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Dementia Care Mapping sichert die Qualität bei der Versorgung von dementen Bewohnern in den Heimen der Seniorenstiftung Prenzlauer Berg
Demenz und Altersverwirrtheit gehören zu den häufigsten Erkrankungen im Alter. Seit Alois Alzheimer 1901 das Krankheitsbild zum ersten Mal detailliert beschrieben hat, gelangte Demenz immer mehr in die öffentliche Wahrnehmung. Infolge der gesteigerten Lebenserwartung trat die bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts kaum bekannte Krankheit häufiger auf und gelangte – auch durch Erkrankung prominenter Persönlichkeiten – stärker ins Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit.
In Fachkreisen galt Demenz lange als rein medizinisches Thema. Der psychologischen Betreuung wurde wenig Beachtung geschenkt, so dass die betreuenden Personen kaum auf eine spezialisierte Demenzpflege vorbereitet waren. Dieser Umstand wurde von dem englischen Sozialpsychologen Tom Kitwood (1937 – 1998), Professor an der Universität Bradford in Großbritannien, aufgegriffen und kritisiert. Gemeinsam mit Kathleen Bredin entwickelte er Dementia Care Mapping (DCM), ein Verfahren zur Evaluation der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz, das von der Bradford Dementia Group weitergeführt wurde und inzwischen im angelsächsischen Sprachraum, aber auch Japan oder Dänemark weit verbreitet ist.
Der wichtigste Unterschied zu anderen Verfahren besteht dabei im „personenzentrierten“ Ansatz. Kitwood hat es einmal so erklärt: „Sprechen wir nicht von einem Menschen mit Demenz, sondern von einem Menschen mit Demenz.“ Das bedeutet, in erster Linie ist zu berücksichtigen, was für den Dementen als Person bedeutsam ist, erst danach folgen die quasi technischen Regeln, die für die Pflege gelten.
Betreuungsqualität für Demente hängt ab von den Beziehungen im Pflegeteam
Die Seniorenstiftung Prenzlauer Berg hat gegenwärtig in zwei ihrer Häuser je zwei Wohnbereiche für dementiell erkrankte Bewohner eingerichtet. Eine Demenzabteilung erfordert nicht nur höheren Personalaufwand und umfangreichere Freizeitangebote, sondern stellt auch spezielle Anforderungen an die Qualität der Betreuung. Daher wird jeder Bereich alle sechs Monate durch DCM überprüft. Um die Güte der Pflege dementer Bewohner zu sichern, hat die Stiftung das Verfahren personell fest installiert.
Abb.: Marion Mehnert (links) ist für die Hälfte ihrer Arbeitszeit offiziell als
DCM-Fachfrau, „Mapper“ genannt, in der Stiftung tätig.
Seit 2004 ist Marion Mehnert für die Hälfte ihrer Arbeitszeit offiziell als DCM-Fachfrau, „Mapper“ genannt, tätig. „Hauptinstrument zur Bewertung der Pflegequalität ist die Pflegevisite“, erklärt sie. „DCM ist das Zusatzverfahren für den Personenkreis, der sich nicht mehr adäquat dazu äußern kann, wie die Leistungen der Pflegekräfte wahrgenommen werden.“ Die Betreuungsqualität für demenzkranke Menschen aber hängt primär ab von den Beziehungen im Behandlungsteam und von seiner Fähigkeit zur Interaktion mit den Betreuten. Daher sucht sie zweimal im Jahr jede Wohngruppe in ihrem Gemeinschaftsbereich auf, um die Interaktion festzuhalten.
Der erste Schritt ist die Einführung, bei der das Team mit der Methode vertraut gemacht und ermuntert wird, seine Zustimmung dazu geben. Ohne das Einverständnis der Betreuenden kann DCM nicht durchgeführt werden, denn eine Situation des Misstrauens wirkt sich auf das Beobachtungsergebnis aus. Die Beobachterin informiert sich zugleich über die Personen, die in das Mapping einbezogen werden können.
