IQWiG: Nutzen von Memantin bei Alzheimer Demenz ist nicht belegt

Daten aus bisher durchgeführten Studien sind noch immer nicht vollständig verfügbar

 

IQWiGBerlin (10. September 2009) – Es gibt keine wissenschaftlichen Belege, dass Patientinnen und Patienten mit einer mittelschweren oder schweren Alzheimer Demenz von Medikamenten profitieren, die den Wirkstoff Memantin enthalten. Zu diesem Ergebnis kommt der Abschlussbericht, den das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) am 10. September 2009 veröffentlicht hat.
Der Bericht ist Teil eines umfassenden Auftrags des Gemeinsamen Bundesausschusses (G BA), medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapiemöglichkeiten für Alzheimer Demenz zu bewerten. Neben Memantin hat das IQWiG Cholinesterasehemmer, Ginkgo biloba sowie nichtmedikamentöse Therapiealternativen geprüft. Eine zweite Pressemitteilung, die diese Ergebnisse in einen Gesamtzusammenhang stellt, finden Sie hier.

Memantin soll Glutamat-Überschuss regulieren

Zugelassen ist Memantin für mittelschwere bis schwere Alzheimer Demenz, nicht jedoch für das als "leicht" bezeichnete Stadium der Erkrankung. In Deutschland wird Memantin unter den Handelsnamen "Axura" und "Ebixa" von den Firmen Merz beziehungsweise Lundbeck vertrieben.

Memantin soll verhindern, dass ein Überschuss des Stoffes Glutamat das Gehirn schädigt. Glutamat ist ein sogenannter Neurotransmitter, also ein Stoff, der die Nervensignale überträgt. Aus Tierexperimenten schließt man, dass bei Alzheimer-Patienten ein dauernder Überschuss an Glutamat vorliegen könnte, der dazu führt, dass Nervenzellen absterben. Memantin soll dies verhindern, ohne die normale Übertragung von Nervensignalen zu stören.

Der Wirkstoff wurde bereits vor Jahrzehnten entwickelt und bei anderen Erkrankungen wie beispielsweise Parkinson verordnet. Bei Alzheimer Demenz ist Memantin seit 2002 im Einsatz.

Studien mit knapp 2.000 Teilnehmern in Bewertung einbezogen

Gesucht haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Studien, die für Patienten und ihre Angehörigen maßgebliche Therapieziele untersucht haben: So genannte kognitive Fähigkeiten (z.B. Erinnerungsvermögen) und Alltagskompetenz (z. B. bei der Körperpflege) gehören ebenso dazu wie psychische Begleiterscheinungen (z. B. Depression, krankhafte Unruhe), Lebensqualität und die Vermeidung der Aufnahme in ein Pflegeheim.

In die Bewertung einbeziehen konnte das IQWiG 7 Studien, in denen insgesamt 1913 an Alzheimer Demenz Erkrankte über einen Zeitraum von 16 bis 28 Wochen mit Memantin behandelt wurden. Bei 5 dieser Studien hatten die Probandinnen und Probanden ausschließlich Memantin bekommen (Monotherapie), bei den 2 übrigen war der Wirkstoff ergänzend zu einer bestehenden Therapie mit einem Cholinesterasehemmer, als sogenanntes Add-on, verabreicht worden. Verglichen wurde jeweils mit einer Kontrollgruppe, in der die Patientinnen und Patienten ein Scheinmedikament einnahmen. Verwertbare Studien, die Memantin mit einem anderen Arzneimittel gegen Demenz oder einer nichtmedikamentösen Therapie verglichen, gibt es bislang keine.

Es gibt 2 weitere relevante Studien des Herstellers, die jedoch nicht in die Bewertung einfließen konnten, weil nicht alle dazu nötigen Daten zur Verfügung gestellt wurden.

