effizienz der Behandlung mit den beiden Substanzen sowie deren günstigen Nebenwirkungsprofile auch im Rahmen von längeren Therapieansätzen nachgewiesen“, betonte Stirban.

 

Symptomatische Therapie mit kritischem Blick auf Nebenwirkungen

Die dritte Therapiesäule bildet die rein symptomatische Therapie mit Antikonvulsiva (z.B. Gabapentin oder Pregabalin), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (z.B. Duloxetin) oder Opioiden (z.B. Tramadol). „Sie kann neuropathische Schmerzen lindern, birgt jedoch die Gefahr von ausgeprägten Nebenwirkungen“, gab Stirban zu bedenken. Dies sei vor allem bei hohen Dosen der Fall, die häufig für eine effiziente Schmerzbehandlung notwendig seien. So bestätigt eine aktuelle Metaanalyse vor dem Hintergrund stetig steigender Verordnungszahlen von Pregabalin, dass die Behandlung mit einem hohen Risikopotenzial verbunden ist, während die Qualität der Evidenz gering ist (5). Zudem haben die symptomatischen Therapien keinen Einfluss auf die Progression der Erkrankung, ergänzte Stirban. Er plädiert daher dafür, generell alle kausal und pathogenetisch wirksamen Maßnahmen auszuschöpfen und bei Bedarf eine symptomatische Schmerzbehandlung zu ergänzen.

 

Gefahr: diabetisches Fußsyndrom

Nicht zuletzt sollte bei Patienten mit DSPN immer das hohe Risiko für die Entwicklung eines diabetischen Fußsyndroms (DFS) bedacht werden, appellierte Prof. Ralf Lobmann, Ärztlicher Direktor der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Geriatrie am Krankenhaus Bad Cannstatt des Klinikums Stuttgart. Der Experte verwies auf die fatalen Folgen dieser Komplikation: 70 Prozent aller nicht traumatisch bedingten Amputationen werden bei Menschen mit Diabetes durchgeführt. Durch eine strukturierte Wundbehandlung können jedoch zunehmend gute Heilungsraten beim DFS erzielt werden – wenn rechtzeitig behandelt wird: „Ein wichtiger Parameter zur Vermeidung von Amputationen stellt der Zeitraum bis zur Vorstellung in einem spezialisierten Wundzentrum dar“, betonte Lobmann. Demzufolge treten große Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen auf, da die aktuellen Strukturverträge besonders gut in Ballungsräumen greifen.

 

Telemedizinisch basiertes Facharztkonsil verbessert Behandlungsqualität

Um flächendeckend die Versorgungsqualität verbessern zu können und dadurch die Amputationsrate zu senken, hat die Arbeitsgemeinschaft Diabetischer Fuß der DDG mit dem Bund der Internisten (BDI) ein telemedizinisch basiertes Facharztkonsil für den diabetischen Fuß entwickelt, das Lobmann als Vorsitzender der AG diabetischer Fuß vorstellte: In diesem Pilotprojekt wird der primär behandelnde Hausarzt die Möglichkeit erhalten, einen DFS-Spezialisten kurzfristig telemedizinisch zu konsultieren, um sich bei der Auswahl und Koordination der notwendigen diagnostischen und therapeutischen Schritte beraten lassen zu können. „Ziel ist es, bereits zu Beginn der Erkrankung die Behandlungskompetenz zu erhöhen“, sagte Lobmann. Auch eine telemedizinische Zweitmeinung vor einer geplanten Amputation könne helfen, die Amputationsrate zu reduzieren und gleichzeitig die Sicherheit für den behandelnden Primärarzt sowie für den Patienten zu erhöhen.

 

Blick auf die Füße

Die Experten waren sich einig, dass den Füßen von Patienten mit Diabetikern schon in frühen Stadien des Diabetes erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken ist, um Neuropathien erfolgreich behandeln und schwerwiegende Folgen wie das diabetische Fußsyndrom vermeiden zu können.

 

Über die Nationale Aufklärungsinitiative „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?“

Die Nationale Aufklärungsinitiative „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?“ wird von WÖRWAG Pharma in Zusammenarbeit mit der Deutschen Diabetes Stiftung (DDS) und renommierten Experten der Diabetologie und Neurologie getragen. Sie informiert bundesweit über die diabetische Neuropathie und führt wissenschaftliche Studien durch – mit dem Ziel, die Früherkennung und eine rechtzeitige adäquate Therapie der diabetischen Folgeerkrankung zu fördern und Komplikationen, wie das Diabetische Fußsyndrom, zu verhindern.

 

 

Literatur

  1. Ziegler D et al. Painful and painless neuropathies are distinct and largely undiagnosed entities in subjects participating in an educational initiative (PROTECT-Study). Diabetes Res Clin Pract. 2018;139:147-154
  2. Stirban A et a. Diabetische Neuropathie – Update 2018. Diabetes-Congress-Report 5/2018; 12-18.
  3. Thornalley PJ et al. High prevalence of low plasma thiamine concentration in diabetes linked to a marker of vascular disease. Diabetologia 2007; 50: 2164-2170
  4. Raj V et al. Therapeutic potential of benfotiamine and its molecular targets. Eur Rev Med Pharmacol Sci 2018; 22: 3261-3273
  5. Onakpoya IJ, et al. Benefits and harms of pregabalin in the management of neuropathic pain: a rapid review and meta-analysis of randomised clinical trials. BMJ Open 2019; 9:e023600. doi:10.1136/bmjopen-2018-023600

 


Quelle: Pressekonferenz „Aktuelles zur diabetischen Neuropathie“ am 29.05.2019 anlässlich des Diabetes-Kongresses 2019 in Berlin; Veranstalter: Nationale Aufklärungsinitiative zur diabetischen Neuropathie „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?“ und WÖRWAG Pharma (tB).

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