Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP)

Jugendgewalt hat viele Wurzeln

 

Berlin (7. Juli 2008) – Die aktuelle Diskussion über gewalttätige und kriminelle Jugendliche wird mit dem Schwerpunkt einer Verschärfung des Strafrechts sowie der Einrichtung von Jugendcamps geführt. Vor diesem Hintergrund hat die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) eine aktuelle Stellungnahme veröffentlicht. Darin heißt es weiter: "Auch wenn die abschreckende bzw. erzieherische Wirkung dieser Maßnahmen höchst umstritten und empirisch in keiner Weise belegt ist, scheinen solche wenig fundierten Lösungen verlockend. Vergessen wird bei den Überlegungen, dass umfassende wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse zur Entstehung, Prävention und zum Verlauf aggressiven und dissozialen Verhaltens vorliegen."

 

Für die DGKJP beginnen diese Störungen überwiegend bereits in der Kindheit bzw. im frühen Jugendalter und umfassen ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Reaktions- und Verhaltensweisen wie hohe Impulsivität, Wutanfälle, Zerstören von Dingen und Gewalt gegen Personen. In der Stellungnahme der DGKJP wird keineswegs geleugnet, dass diese Kinder in Familien aufwachsen, in denen häufig Gewalterfahrungen an der Tagesordnung sind, wenig soziale Unterstützung besteht und "eine zumeist inkonsistente, wechselnde und emotional vernachlässigende Erziehungshaltung zu einem negativen Selbstbild und geringen Problemlösungsstrategien führen". Nach den Erfahrungen der Kinder- und Jugendpsychiater kann man davon ausgehen, dass auch in der Kindheit der Eltern ebenfalls negative Beziehungserfahrungen überwogen. Somit verfügten diese Eltern nur über geringe Erziehungskompetenzen, die es ihnen kaum ermögliche, eine emotional unterstützende Bindung zu ihren Kindern aufzubauen. Nach Auffassung der DGKJP erschweren es gerade diese unsicheren Bindungserfahrungen zum eigenen Kind, positive Kontakte zu knüpfen, so dass diese Kinder bereits vielmehr Ablehnung als Zuneigung erfahren und sehr früh spüren, dass sie Anforderungen nicht gerecht werden können.

 

Weiter heißt es in der DGKJP-Stellungnahme: "Hinzutreten Entwicklungsstörungen und -verzögerungen, etwa der Sprache und der Motorik sowie psychische Symptome, wie ein hyperaktives impulsives abgelenktes Verhaltensmuster, dass den Kindern ihre Integration in den sozialen Alltag erschwert. So scheitern sie schon früh und können ihre Emotionen schlecht regulieren. Biologische Risiken ergeben sich aus frühen Gewalt und Vernachlässigungserfahrungen, die sich negativ auf die Hirnentwicklung und die kognitive sowie emotionale Entwicklung auswirken. Damit starten diese Kinder unter erschwerten Bedingungen ihre Schulkarriere. Das Zusammenwirken von Teilleistungsstörungen, mangelnder sozialer Unterstützung und frühem impulsivem oppositionellem Verhalten begünstigt einen Verlauf, der direkt in aggressives delinquentes Verhalten hineinmündet und sie hierin regelrecht trainiert."

 

Begleitet werde diese Entwicklung von vielen negativen Rückmeldungen und der täglichen Erfahrung, dass es nur mit aggressiven Mitteln gelinge, die eigenen Interessen gegen eine als überlegen erlebte Umwelt durchzusetzen. Nach Einschätzung der DGKJP sind unter den begleitenden psychischen Schwierigkeiten 20 bis 40 Prozent depressive Störungen, Substanzmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen zu finden. Damit stellen sich Misserfolge in der Schule, soziale Ausgrenzung und der Anschluss an delinquente Gruppen fast zwangsläufig ein. In diesem Kontext bleibe wenig Chance für eine soziale Integration und einen Ausstieg aus dem negativen Kreislauf, der seine Wurzeln bereits im Kleinkindalter habe, so die DGKJP in ihrer aktuellen Stellungnahme zum Thema Jugendgewalt

 

Nach Auffassung der DGKJP müssen sich erfolgreiche Früherkennungs- und Präventionsansätze deshalb an diese früh zu erkennenden Risiken orientieren. Doch daran mangele es in unserer Gesellschaft noch erheblich. Die Gründe dafür seien in einem immer noch mangelnden Problembewusstsein, den Kosten und dem konsequenten und vor allem langfristigen Umsetzen der Maßnahmen zu suchen. Frühwarnsysteme und unterstützende Maßnahmen sollten, so die DGKJP, bereits im Säuglingsalter mit einer Elternberatung von Risikogruppen beginnen, sich im Kindergarten und in der Schule fortsetzen, wobei neben allgemeinen Programmen wie Faustlos oder Triple P beim Vorliegen spezifischer Auffälligkeiten auch gezieltere Präventionsprogramme hilfreich seien, den sonst negativen Verlauf zu verbessern. Weiter heißt es in der Stellungnahme: "Ohne das Problem ‚psychiatrisieren’ zu wollen, muss festgestellt werden, dass viele der betroffenen Jugendlichen einer therapeutischen Unterstützung bedürfen: frühe hyperkinetische Störungen, mangelndes Selbstwertgefühl mit daraus resultierenden Depressionen, Persönlichkeitsstörungen durch frühe Gewalt und Vernachlässigungserfahrungen chronifizieren ohne spezifische therapeutische Maßnahmen und münden fast automatisch in den beschriebenen negativen Kreislauf von Gewalt und Delinquenz. Dies den Familien und betroffenen Jugendlichen anzulasten, greift zu kurz und verweigert ihnen die notwendige Unterstützung und Hilfe."

 

Abhilfe zu schaffen erfordere, so heißt es in der DGKJP-Stellungnahme, ein Umdenken in Politik und Gesellschaft, die sich zwar über aggressive Jugendliche erregten, jedoch kaum bereit seien, Hintergründe und Belastungsfaktoren ernsthaft zu reflektieren. Im O-Ton DGKJP: "Wir wissen heute, dass innerfamiliäre Probleme ungünstige Umweltbedingungen, frühe traumatische Erfahrungen, Temperaments- und Persönlichkeitsfaktoren ausschlaggebend für die Entwicklung aggressiven und antisozialen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen sind. Da helfen keine Umerziehungscamps und Haftstrafen sondern gezielte präventive und therapeutische Maßnahmen mit gestuften Programmen. Entsprechende Konzepte liegen vor, es ist an der Zeit, sie anzuwenden und sich von vordergründigen Erklärungen und kurzfristigen Interventionen zu verabschieden."


Quelle: Presse-Information der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) vom 07.07.2008.

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