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12. Bamberger Gespräche 2008
Harninkontinenz ‑ Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede?
Medikamentöse Therapie der Überaktiven Blase
Von Dr. med. Andreas Wiedemann
Bamberg (13. September 2008) – Wie wird aktuell eine Überaktive Blase behandelt? In der europaweit größten Befragung von 2.500 Hausärzten zu ihrem Management der Harninkontinenz wurde deutlich, dass in der Therapie das Verordnen eines Medikamentes neben der Überweisung zum Facharzt die größte Rolle sowohl bei Hausärzten als auch bei Gynäkologen spielt. Die Verordnung eines Anticholinergikums besitzt dabei den größten Stellenwert ‑ neben dem am längsten auf dem Markt befindlichen Anticholinergikum Oxybutynin kennen die Befragten Trospiumchlorid in über 2/3 der Fälle (Wiedemann und Füsgen 2008).
Liegt eine Anticholinergika-Resistenz vor oder ist eine Anticholinergika-Therapie nicht durchführbar, kommen invasive Ersatztherapie-Verfahren zum Einsatz (z.B. Botulinum-Toxin-Injektion). Woran kann ein scheinbares Versagen der medikamentösen Therapie der OAB liegen bzw. was kann bei scheinbarer „Anticholinergika-Resistenz" helfen, doch noch eine Wirkung zu erzielen?
Hier sind vier Punkte zu nennen: 1. Einfluss der Grunderkrankung, 2. Unterdosierung der anticholinergen Therapie, 3. Interaktionen durch die Co‑Medikation, 4. Interaktionen auf der Ebene des Anticholinergika‑Metabolismus.
1. Der Einfluss der Grunderkrankung
Die ICS, die „international continence society" definiert OAB als "…urgency syndrome and urgency‑frequency‑syndrome … in the absence of infection or other proven etiology" (www.icsorq.com). Der letzte Satz bedeutet, dass systematisch jeder Patient mit OAB, auch der junge, scheinbar gesunde oder der anderweitig schon einmal untersuchte einer kompletten Ursachenabklärung unterzogen werden muss, um seltene oder auch exotische Ursachen der OAB aufzudecken. Nur, wenn solche Ursachen ausgeschlossen worden sind und eine idiopathische OAB vorliegt, ist eine alleinige symptomatische Therapie der OAB mit Anticholinergika sinnvoll. Liegt eine fassbare Ursache vor, steht die kausale Therapie (evtl. in Kombination mit einer Anticholinergika‑Therapie) im Vordergrund.
2. Unterdosierung der anticholinergen Therapie
Heutzutage ist ein Trend zur Einmaldosierung zu beobachten. Die verbesserte Compliance wird aber mit dem Verlust der Titrierbarkeit und der Dosiseskalation bzw. Dosisreduktion bestraft. In dem Bewusstsein, dass Blutdruckveränderungen und Pulsveränderungen erst weit jenseits des therapeutischen Bereiches auftreten (Breuel und Mürtz 1993), mag manchmal „Nichtansprechen" einfach „Unterdosierung" sein. Der behandelnde Arzt ist gefragt, auch die Maximal‑Dosierung der Anticholinergen Therapie auszuloten. Gerade für den schwierig einzustellenden Patient ist die individuelle Verteilung der Tagesdosis auf unterschiedliche Uhrzeiten ein therapeutisches Geduldsspiel.
3. Interaktionen auf der Ebene der Co‑Medikation
Im Zeitalter der Multimorbidität und der Multimedikation lohnt es sich, die Verordnungszettel Hochbetagter systematisch zu durchforsten und die Medikamentenverordnungen, die nicht selten vom Hausarzt, Neurologen, Schmerztherapeut und anderen Kollegen ohne Kenntnis der Verordnungen des jeweils anderen getätigt werden, zu klassifizieren. Alle Medikamente, die die Blasenaktivität erhöhen (und hierzu gehören ACE‑Hemmer, Calciumantagonisten, GABA‑Analoga, Lithium, MAO‑Hemmer, Cholinesterasehemmer und andere), den Sphinkter‑Apparat relaxieren (Benzodiazepine, alpha‑Blocker) oder indirekt eine Inkontinenz fördern (Diuretika, ACE‑Hemmer) können die Wirkung von Anticholinergika abschwächen bzw. sogar aufheben. Besonders schwierig ist in diesem Zusammenhang sicherlich das zeitversetzte Zusammenwirken verschiedener Kollegen unterschiedlicher Fachrichtungen ‑ aber warum soll es nicht eine interdisziplinäre „Kontinenzkonferenz" analog den vielfach schon etablierten Tumorkonferenzen geben? Vielleicht ist manchmal nicht nur die Multimorbidität mit ihrer Multimedikation das Problem, sondern auch eine „Multiiatrogenität"?
