MEDIZIN

DOC-CHECK LOGIN

Die Psychoanalyse wirkt

Eine empirische Langzeitstudie zur psychoanalytischen Psychotherapie

 

Bern, Schweiz (9. September 2008) – Therapien, die ein bis zwei Wochenstunden in Anspruch nehmen und durchschnittlich zwei Jahre dauern, sind sehr gefragt. Auf diesem Markt bieten auch psychoanalytisch geschulte Therapeutinnen und Therapeuten ihre Dienste an. Ein vom Schweizerischen Nationalfonds unterstütztes Forschungsprojekt belegt nun, dass psychoanalytische Psychotherapien eine heilsame Wirkung entfalten – besonders bei schweren psychischen Störungen.

 

Wie wirksam ist die psychoanalytisch ausgerichtete Therapie? "Der Psychoanalyse wird oft vorgeworfen, sie verweigere sich der Empirie", sagt Joachim Küchenhoff, Chefarzt der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Liestal (BL) und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Basel, "doch wir haben sie nun empirisch untersucht." In vier Jahren haben Küchenhoff und sein Team die Therapien von 47 Patientinnen und Patienten bei 37 Therapeutinnen und Therapeuten in der deutschen Schweiz während mindestens eines Jahres mit quantitativen und qualitativen Methoden untersucht.

Insgesamt stellen die Forscher eine signifikante Reduktion der Beschwerden, Beziehungsprobleme und anderer Symptome fest. Über die Hälfte der Patienten mit schweren Störungen wies nach einem Jahr keinen auffälligen Befund mehr auf. Auch die meisten andern konnten ihren Zustand nachweislich verbessern, blieben aber auffällig. Nur bei vier Patienten trat eine Verschlechterung der Symptome ein. Auch längere Therapien wurden beobachtet. Dabei zeigte sich, dass die wesentliche Änderung der Beschwerden meist im ersten Therapiejahr stattfindet. Die Forschenden behielten auch Patienten mit abgeschlossener Therapie im Auge. Der Trend sagt, dass psychoanalytische Psychotherapien auch nachhaltig wirken.

Eine Variante der klassischen Psychoanalyse
Um nur Behandlungen zu erfassen, die die Bezeichnung "psychoanalytisch" verdienen, begleiteten die Forscher ausschliesslich Therapeuten, die die Standards der European Federation for Psychoanalytic Psychotherapy (EFPP) erfüllen, die also moderne psychoanalytische Konzepte und Methoden verwenden (Unbewusstheit, Berücksichtigung der Beziehung Therapeut-Patient sowie ihrer Veränderung, kognitions- und emotionsbezogene Herangehensweise).


Dennoch war die klassische Psychoanalyse nicht Gegenstand der Langzeitstudie. Die jahrelangen, mindestens drei Wochenstunden auf der Couch umfassenden Behandlungen sind in der breiten Patientenversorgung in der Schweit nicht gebräuchlich. "Am gefragtesten sind circa zweijährige Therapien, bei denen man sich ein bis zwei Wochenstunden gegenüber sitzt", sagt Küchenhoff. Diese Therapien habe man untersucht.

Zu Beginn der Therapie sah sich nur die Hälfte aller Patienten als schwer krank. Laut ihren Therapeuten aber litten über 90 Prozent unter deutlichen bis ausserordentlich schweren psychischen Erkrankungen. Und die schweren Fälle wiesen bessere Therapieergebnisse auf als die leichteren, einst klassischen Psychoanalysefälle, die sogenannten reifen Neurotiker. "Vielleicht entspricht diesen Leuten das klassische lange, intensive Setting eher, vielleicht haben die Therapeuten nach Jahren der Beschäftigung mit Borderline-, Trauma- und Selbstverletzungspatienten den Umgang mit ihrer klassischen Klientel auch etwas verlernt", sagt Küchenhoff.

Verbesserte Selbstwahrnehmung als Hürde
Ihre Daten erhoben die Forschenden mit standardisierten Fragebogen zu Befindlichkeit und Symptomen und mit Einschätzungen der Persönlichkeitsstruktur. Patienten und Therapeuten füllten die Fragebögen unabhängig vor, während und nach der Therapie aus. Mit qualitativen Interviews machten sich die Forschenden zudem ein Bild vom Krankheitszustand der Patienten. Die Daten enthalten also drei Perspektiven auf jede Therapie (Patient, Therapeut, unbeteiligter Dritter) – "ein dem Wissenschaftsbegriff der Psychoanalyse adäquater Forschungsansatz", wie Küchenhoff sagt.