„Nach zwei Stunden werde ich zur Blumenvase“
Dann folgt die Beobachtungsphase, das eigentliche „Mappen“, eine sehr anstrengende Tätigkeit, bei der es auf genaue Beobachtung, Erfahrung im Umgang mit dementen Menschen und die Beherrschung der Methodik ankommt. Marion Mehnert muss sich mit Empathie und Beobachtungsgabe in die Erlebnis- und Gefühlswelt der demenzkranken Personen hineinversetzen, denn sie kann die Beteiligten nicht fragen: „Wie geht es Ihnen heute?“. Etwa sechs Stunden lang beobachtet bis zu fünf demenziell erkrankte Menschen. Dabei verhält sie sich möglichst unauffällig, um durch ihre Anwesenheit das Geschehen nicht zu beeinflussen. „Zwei Stunden lang nehmen die Mitarbeiter meine Anwesenheit wahr – dann werde ich zur Blumenvase“, erzählt sie lächelnd.
Auf einem Beobachtungsbogen erfasst sie Verhaltensformen und Wohlbefindlichkeitswerte. Dazu gibt es eine Liste mit 24 Verhaltenskategorien, die jeweils einem Buchstaben des Alphabets zugeordnet sind. Alle fünf Minuten werden die Regungen eingetragen – daher auch der Name: Map, englisch für Stadtplan oder Landkarte. Wie in einer Straßenkarte werden die mentalen Bewegungen und Richtungsänderungen verzeichnet, an denen später abgelesen werden kann, wie sich der- oder diejenige durch sein Verhalten geäußert hat.
Als Mapper darf Marion Mehnert nicht eingreifen, nur beobachten, und sie begibt sich selbst auf das Wahrnehmungs-Niveau der Dementen. „Ich bekomme auch Durst, wenn die Bewohner nichts zu trinken bekommen“, sagt sie. „Und ein anderes Mal denke ich: ‚Hörst Du die laute Musik nicht, die seit einer halben Stunde dudelt?’“ All diese kleinen Dinge sind wichtig, denn sie machen das Gesamt des Zusammenlebens aus. Und gerade die scheinbar unwichtigen Kleinigkeiten geraten schnell aus dem Blick.
Der dritte Schritt ist der zeitaufwändigste: die Beobachtungen werden nach vorgegebenen Regeln ausgewertet und – bezogen auf die einzelnen Personen – zu Profilen aufgearbeitet und zu Qualitätsaussagen verdichtet.
Es geht um die Änderung des Kommunikationshandelns
Vierte Station schließlich ist die Auswertung mit dem Betreuungsteam, die innerhalb von einer Woche nach dem Mapping unter Beteiligung möglichst aller Betreuungspersonen stattfinden soll. Marion Mehnert gibt eine Rückmeldung über ihre Beobachtungen. In anonymer Form stellt sie die Ereignisse bei den beobachteten Personen und in der Gesamtgruppe vor. „Die Rückmeldungen finden immer zum Dienstwechsel statt“, erklärt sie, „dann fällt die Anspannung weg. Der Ausgangspunkt heißt: die Pflegekräfte sind die Experten, sie machen es richtig. Damit bekommt das Gespräch den Charakter einer qualifizierten Fallbesprechung – die Probleme kommen von ganz allein hoch.“
Im Gespräch entwickeln Pflegeteam und Beobachterin gemeinsam einen Handlungsplan, der die nächsten Schritte festlegt. Dabei geht es vor allem um den Zustand der Bewohner, den Zustand der Pflege und des Teams sowie um den Umgang mit den Angehörigen. Vielfach handelt es sich um ganz einfache Dinge wie die Änderung der Sitzordnung am Tisch. Es kann aber auch ein Gruppenwechsel geraten sein oder eine Veränderung der Betreuungszeiten. Die getroffenen Festlegungen können beim nächsten Mappen überprüft werden, und sie gehen ein in die Pflegeplanung. Die Beobachtungsunterlagen verbleiben beim Betreuungsteam – die Leitung erhält nur Zugang zu abstrahierten Daten.