4. Interaktionen auf der Ebene des Anticholinergika‑Metabolismus
Auf der Ebene des Metabolismus besitzen die sog. tertiären Amine, zu denen alle Anticholinergika mit Ausnahme des quartären Amins Trospiumchlorid gehören, einen Nachteil: Ober das hepatische Zytochrom‑System abgebaut kann ihr Metabolismus durch Zytochrom‑Induktoren beschleunigt und durch Zytochrom‑Inhibitoren gehemmt werden. Für den Fall, dass sich in der Co‑Medikation potente Zytochrom‑Induktoren befinden, wird also eine scheinbare Unwirksamkeit der Anticholinergika‑Medikation resultieren. Hierzu gehören Alpha‑Blocker, Beta‑Blocker, Morphine, Calciumantagonisten, ACE‑Hemmer, Makrolid‑Antibiotika, östrogenhaltige Hormonpräparate, Neuroleptika, Fungistatika, Sartane und andere. So nennt das „Textbook of drug interactions" für Tolterodin nicht weniger als 63 Substanzen, die auf der Ebene der Zytochrome mit Tolterodin kreuzreagieren (Bachmann und Lewis 2004). Bei Trospiumchlorid, das renal eleminiert wird, muss lediglich bei schweren Formen einer Niereninsuffizienz die Dosis angepasst werden.
Macht es Sinn, bei fehlendem Therapieansprechen das Anticholinergikum zu wechseln? Wirken z.B. M3‑selektive Anticholinergika stärker oder anders? Die Lösung liegt in den pKi‑Werten aller Anticholinergika für die Muskarinrezeptorsubtypen M1‑M5, die wir heute kennen
|
M1 |
M2 |
M3 |
M4 |
M5 |
Solifenacin |
7,6 |
6,9 |
8,0 |
? |
? |
Darifenacin |
8,2 |
7,4 |
9,1 |
7,3 |
8,0 |
SPM 7605 |
8,7 |
8,8 |
8,2 |
9,0 |
8,3 |
Tolterodin |
8,8 |
8,0 |
8,5 |
7,7 |
7,7 |
Oxybutynin |
8,7 |
7,8 |
8,9 |
8,0 |
7,4 |
Propiverin |
6,6 |
5,4 |
6,4 |
6,0 |
6,5 |
Trospiumchlorid |
9,1 |
9,2 |
9,3 |
9,0 |
8,6 |
Tab. 1: pKi‑Werte von zur Behandlung der OAB zugelassenen Anticholinergika (Mutschler, E., Referateband Bamberger Gespräche 2006, Deutsche KontinenzGesellschaft).
Je höher der genannte pKi‑Wert, desto geringer ist die Menge Anticholinergikum, die benötigt wird, den entsprechenden Rezeptor halbmaximal zu inhibieren. Der Vergleich der pKi‑Werte für den M3‑Rezeptor zeigt, dass die stärkste Wirkung auf den für die direkte Blasenkontraktion verantwortlichen M3‑Rezeptor bei Darifenacin (9,1) und für Trospiumchlorid (9,3) zu verzeichnen ist. Für den M2‑Rezeptor, der die Blasenrelaxation der Harnblasenspeicherphase für die Miktion beendet, besitzt Trospiumchlorid (9,2) den besten pKi‑Wert von allen Anticholinergika. Dies ist vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass eine OAB auch durch eine vermehrte Aktivität von M2‑Rezeptoren oder einer Mengenzunahme dieses Rezeptorsubtyps, wie es für die neurogene OAB und für die OAB infolge einer Blasenauslassobstruktion belegt ist, verursacht sein kann. Damit ist die Rezeptorselektivität kein Garant für eine andere oder bessere Anticholinergikawirkung. Der Blick auf das anticholinerge Nebenwirkungsprofil zeigt auch, dass viele „klassische" Nebenwirkungen der Gruppe der Anticholinergika alleinig oder zumindest teilweise M3‑vermittelt sind (Obstipation, Übelkeit, Mundtrockenheit). In Folge dessen dürften sich auch für das Nebenwirkungsprofil keine eindeutigen Vorteile der M3-Rezeptorselektivität ableiten lassen.
Eine echte Anticholinergikaresistenz liegt bei einer non‑cholinergen Pathophysiologie der OAB vor. Diese kann momentan leider nicht direkt diagnostiziert werden. Bevor jedoch ein Patient als anticholinergikaresistent eingestuft wird und aufwendige Ersatztherapien angedacht werden, lohnt es sich, die Anticholinergika‑Therapie wie gezeigt zu optimieren. Für die Zukunft ist eine Erweiterung des therapeutischen Spektrums um non‑cholinerg wirksame Substanzen zur Behandlung der OAB zu wünschen.
Quelle: Pressekonferenz zum Thema „Harninkontinenz ‑ Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede?“ anlässlich der 12. Bamberger Gespräche am 13.09.2008 in Bamberg (Fleishman Hillard).