Nur minimale Unterschiede bei Kognition und alltagspraktischen Fähigkeiten

Um alltagspraktische Fähigkeiten und kognitive Leistungsfähigkeit zu messen, wurden in den Studien Punkteskalen eingesetzt. Die Werte auf der jeweiligen Skala wurden ermittelt, indem Betroffene beispielsweise Merkfähigkeits-Tests absolvierten. Oder Patienten beziehungsweise ihre Angehörigen wurden befragt, wie sich die Krankheits-Symptomatik verändert und der Alltag bewältigt wird. Allerdings bedeutet nicht jede Veränderung auf einer solchen Skala, dass sich der Krankheitszustand der Patienten tatsächlich verbessert oder verschlechtert. Wie die Auswertung der Studienergebnisse zeigt, gibt es bei diesen beiden Zielgrößen zwar Unterschiede zwischen den Gruppen, allerdings sind diese minimal. Sie werden zudem durch die Unvollständigkeit der Daten in Frage gestellt. Es ist deshalb zweifelhaft, ob Betroffene oder Angehörige diese Unterschiede überhaupt als Vorteil wahrnehmen können.

Einen Nutzen-Nachweis hätte der Hersteller aber auch durch eine sogenannte Responder-Analyse erbringen können. Dabei wird geprüft, ob es in der Memantin-Gruppe mehr Patienten spürbar besser ging als in der Placebo-Gruppe. Eine verlässliche Responder-Analyse wurde jedoch vom Hersteller nicht vorgelegt. Insgesamt sieht das IQWiG daher bei alltagspraktischen Fähigkeiten und bei der kognitiven Leistungsfähigkeit keine Belege für einen Nutzen von Memantin.

Keine verlässlichen Daten zu Lebensqualität und Bedarf stationärer Pflege

Nicht für alle Therapieziele waren den einbezogenen Studien gesicherte Informationen zu entnehmen: Zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität der Patienten liegen keine Daten vor, weil sie in Studien nicht erhoben wurden. Allerdings gibt es bislang auch kaum geeignete Instrumente, um Lebensqualität bei dieser Erkrankung abzubilden.

Ob Patienten in vollstationäre Pflege aufgenommen werden mussten, wurde in Studien zwar erfasst, die Ergebnisse sind aber nicht verlässlich. Somit bleibt unklar, ob Memantin einen Einfluss darauf hat, wie lange Menschen mit Demenz noch zu Hause gepflegt werden können.

Daten zu Begleitsymptomen nicht verfügbar

Erhoben und berichtet wurden Angaben zu den begleitenden psychopathologischen Symptomen wie Depressionen, Schlafstörungen oder starke Unruhe. Allerdings dokumentieren die Studien keinen Unterschied zwischen den mit Memantin und den mit einem Scheinmedikament behandelten Patientinnen und Patienten.

Ebenfalls keinen Unterschied fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Hinblick auf die Sterblichkeit. Hier gibt es allerdings auch nur wenige Informationen, da die Studien nicht auf diese Fragestellung ausgerichtet waren.

Memantin birgt keine auffälligen Arzneimittel-Risiken

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Memantin-Gruppe brachen die Studien nicht häufiger aufgrund von unerwünschten Wirkungen ab als in der Placebo-Gruppe. Auch bei der Zahl der Patienten mit (schweren) unerwünschten Wirkungen zeigte sich kein Unterschied. Somit ergaben sich für Memantin keine auffälligen Arzneimittel-Risiken. Allerdings lief die längste Studie nur über 28 Wochen, weshalb über langfristige Auswirkungen keine Aussagen möglich sind. Zudem war die Zahl der Probandinnen und Probanden insgesamt zu niedrig, um mögliche seltene Nebenwirkungen erfassen zu können.

Auch Angehörige scheinen nicht zu profitieren

Das IQWiG hat nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch ihre Angehörigen in den Blick genommen. Allerdings lieferten die Studienergebnisse keine Belege, dass Memantin sie entlastet, etwa indem die medikamentöse Therapie den Pflegebedarf oder die emotionale Belastung verringert. Die Lebensqualität der betreuenden Angehörigen hat keine der eingeschlossenen Studien als Zielgröße definiert. Der Betreuungsaufwand wurde zwar in den meisten Studien erhoben, die Daten wurden jedoch größtenteils von den Herstellern nicht zur Verfügung gestellt. Die vorliegenden Ergebnisse sind deshalb nicht verlässlich interpretierbar.

