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Kinderschützer und Ärzte ziehen Bilanz

Beschneidungsgesetz auf ganzer Linie gescheitert

 

Berlin (12. Dezember 2013) – Ein Jahr nach der Legalisierung von Vorhautamputationen ("Beschneidungen") an Jungen aus jeglichem Grund traten in Berlin sieben Kinderschutzverbände und Ärztevertretungen vor die Presse, um ihre Bedenken zum so genannten Beschneidungsgesetz, zu seiner Anwendung und dessen Folgen zu äußern. Ihr Fazit: Das Gesetz ist auf ganzer Linie gescheitert.

 

Mit dem am 12. Dezember 2012 beschlossenen "Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes" legalisierte der Bundestag vor genau einem Jahr Vorhautamputationen aus jeglichem Grund. In § 1631d BGB wurde festgelegt, dass in Deutschland eine Beschneidung aus jeglichem Grund möglich ist. Voraussetzung für den medizinisch nicht indizierten Eingriff ist allerdings, dass er nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird. Auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen dürfen, ohne Arzt zu sein, in den ersten sechs Monaten nach der Geburt eines Kindes eine Vorhautentfernung vornehmen.

Die Bundesregierung wollte mit dem Gesetz bestehende Rechtsunsicherheiten beseitigen. Aus Sicht von MOGiS e.V. – Eine Stimme für Betroffene, TERRE DES FEMMES, (I)NTACT, pro familia Niedersachen, dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie ist dieses Vorhaben jedoch gescheitert. Ihre Bilanz nach einem Jahr Beschneidungsgesetz ist negativ. Christian Bahls, 1. Vorsitzender von MOGiS e.V. – Eine Stimme für Betroffene, erklärte im Rahmen der Pressekonferenz: "Zur Behauptung, das Gesetz stelle alle Beteiligten zufrieden, kann ich Ihnen versichern, dass dies bei den Betroffenen bestimmt nicht der Fall ist." Er verwies zudem darauf, dass die Legalisierung nichttherapeutischer Vorhautamputation an Jungen aus jeglichem Grunde von verschiedenen namhaften Strafrechtlern als verfassungswidrig angesehen wird.

Die Verbände missbilligen aber nicht nur die fehlende Rechtssicherheit. Sie machen auch darauf aufmerksam, dass die wenigen überhaupt im Gesetz vorgeschriebenen Bedingungen oft nicht eingehalten werden. "Von einer Rechtssicherheit für Betroffene kann nicht die Rede sein", so Bahls. "Gerade mit Blick auf ein jüngst in Berlin eingestelltes Verfahren wegen einer rituellen Beschneidung drängt sich der Eindruck auf, der Gesetzgeber hätte in fahrlässiger Weise auch Hinterhofbeschneidungen erlaubt."

Alle Verbände sehen die Interessen und Rechte durch das Beschneidungsgesetz nicht umfassend beachtet oder geschützt sowie Jungen und Mädchen nicht als gleichberechtigt behandelt. Sie fordern deshalb eine Aufhebung des § 1631d BGB und eine Anerkennung des Rechtes des Kindes auf genitale Selbstbestimmung – und zwar unabhängig von dessen Geschlecht. Die Novelle des Patientenrechtegesetzes mit ihrem Verbot ästhetisch-chirurgischer Eingriffe an Minderjährigen wird als eine Möglichkeit gesehen, die Rechte der betroffenen Kinder entsprechend zu stärken.

Christa Müller von (I)NTACT e.V. – Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen erklärte: "Die erzwungene männliche Beschneidung ist wie die weibliche Genitalverstümmelung ein Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Als Menschenrecht muss dieses für Jungen und Mädchen auf der ganzen Welt uneingeschränkt gelten. Weder religiöse, soziale, noch kulturelle Überzeugungen dürfen die Amputation der männlichen Vorhaut oder der weiblichen Klitoris und der Schamlippen rechtfertigen. Mit der gesetzlichen Erlaubnis der medizinisch nicht indizierten Beschneidung kleiner Jungen in Deutschland wurde ein Einfallstor für die Genitalverstümmelung von Mädchen geschaffen." Müller befürchtet, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis eine Familie nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter die Erlaubnis für die Beschneidung ihrer Tochter in Deutschland vor Gericht erstreitet.

