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Gewichtsverlust des Neugeborenen nach der Geburt

Sind die Empfehlungen zum Zufüttern überholt?

  • Mehr als 40 Prozent der Babys erhalten bereits in der Klinik Muttermilchersatznahrung1
  • Medela Goldkonferenz: 150 Experten diskutieren den optimalen Stillstart in der Klinik
  • Eine aktuelle Studie2,3 stellt die gängige Lehrmeinung zur Gewichtsentwicklung bei Neugeborenen in Frage
  • Kaiserschnittbabys und späte Frühgeborene bekommen meist zu schnell Säuglingsnahrung1

 

Dietersheim  (23. Oktober 2018) – Eine kürzlich durchgeführte Umfrage unter 400 Müttern im Auftrag des Stillprodukte-Herstellers Medela ergab, dass im Krankenhaus zwar rund 95 Prozent aller Babys mit Muttermilch ernährt wurden, jedoch erhielten mehr als 40 Prozent aller neugeborenen Babys bereits in der Klinik zusätzlich Muttermilchersatznahrung. Frühgeborene Kinder erhielten mit 65 Prozent den höchsten Anteil, wobei auch 37 Prozent aller termingeborenen Babys Formula erhielten. Allen voran Babys, die per Kaiserschnitt auf die Welt kamen.1 Dabei empfehlen internationale und nationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO oder die Nationale Stillkommission am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen.

Auf der Medela Goldkonferenz am 19. Oktober 2018 in Unterschließheim bei München trafen sich rund 150 Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, um zu diskutieren, wie schon in der Klinik der Grundstein für eine lange Stillzeit gelegt werden kann. Besonderes Interesse fanden aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, dass in den ersten Lebenstagen auf Säuglingsnahrung meist verzichtet werden kann.

 

Gewichtsabnahme nach der Geburt muss kein Grund zum Zufüttern sein3

Ein Gewichtsverlust in den ersten Tagen nach der Geburt ist ganz natürlich. Laut geltender Lehrmeinung4,5 sollte er zehn Prozent des Geburtsgewichtes aber nicht überschreiten und spätestens nach zehn bis 14 Tagen muss das Geburtsgewicht wieder erreicht sein. Gelingt das bei Stillkindern nicht, raten Ärzte und Hebammen zum Zufüttern.

Thomas Kühn, Neonatologe, Oberarzt, Neotrainer, Still- und Laktationsberater und Buchautor in Berlin, stellte auf der Medela Goldkonferenz eine Studie aus den USA mit über 160.000 gesunden Säuglingen vor, die zeigt, dass die Sorge um das gesunde Wachstum ausschließlich gestillter Neugeborener in den ersten Tagen oft unbegründet ist.2,3 Fünf Prozent der spontan entbundenen Kinder und zehn Prozent der Kaiserschnitt-Babys hatten zwei Tage nach der Geburt mehr als zehn Prozent abgenommen.2 Ihr Geburtsgewicht hatten 14 Prozent der spontan geborenen Kinder 14 Tage nach der Entbindung noch nicht wieder erreicht. Bei den per Kaiserschnitt entbundenen Kindern erfüllte fast ein Viertel (24 Prozent) diese Erwartung nicht.2 Die Studie zeigt, dass es für gesunde Babys nicht ungewöhnlich ist, wenn sie ihr Geburtsgewicht in der vorgegebenen Zeit nicht wieder erreichen. Fazit der Studienautoren: Eine verzögerte Gewichtszunahme des Kindes sollte für Fachpersonal nicht zwingend der Grund sein, das Zufüttern zu empfehlen. Mütter sollten bei einer langsamen Gewichtszunahme nicht in Panik geraten und das Stillen vorzeitig beenden.3 Dazu Thomas Kühn: „Erreicht ein gesundes Neugeborenes sein Geburtsgewicht nicht innerhalb der empfohlenen Frist von 14 Tagen, sollten wir genau hinschauen, wo die Ursachen liegen. Funktioniert das Stillen und ist das Kind gesund, kann weiter gestillt werden. Ein Zufüttern ist nicht nötig. Voraussetzung für dieses Vorgehen ist dann aber eine engmaschige Kontrolle des Kindes durch den Arzt, eine Hebamme oder Stillberaterin.“

 

Kaiserschnitt – ein Risikofaktor für den Stillerfolg

30,5 Prozent der Kinder kamen in Deutschland im Jahr 2017 per Kaiserschnitt auf die Welt.6 Aktuelle Daten zeigen, dass 61 Prozent der reif geborenen Kaiserschnittkinder in Geburtskliniken Muttermilchersatznahrungen erhalten.1 Ein Grund dafür ist der starke Gewichtsverlust dieser Kinder.2,3 Dr. Bärbel Basters-Hoffmann, Oberärztin am St. Elisabethen-Krankenhaus in Lörrach, erläuterte in ihrem Vortrag zu den Auswirkungen geburtshilflicher Interventionen auf Stillen und Laktation anlässlich der Medela Goldkonferenz: „Im Zuge der geburtshilflichen Interventionen erhalten viele Frauen intravenös Flüssigkeit. Nicht nur bei einer Sectio, sondern auch bei der Gabe von Schmerzmitteln oder zur Stabilisierung des Kreislaufs. Dadurch lagern sowohl Mutter als auch Kind Flüssigkeit ein, die den Stillerfolg beeinflussen kann. Wassereinlagerungen bei der Mutter können beispielsweise das Anlegen des Säuglings erschweren.“