Abschlussbericht berücksichtigt zusätzliche, bislang unveröffentlichte Daten

Für den Abschlussbericht standen dem IQWiG und seinen externen Sachverständigen deutlich mehr Daten zur Verfügung als noch beim Vorbericht, in den lediglich 4 Studien mit insgesamt 1.263 Patienten hatten einfließen können. Denn im Zuge des Stellungnahmeverfahrens hatten die Hersteller bislang unveröffentlichte Studienauswertungen nachgereicht: Weil in den Studien Memantin zum Teil – aus heutiger Sicht – nicht zulassungskonform auch bei Patienten mit geringem Schwergrad eingesetzt worden war, hat die Firma Merz Subgruppenanalysen zu Teilnehmern mit mittelschwerer und schwerer Alzheimer Demenz für den Abschlussbericht zur Verfügung gestellt.

Dennoch bleibt auch die Datenbasis des Abschlussberichts unvollständig. Noch immer fehlen maßgebliche Informationen zu zwei weiteren klinischen Vergleichen mit insgesamt 580 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.

Im Unterschied zum Vorbericht stellt das IQWiG den Abschlussbericht dennoch nicht unter einen Vorbehalt. Denn die wenigen, u. a. bei Kongressen veröffentlichten Informationen über diese beiden Studien lassen vermuten, dass die minimalen Effekte bei der Kognition und den alltagspraktischen Fähigkeiten unter Einbezug der fehlenden Daten noch geringer ausfallen würden. Am Gesamtergebnis, dem Fehlen eines Nutzen-Belegs, würde sich nichts ändern.

Weitere Forschung nötig

Nach Auffassung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist die Studienlage bei Memantin insgesamt noch unzureichend. Was fehlt, sind Studien mit längerer Laufzeit, die es ermöglichen, die langfristigen Auswirkungen einer Memantin-Therapie einzuschätzen. Forschungs-Defizite gibt es auch in Hinblick auf Patienten, die in Pflegeeinrichtungen leben und unter den für die Altersgruppe typischen Begleiterkrankungen leiden. Nicht auszuschließen ist, dass Memantin bei einigen Patientengruppen besser wirkt.

"Solange nicht wissenschaftlich erwiesen ist, dass Therapien Patienten oder Betreuern einen spürbaren Vorteil bringen, ist es kaum zu rechtfertigen, sie weiterhin auf Kosten der Solidargemeinschaft zu verordnen", kommentiert IQWiG-Leiter Peter Sawicki. "Es gibt immer mehr alte Menschen und damit wächst auch das medizinische und soziale Problem, das mit der Alzheimer-Erkrankung einher geht. Ich glaube nicht, dass es dafür in absehbarer Zeit eine einfache Lösung geben wird. Deshalb kommt es jetzt darauf an, die Patientinnen und Patienten sozial und pflegerisch besser zu betreuen und Angehörige zu entlasten. Und hier ist das Geld sicherlich besser ‚investiert‘ als in Medikamenten, von denen wir nicht wissen, ob sie tatsächlich etwas nutzen."

Zum Ablauf der Berichtserstellung

Die vorläufigen Ergebnisse, den sogenannten Vorbericht, hatte das IQWiG im August 2008 veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Nach dem Ende des Stellungnahmeverfahrens wurde der Vorbericht überarbeitet und als Abschlussbericht im Juli 2009 an den Auftraggeber versandt. Eine Dokumentation der schriftlichen Stellungnahmen sowie ein Protokoll der mündlichen Erörterung werden in einem eigenen Dokument zeitgleich mit dem Abschlussbericht publiziert. Der Bericht wurde gemeinsam mit externen Sachverständigen erstellt.

 


 

Quelle: Pressemitteilung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vom 10.09.2009 (tB).

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