Die Angst vor dem unsichtbaren Virus

 

  • Wie Kunst und Literatur das Unsichtbare von Epidemien sichtbar machen – Von „kleinen Tierchen“ und Pestbeulen, Beerdigungen und Behördenversagen: Beispiele von der Antike bis heute

 

Münster (5. August 2020) — Die Angst vor dem unsichtbaren Virus hat in Epidemien vom Altertum bis heute in Kunst und Literatur zu vielen Versuchen des Sichtbarmachens geführt. „Das Unsichtbare, das man nicht riechen, schmecken oder anfassen kann, verunsichert zutiefst. Es schafft eine soziale Atmosphäre des Misstrauens“, schreiben Forscherinnen und Forscher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ im Web-Dossier Epidemien. Kulturwissenschaftliche Ansichten. Sie zeichnen nach, welche Bilder und Vergleiche Schriftsteller, Maler und Geschichtsschreiber verschiedener Epochen und Regionen schufen, um das Unvorstellbare greifbar zu machen – auch dann noch, als der Bakteriologe Robert Koch (1843-1910) Krankheitserreger sichtbar zu machen vermochte. Wo heute Bilder von Militärkonvois und Särgen aus Bergamo oder Leichensäcken aus New York zum Sinnbild der Pandemie wurden – mehr als das gezackte Corona-Modell – stellten antike Schreiber wie Thukydides und Prokop oder Renaissance-Maler den Schrecken der Pest etwa in zahllos aufgestapelten Toten dar, um das Unfassbare zu erfassen. „Der Drang, dem Unsichtbaren eine Gestalt zu geben, begleitet die Menschheit, seitdem Epidemien ihren Lebensraum bedrohen.“

Medizin und Kunst beschreiben die Krankheitserreger lange Zeit als „winzige Wesen“, wie die Autorinnen und Autoren des Web-Dossiers, das die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf initiiert hat, ausführen. Medizinhistorikerin Katharina Wolff zeichnet in ihrem Beitrag den Weg der Medizingeschichte von der Antike bis heute nach, in der verschiedenste Theorien über das verborgene Krankheitsgeschehen entstanden – mit Erklärungen von Miasmen über Pestwürmer bis zu anderen „lebenden Tierchen“ –, bis die moderne Labordiagnostik das Unsichtbare technisch wahrnehmbar machte. Auch in der Literatur ist von winzigen Wesen die Rede: Wagner-Egelhaaf entdeckt sie etwa im Roman „Die Jakobsbücher“ (2014) der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, in dem das unsichtbare Virus als „winziges Wesen im Nebel“ aufsteigt – und so in seiner Unsichtbarkeit zu sehen ist.


Ansteckung mit dem Virus durch starke Affekte

Eine literarische Visualisierung der Pest findet sich auch in Giovanni Boccaccios „Dekameron“, wie Romanistin PD Dr. Pia Doering darlegt. Drastisch beschreibt der Autor die Pestbeulen und schwarzen Flecken der Kranken, Zeichen des nahenden Todes, und den Gestank der Leichen. Wie in der antiken Geschichtsschreibung, die Historiker Matthias Sandberg im Dossier untersucht, wird auch bei Boccaccio Politisches sichtbar: die Zerrüttung der sozialen Ordnung und das Behördenversagen. Um es zu verschleiern, sollen nämlich Beerdigungen und Gräber geheim bleiben – Unsichtbarkeit um der öffentlichen Ordnung willen. Die Kunst der Renaissance und des Barrock wiederum setzt ins Bild, was Ärzte, Philosophen, Literaten und Geistliche lange über die Pest glaubten, so Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-Bettina Krems: dass die Seuche durch starke Affekte verstärkt würde. Schon ein großer Schreck könne zur Ansteckung führen, ebenso die Träume. Künstler stellten daher Heilige dar, die ihre Affekte sichtlich im Zaum halten konnten, und erhoben sie zum moralischen Vorbild. Zur irdischen Sphäre tritt in der künstlerischen Pest-Darstellung die himmlische hinzu, wie Kunsthistoriker Prof. Dr. Jens Niebaum an Altarbildern der Renaissance aufzeigt. Fürbitte und göttliche Erhörung werden in diesem vormodernen Deutungsmodell zur Möglichkeit, ein Ende der Epidemie herbeizuführen.


Unsichtbarkeit verschärft soziales und politisches Misstrauen

Bedrohung und Schrecken sind fast allen künstlerischen Seuchen-Darstellungen eingeschrieben, wie die Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen aufzeigen. Ethnologin Prof. Dr. Dorothea Schulz legt in ihrem Beitrag „Die unmerkliche Bedrohung“ am Beispiel der aktuellen Lage in afrikanischen Ländern wie Mali dar, wie sehr Bedrohungsgefühle auf die Unsichtbarkeit und Unfassbarkeit des Virus zurückzuführen seien. „Die Uneindeutigkeit körperlicher Zeichen, die eine Ansteckung durch das Coronavirus belegen, verstärkt bei vielen Menschen das Gefühl, jederzeit, von überall und von jedem bedroht zu sein.“ Das Ergebnis sei eine spannungsgeladene atmosphärische Mischung aus sozialer Angst und teils Weigerung, die Existenz und Bedrohlichkeit des Virus anzuerkennen. „So führt die Unlesbarkeit von Corona dazu, bestehendes soziales und politisches Misstrauen zu verschärfen.“

Aktuelle Bilder der Wissenschaft erzeugen Nachvollziehbarkeit und Glaubwürdigkeit, wie die Forscher in ihrer Einleitung schreiben: „Die globale Verbreitung des Corona-Virus macht uns zu Konsumenten räumlicher Datenanalysen und Location-Intelligence-Tools. Interaktive Karten und Charts brechen die Komplexität des Virus und seiner Folgen herunter. Und doch herrscht große Verunsicherung. Die Nicht-Wahrnehmbarkeit verstärkt eine Atmosphäre der sozialen Bedrohung und des Misstrauens. Kriegsmetaphern werden bemüht, um dem unsichtbaren Feind den Kampf anzusagen.“ Das Dossier-Kapitel trägt den Titel (Un-)Sichtbarkeit. Oder: Visualisierung und Wahrnehmung einer unsichtbaren Bedrohung. Das Web-Dossier Epidemien. Kulturwissenschaftlichen Ansichten enthält zwei weitere Kapitel zu den Themen Zeit (oder: „Nach der Krise ist vor der Krise“) und Raum (oder: „Abstand und Ausbreitung“).

Die Arbeiten gehen aus einer Arbeitsgruppe des Exzellenzclusters zu „Epidemien in Geschichte und Gegenwart hervor“. Ein weiteres Web-Dossier Religion und Verschwörungstheorien in Zeiten der Corona-Epidemie versammelt aktuelle geistes- und sozialwissenschaftliche Beiträge über religiöse Deutungen von Epidemien, den individuellen Umgang mit der Corona-Krise sowie Verschwörungstheorien in Konkurrenz zu Religion und Wissenschaft. (vvm/maz)

 

Weitere Informationen

 

 

Abb.: „St. Sebastian betet für die Pestopfer“ – künstlerische Sichtbarmachung von Seuchen. Josse Lieferinxe (1483-1508), The Walters Art Museum (CC0 1.0)

 


Quelle: Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 05.08.2020 (tB).

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