Abb.: Die kompetente Betreuung dementer Senioren hat in der Seniorenstiftung einen hohen Stellenwert. Regelmäßig öffnen die Clowns der ROTEN NASEN spielerisch ein "Fenster zur Außenwelt".
Photos: Johannes Lehmann
„Anfänglich waren die Mitarbeiter zurückhaltend und skeptisch, sie kamen sich überwacht vor“, erzählt Marion Mehnert. „Inzwischen haben sie das Verfahren positiv aufgenommen. Heute rufen Mitarbeiter sogar an, wenn sie an Grenzen stoßen.“ Zunehmend hat sich ein Vertrauensverhältnis eingestellt, das auch außer der Reihe Gruppen- und Einzelgespräche ermöglicht, die wiederum zu Strukturveränderungen führen können. „Wenn es in diesem Bereich um Veränderung geht, dann um die Änderung des Kommunikationshandelns“, sagt sie. „Aber es hat sich gezeigt: negative Auffälligkeiten wie Bevormundung, Verkindlichung oder Spott, hinter denen die unbewusste Haltung steckt: ‚Ich bin mächtig – und Du machst, was ich sage!’, sind zurückgegangen. Personenschädigende Ereignisse nehmen definitiv ab, und das ist für mich einer der wichtigsten Erfolge.“
Kontinuität in der Pflege- und Betreuungsqualität
Dementia Care Mapping wirkt nicht anhaltend. Es bedarf immer wieder der Sensibilisierung des Betreuungsteams wie auch der Beobachtung des Krankheitsverlaufs der dementen Bewohner. Die Seniorenstiftung Prenzlauer Berg ist – wie sich in Zusammenkünften der DCM-Beauftragten gezeigt hat – derzeit die einzige Berliner stationäre Einrichtung, die Mapper direkt im Haus hat und seit Jahren kontinuierlich mit dem Verfahren arbeitet.
„Bereits vor einigen Jahren, als DCM im deutschsprachigen Raum höhere Anerkennung erlangte, haben wir uns entschlossen, das Verfahren zur internen Qualitätssicherung einzusetzen“, sagt Lilian Weber, Pflegedirektorin der Seniorenstiftung Prenzlauer Berg. „Seit 2004 haben wir eine ausgebildete Mapperin im Haus. Die guten Erfahrungen und die Notwendigkeiten, die durch die Zunahme der demenziell Erkrankten entstehen, haben uns bewogen, eine weitere Kollegin zur DCM-Fachkraft ausbilden zu lassen und in unseren Wohnbereichen einzusetzen.“
Die Vorteile liegen auf der Hand. Mit den Fachkräften im Haus verfügt eine Einrichtung nicht nur über qualifiziertes Know-how. Die Kenntnis der konkreten Situation, räumliche Nähe und gewachsenes Vertrauen – zugleich aber auch Abstand zum jeweiligen Wohnbereich, um Neutralität zu wahren – führen zu Gesprächssituationen, in denen die Probleme offen angesprochen und Qualitätsverbesserungen im Interesse der dementen Bewohner die Regel werden.
Abb.: Die dementen Bewohner werden in alle Freizeitangebote einbezogen, ob im Haus oder bei den Sommerfesten in der weitläufigen Gartenanlage.
Seniorenstiftung Prenzlauer Berg
Die Seniorenstiftung Prenzlauer Berg besteht seit Januar 1996. Sie wurde als erste Stiftung des Landes Berlin ehemals kommunaler Seniorenhäuser eingerichtet und betreibt drei Einrichtungen an zwei Standorten im Stadtteil Prenzlauer Berg: zwei Häuser in der Gürtelstraße und ein Haus in der Stavangerstraße. Das vierte Gebäude wurde im vergangenen Jahr abgerissen und wird derzeit durch einen Neubau ersetzt. Die Stiftung verfügt über insgesamt 449 Plätze für Bewohner aller Pflegestufen und 21 Seniorenwohnungen.
Quelle: Presseveröffentlichung der Seniorenstiftung Prenzlauer Berg vom 16.08.2007 (tB).