Die Verbände beanstandeten auch, dass kritische Stimmen, insbesondere der von Eingriffen negativ betroffenen Jungen und Männern – wie schon in der Debatte vor dem Gesetzesbeschluss 2012 –, noch immer nicht in notwendigem Maße gehört und in die politische Entscheidungsfindung einbezogen werden. "Wir als Betroffene haben keine Rechte, nicht einmal auf Wiedergutmachung oder Entschädigung", monierte Alexander Bachl, Sprecher des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. – Eine Stimme für Betroffene. Er sagte weiter: "Wir werden als Betroffene entrechtet. Es wird über unseren Kopf hinweg entschieden, dass uns ein wichtiger Teil unseres Körpers genommen wird. Eltern dürfen ihrem Kind nun aus jedem Grund die Vorhaut amputieren lassen." Bachl forderte: "Eine Beschneidung ohne therapeutischen Nutzen kann nur von dem entschieden werden, der sein ganzes Leben mit den Folgen verbringen muss."

Dr. Ulrich Fegeler, Bundespressesprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), sprach sich grundsätzlich gegen die Beschneidung bei Minderjährigen ohne medizinische Indikation aus. Er sagte: "Zirkumzisionen ohne therapeutischen Nutzen dürfen frühestens nach Erreichen der notwendigen Einwilligungs- und Zustimmungsfähigkeit durchgeführt werden. Nur so ist sichergestellt, dass der Betroffene sich der Tragweite dieser Entscheidung bewusst ist." Fegeler weiter: "Voraussetzung ist hier die umfassende Aufklärung des Jugendlichen (ohne Dabeisein der Eltern) über die Folgen der Vorhautentfernung."

Nach Aussage von Prof. Dr. Manfred Gahr, Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ), lehnen auch alle in der DAKJ zusammengeschlossenen Verbände eine nicht medizinisch begründete Beschneidung ab. Das vor einem Jahr verabschiedete Gesetz habe die Situation für die Neugeborenen, Säuglinge, Kleinkinder und Jungen nicht verbessert, sagte er. Mit Verweis auf die Möglichkeit der Vorhautentfernung durch einen nicht-ärztlichen Beschneider machte er auf Probleme aufmerksam. Je jünger ein Kind sei, umso größer seien auch die technischen Schwierigkeiten und die Rate von Komplikationen (mindestens 6%), so Gahr. Ein nicht-ärztlicher Beschneider dürfe keine wirksame Anästhesie durchführen, weder eine Allgemein-Narkose noch eine örtliche Betäubung. Im Ergebnis würden in Deutschland bei Neugeborenen Beschneidungen ohne Schmerzausschaltung vorgenommen werden. "Stellt man sich eine Blinddarmoperation bei Erwachsenen ohne Narkose vor, so sieht man, wie hoch problematisch dieses Vorgehen ist", erläuterte Gahr. Die von den Befürwortern der Beschneidung angeführten medizinischen Vorteile seien keineswegs wissenschaftlich belegt bzw. für Menschen der entwickelten Länder irrelevant.

Der Landesgeschäftsführer von pro familia Niedersachsen, Andreas Bergen, bezeichnete § 1631d BGB als "Eingriff in das Grundrecht von männlichen Kindern und Jugendlichen auf körperliche Unversehrtheit". "Wir halten eine Evaluation dieser Gesetzgebung für unverzichtbar notwendig: Der Gesetzgeber muss zur Kenntnis nehmen, welche Auswirkungen seine Gesetzgebung hat", so Bergen.

Nach Aussage von Irmingard Schewe-Gerigk, Vorsitzende von TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau e.V., widerspricht die jetzige gesetzliche Regelung in Deutschland auch klar den UN-Kinderrechtskonventionen, in denen die Staaten aufgefordert werden, für Kinder schädliche Bräuche abzuschaffen. Menschenrechte sind universell und gelten für Jungen und Mädchen gleichermaßen.

Zusätzlich zur Debatte um tradierte Formen der Vorhautamputationen an Jungen wiesen Betroffenenvertreter auf die immer noch ungewöhnlich hohe Zahl medizinisch begründeter Vorhautentfernungen hin. Victor Schiering, Mitglied des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V. – Eine Stimme für Betroffene, sagte hierzu: "Jungen werden aus allen möglichen Gründen ‚beschnitten‘, manche auch aus fragwürdigen medizinischen Gründen. Wir müssen herausfinden, warum in Deutschland anteilsmäßig so viel mehr Jungen die Vorhaut amputiert wird als zum Beispiel im skandinavischen Ausland." Vielleicht stehe hinter dieser Obsession auf die Beweglichkeit der kindlichen Vorhaut auch die Pathologisierung eines gesunden Zustandes, weil das Wissen über die natürliche Entwicklung der Vorhaut bis zum Ende der Pubertät verloren gegangen sei. "Die Gesellschaft hat hier viel zu lange weggesehen", so Schiering weiter. Zur Entschädigung und Hilfe für die Betroffenen (auch der Erwachsenen) müsse deshalb ein Fonds eingerichtet werden.

 


 

Quelle: MOGiS e.V. – Eine Stimme für Betroffene, 12.12.2013 (tB).

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