So geben einige Patienten während der Therapie mehr Symptome an als davor, obwohl sich ihr Zustand aus den anderen Perspektiven verbessert hat. Küchenhoff interpretiert das als Hinweis darauf, dass psychoanalytische Therapien die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung steigern können. "Der Patient erkennt manche Belastungen erst nach einer Weile Therapie richtig. Mehr wahrzunehmen kann grösseres Leid bedeuten, durch das er mit seinem Therapeuten hindurch muss."
Die Daten enthalten auch Hinweise darauf, dass Therapeuten vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie sich sehr genau auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten ihrer Patienten einstellen. "Es hat keinen Sinn, komplizierte Deutungen an die Leute zu tragen, die sie nicht verstehen können", sagt Küchenhoff. Was trivial klinge, sei im therapeutischen Alltag oft schwierig. Weitere Auswertungen der erhobenen Daten sollen nun zeigen, wie Therapeuten sich optimal auf ihre Patienten einstellen.

Publikationen (beide als PDF beim SNF erhältlich; eMail: pri@snf.ch ):

Paper mit den wichtigsten Resultaten
T. Jakobsen, P. Agarwalla, C. Knauss, H. Hunziker, R. Schneider, J. Küchenhoff: Eine komparative Kasuistik auf der Grundlage qualitativer Ergebnismessungen und qualitativer Prozessbeschreibungen als Beitrag zum Verständnis therapeutischer Prozesse, in: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 9 (2007), S. 119-142.

Kontakt
Prof. Joachim Albert Küchenhoff
Kantonale Psychiatrische Klinik
Bienentalstrasse 7
CH-4410 Liestal
Tel: +41 (0)61 927 71 61
eMail: joachim.kuechenhoff@unibas.ch

 


Quelle: Pressemitteilung des Schweizerischen Nationalfonds vom 09.09.2008.

 

MEDICAL NEWS

IU School of Medicine researchers develop blood test for anxiety
COVID-19 pandemic increased rates and severity of depression, whether people…
COVID-19: Bacterial co-infection is a major risk factor for death,…
Regenstrief-led study shows enhanced spiritual care improves well-being of ICU…
Hidden bacteria presents a substantial risk of antimicrobial resistance in…

SCHMERZ PAINCARE

Hydromorphon Aristo® long ist das führende Präferenzpräparat bei Tumorschmerz
Sorgen und Versorgen – Schmerzmedizin konkret: „Sorge als identitätsstiftendes Element…
Problem Schmerzmittelkonsum
Post-Covid und Muskelschmerz
Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln

DIABETES

Wie das Dexom G7 abstrakte Zahlen mit Farben greifbar macht…
Diabetes mellitus: eine der großen Volkskrankheiten im Blickpunkt der Schmerzmedizin
Suliqua®: Einfacher hin zu einer guten glykämischen Kontrolle
Menschen mit Diabetes während der Corona-Pandemie unterversorgt? Studie zeigt auffällige…
Suliqua® zur Therapieoptimierung bei unzureichender BOT

ERNÄHRUNG

Positiver Effekt der grünen Mittelmeerdiät auf die Aorta
Natriumaufnahme und Herz-Kreislaufrisiko
Tierwohl-Fleisch aus Deutschland nur mäßig attraktiv in anderen Ländern
Diät: Gehirn verstärkt Signal an Hungersynapsen
Süßigkeiten verändern unser Gehirn

ONKOLOGIE

Strahlentherapie ist oft ebenso effizient wie die OP: Neues vom…
Zanubrutinib bei chronischer lymphatischer Leukämie: Zusatznutzen für bestimmte Betroffene
Eileiter-Entfernung als Vorbeugung gegen Eierstockkrebs akzeptiert
Antibiotika als Störfaktor bei CAR-T-Zell-Therapie
Bauchspeicheldrüsenkrebs: Spezielle Diät kann Erfolg der Chemotherapie beeinflussen

MULTIPLE SKLEROSE

Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich
Neuer Biomarker für Verlauf von Multipler Sklerose
Multiple Sklerose: Analysen aus Münster erhärten Verdacht gegen das Epstein-Barr-Virus
Aktuelle Daten zu Novartis Ofatumumab und Siponimod bestätigen Vorteil des…
Multiple Sklerose durch das Epstein-Barr-Virus – kommt die MS-Impfung?

PARKINSON

Meilenstein in der Parkinson-Forschung: Neuer Alpha-Synuclein-Test entdeckt die Nervenerkrankung vor…
Neue Erkenntnisse für die Parkinson-Therapie
Cochrane Review: Bewegung hilft, die Schwere von Bewegungssymptomen bei Parkinson…
Technische Innovationen für eine maßgeschneiderte Parkinson-Diagnostik und Therapie
Biomarker und Gene: neue Chancen und Herausforderungen für die Parkinson-Diagnose…