Zu Wassereinlagerungen kann es auch beim Kind kommen. Die Ausscheidung dieser überschüssigen Flüssigkeit kann bei Kindern, die per Kaiserschnitt entbunden wurden, zu einem starken Gewichtsverlust führen: In einer Studie hatten 25 Prozent der Babys nach 72 Stunden mehr als zehn Prozent ihres Geburtsgewichts verloren.2 Dieser hohe Gewichtsverlust ist für Fachpersonal auf Säuglingsstationen oft ein Indikator, um zum Zufüttern zu raten. Auch das stellen neue wissenschaftliche Ergebnisse in Frage: Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Verwendung des 24-Stunden-Gewichts als Grundlage für die Beurteilung des Gewichtsverlustes nach der Geburt keine negativen Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes hat, aber das Zufüttern von Formula deutlich reduziert.7

Ebenso wichtig für den Aufbau einer guten Stillbeziehung ist die Betreuung der Mutter durch eine Hebamme oder Stillberaterin. Dazu Basters-Hoffmann: „Ich würde mir wünschen, dass schon in der Beratung während der Schwangerschaft das frühe Wochenbett einen höheren Stellenwert hätte. Müttern fehlt es an Stillwissen und vor allem die vielen Frauen, die per Kaiserschnitt entbunden wurden, sind oft in ihrem Selbstverständnis als Mutter erschüttert und zweifeln daran, dass sie ihr Kind ernähren können. Dabei ist das Vertrauen der Frau in ihre natürlichen Fähigkeiten und die Kompetenz ihres Kindes zusammen mit einem gelungenen Bonding schon die Grundlage einer erfolgreichen Stillbeziehung.“

 

Späte Frühgeborene brauchen mehr Aufmerksamkeit

Zwei Drittel aller Frühgeborenen werden zwischen der 34. und 37. Schwangerschaftswoche geboren.8 Diese späten Frühgeborenen passen sich nach der Geburt zumeist recht gut an und zeigen ein ausreichend hohes Geburtsgewicht, um auf der normalen Wochenstation betreut zu werden. Die Organe des Kindes, vor allem das Gehirn, sind aber noch nicht voll entwickelt und auch die Energiereserven sind niedriger als bei einem termingeborenen Säugling. Dr. Michael Zeller, Oberarzt an der Kinderklinik Dritter Orden in Passau, stellte auf der Medela Goldkonferenz die Herausforderungen für Fachpersonal und Eltern dar: „Die Kinder wirken auf den ersten Blick wie ein reifes Neugeborenes. Sie zeigen aber ein vollkommen anderes Trinkverhalten: Sie saugen nur kurz an der Brust und machen oft Pausen. Manchmal schlafen sie sogar ein. Schluckgeräusche sind selten zu hören, dafür aber Schmatzen, wenn die Kinder den Saugschluss verlieren. Mütter sind auf dieses Verhalten nicht vorbereitet und geben das Stillen leicht vorzeitig auf. Um das zu vermeiden, benötigen die Frauen eine umfassende Stillberatung. Und die Kinder brauchen sehr viel Aufmerksamkeit, denn sie zeigen nur dezent, wenn sie Hunger haben oder Kontakt suchen.“

Um die Milchbildung anzuregen, ist ein erstes Stillen innerhalb der ersten Stunde nach der Entbindung wichtig. Anschließend sollte in den ersten vier Lebensstunden einmal pro Stunde gestillt oder Muttermilch gegeben werden, später alle zwei bis drei Stunden.9 „Um ein spätes Frühgeborenes bei der Ernährung optimal zu unterstützen, empfehlen wir in den ersten Tagen oder Wochen die Milchbildung durch Abpumpen mit einer elektrischen Milchpumpe oder durch Brustentleerung mit der Hand zu fördern“, erklärt Zeller. Auch sogenanntes Power-Pumping hat sich bewährt: Dabei wechseln sich Brustmassage und zehnminütiges Abpumpen mit einer anschließenden ebenso langen Pause dreimal hintereinander ab. Damit das Stillen langfristig gelingt, empfiehlt Zeller eine intensive Betreuung von Mutter und Kind durch eine Stillberaterin oder Hebamme.

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Abb.: Medela Goldkonferenz

 

Literaturhinweise

  1. Ernährung von Babys, USMedia, Juni 2017.
  2. Flaherman VJ, Schaefer EW, Kuzniewicz MW, Li SX, Walsh EM, Paul IM. Early Weight Loss Nomograms for Exclusively Breastfed Newborns. Pediatrics. 2015; 135(1).
  3. Paul IM, Schaefer EW, Miller JR, et al. Weight Change Nomograms for the First Month After Birth. Pediatrics. 2016; 138(6): e20162625.
  4. S2k-Leitlinie Betreuung von gesunden reifen Neugeborenen, Stand 2012.
  5. Ernährung gesunder Säuglinge. Empfehlung der Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Monatsschr Kinderheilkd 2014, 527–538; DOI 10.1007/s00112-014-3129-2
  6. https://www.aerztezeitung.de/panorama/article/971740/statistik-2017-viele-babys-erblickten-licht-welt.html?wt_mc=nl.upd.AEZ_NL_NEWSLETTER.2018-09-18.Panorama.x
  7. Deng X. et al. Using 24-Hour Weight as Reference for Weight Loss Calculation Reduces Supplementation and Promotes Exclusive Breastfeeding in Infants born by Cesarean Section. Breastfeed Med, 2018; 13(2): 128-134. doi: 10.1089/bfm.2017.0124
  8. Köster H.R. Das späte Frühgeborene: eine Herausforderung in der Stillberatung. Die Hebamme 2014; 27: 246–251.
  9. Walker M. Breastfeeding Management for the Clinician – Using the evidence, Jones & Bartlett Learning, 3. Aufl. 2014.

 

 

Weitere Informationen

 

 


Quelle: Medela, 23.10.2018 (tB).

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