„Gott und die Welt“

Religion in der Gesellschaft – mehr als Spezialistin für Transzendenz?

Frankfurt am Main (5. Juli 2016) – In einem Aphorismus Friedrich Nietzsches ruft ein „Gottsucher“ aus: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ Das war vor mehr als 130 Jahren. Heute leben wir in einer säkularen Gesellschaft mit immer weniger Kirchenmitgliedern, doch noch immer gibt es viele Anlässe, bei denen Gottesdienste zum großen öffentlichen Ereignis werden und als besonders angemessener Ausdruck kollektiver Gefühle und Stimmungen empfunden werden. Religion und Gesellschaft – das gehört offenbar zusammen. Welche Bedeutung hat Religion und welche Rolle spielt sie in der Gesellschaft?

Darüber sprach der Philosoph Dr. Rolf Wiggershaus, der seit Jahren u.a. als Dozent an der Universität des 3. Lebensalters der Goethe-Universität tätig ist, mit vier Professoren eben dieser Universität: mit dem Religionsphilosophen Thomas M. Schmidt und dem katholischen Theologen Knut Wenzel sowie mit den Soziologen Ferdinand Sutterlüty und Richard Traunmüller.

Gefragt nach einer Definition von Religion, gibt keiner der vier Experten traditionelle Antworten wie das Versprechen einer jenseitigen Gerechtigkeit als Ausgleich für diesseitige Ungerechtigkeit. Ihre Definitionen fallen allgemeiner aus. Religion sei „die Spezialistin für Transzendenz“, schaffe „Distanz zur empirischen Welt“, sei eine „Antwort der Gesellschaft“ auf die Frage nach dem „Sinn des Ganzen“, gebe sich „nicht mit der Immanenz des Hier und Jetzt zufrieden“.

Was bedeutet das für die Gesellschaft? Zum Hier und Jetzt gehören Einwanderung und Migration, zunehmender religiöser Pluralismus und stärkere Sichtbarkeit religiöser Minderheiten, eine wachsende Zahl Konfessionsloser und eine Zunahme religiöser Konflikte. „Momentan“, so der Soziologe Richard Traunmüller, „scheint die dominante Lesart zu sein, dass man sagt: Religion ist ein Konflikterzeuger oder Konfliktverstärker.“ Aber zunächst einmal gelte es festzustellen: Religion hat eine „unglaubliche Katalysatoreigenschaft“. Das bedeute nicht, dass Unterschiede religiöser Art besonders konfliktträchtig sind. Schon kleinste Unterschiede wie das Tragen von T-Shirts unterschiedlicher Farbe können eine extreme Konfliktdynamik in Gang setzen. Für die Verstärkung solcher Prozesse allerdings lässt sich die spezifische Katalysatoreigenschaft von Religion leicht instrumentalisieren. Traumüller betont aber auch, dass religiöse Überzeugungen Menschen ebenso zu ungewöhnlichen Taten positiver Art motivieren können, etwa zum Aufstand gegen repressive Regime oder zum Einsatz für Schwächere.

Genau hinsehen muss man auch beim Thema “religiöse Vielfalt“. Ob sie den sozialen Zusammenhalt gefährdet oder den Sinn für Religionsfreiheit stärkt – das hängt unter anderem von der Zahl religiöser Gemeinschaften und den Größen- und Machtverhältnissen zwischen ihnen ab. Traunmüller hat unter anderem den Religionsmonitor 2013 der Bertelsmann-Stiftung für 13 europäische und außereuropäische Länder ausgewertet. Danach waren gerade bei Einwanderern und Angehörigen religiöser Minderheiten interreligiöse Kontakte besonders ausgeprägt und ergab sich gerade für Deutschland wenig Grund zur Furcht vor religiösen Parallelgesellschaften.

Die Zunahme religiöser Diversität bedeutet in säkularen Gesellschaften auch eine Zunahme von Ungläubigen. Alexis de Tocqueville meinte Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner Studie “Über die Demokratie in Amerika“, irgendein Glaube, und sei es die Seelenwanderungslehre, schütze besser vor einer Verrohung der Bürger als gar keiner. Besser, jemand glaubt, die Seele werde sich in ein Schwein verwandeln, als dass er überhaupt nicht an eine Seele glaubt. Noch heute gilt in den USA die Zugehörigkeit zu irgendeiner Religionsgemeinschaft als Beweis einer gewissen Grundmoralität. Auch da gilt es wieder, genau hinzusehen: Wie Menschen sich moralisch verhalten, so Traunmüller, hängt von dem Umfeld ab, in dem sie sich bewegen. Außerhalb eines katholischen Milieus wird ein Katholik sich anders verhalten als innerhalb. In einer pluralen Gesellschaft, in der es Religiöse mit Angehörigen anderer Religionen und mit Nicht-Religiösen zu tun haben, dürften letztere nicht weniger Vertrauen verdienen als Gläubige, wenn es um die moralische Qualifikation für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt geht.

Der katholische Theologe Knut Wenzel befürwortet einen Säkularisierungsprozess, der nicht von Religion befreit, sondern zur Freiheit führt, „sich religiös oder nicht-religiös bestimmen zu können“. Er plädiert für eine Neudefinition des Verhältnisses von Moderne und Religion. „Die Religion kann das, was in der Dynamik der Modernisierung zu kurz kommt, thematisieren und so als Diskursbegleiterin der Moderne für eine prinzipielle Offenheit sorgen.“ Er erläutert das durch ein Beispiel: das Obdachlosenprojekt der Kapuziner am Liebfrauenberg gleich neben der Frankfurter Zeil – eine, wie er sagt, „schöne Alteritätsunterbrechung einer sonst selbstvergessenen konsumistischen Welt“.

Skeptischer im Hinblick auf ein Zusammenspiel von Religion und Moderne ist der Soziologe Ferdinand Sutterlüty. Man könne eine ganze Geschichte der Religion schreiben, wonach sie sowohl die „Mutter der sozialen Resignation“ wie die „Mutter des sozialen Protestes“ sei. Gegenwärtig machten Kirchen sich zumindest in Europa kaum noch mit einer eigenen gesellschaftspolitischen Position bemerkbar. „Was wollen Sie in einer modernen Gesellschaft mit so unterschiedlichen Sphären, sozialen Gruppierungen und Konfliktlagen mit christlicher Nächstenliebe anfangen? Religiöse Gemeinschaften müssten erst einmal fähig werden, entsprechende Differenzierungen vorzunehmen.“

Der Interviewer der vier Professoren, Dr. Rolf Wiggershaus, gab seinem Beitrag den Zitat-Titel „…eigentlich erstaunlich, wie wenig die Religionen aus ihrer Distanz zur existierenden Gesellschaft machen“. Dieses Erstaunen bemerkte Wiggershaus bei allen vier Professoren.


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Quelle: Goethe-Universität Frankfurt am Main , 05.07.2016 (tB).

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