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Künstliche Beatmung:
Neue Strategien könnten Tausenden das Leben retten
München (1. September 2008) – Aktuellen Schätzungen zufolge werden in Europa jedes Jahr mehr als 100.000 Patienten mit akutem Lungenversagen intensivmedizinisch behandelt. Müssen Patienten mehrere Tage künstlich beatmet werden, sinkt die Überlebensrate auf unter 50 Prozent. Viele der überlebenden Patienten tragen schwere Lungenschäden davon und leiden ihr Leben lang unter den Folgen. Die behandelnden Ärzte stehen vor einem Dilemma: Viele Details der Lungenfunktion sind nicht bekannt. Eine genaue Steuerung der Beatmung ist daher kaum möglich. Wissenschaftler der TU München und der Universität Freiburg entwickeln nun ein Modell, das die Grundlagen für eine Feinabstimmung der Beatmung schafft und damit vielen Patienten das Leben retten könnte. Als Bild gebendes Verfahren nutzen sie die Neutronentomografie.
In Deutschland benötigen jährlich etwa 16.000 Patienten wegen akutem Lungenversagen (Acute Respiratory Distress Syndrome, ARDS) eine künstliche Beatmung. Hinzu kommen schwere Fälle der chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen (Chronic Obstructive Pulmonary Disease, COPD), typische Raucherkrankheiten. Auch Asthmatiker haben ein erhöhtes Risiko für Lungenversagen. Weitere Ursachen sind Allergien und Antibiotika-Resistenzen, die früher beherrschbare Lungenentzündungen zu lebensbedrohlichen Erkrankungen werden lassen. Die Welt-Gesundheitsbehörde WHO schätzt, dass sich die Anzahl der Fälle von akutem Lungenversagen im Zeitraum von 1990 bis 2020 verdoppeln wird.
Wir versorgen uns mit dem lebenswichtigen Sauerstoff, indem unser Zwerchfell einen leichten Unterdruck erzeugt. Schon drei bis fünf Millibar reichen, um die Luft in unsere Lunge strömen zu lassen. Versagt unsere Lunge, liegt die einzige Überlebenschance in einer sofortigen künstlichen Beatmung. Anders als die natürliche Atmung, erfolgt die künstliche Beatmung mit Überdruck. Nur wenige Sekunden hat der behandelnde Arzt, um anhand von Faustformeln die Ersteinstellung des Beatmungsgeräts fest zu legen. Aus der Anzahl der Atemzüge pro Minute, dem Volumen jedes Atemzugs und dem Minimaldruck (Positive End-Expiratory Pressure, PEEP) stellt er ein Beatmungsmuster zusammen. Referenz sind der Sauerstoff- und der Kohlendioxidgehalt im Blut. Sinkt der Gehalt an lebenswichtigem Sauerstoff ab, so dreht der Arzt weiter auf. Nicht selten wird dabei ein Spitzendruck von bis zu 50 Millibar erreicht.
Weltweit belegen Studien, dass mit einer behutsameren Beatmungsstrategie, der so genannten lungenprotektiven Beatmung, die Überlebenswahrscheinlichkeit wesentlich verbessert werden könnte. "Schon 40 Millibar Druck ist für das Gewebe einer kranken Lunge viel zu hoch. Mit jedem Atemzug wird es überdehnt, das führt zu irreversiblen Schäden," sagt Prof. Dr. Josef Guttmann, Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Atemphysiologie der Freiburger Universitätsklinik. Bisher jedoch gibt es keine zuverlässigen Modelle, nach denen sich der behandelnde Arzt richten könnte. Aus Angst, dass die Lunge bei einem zu geringen Druck kollabieren könnte, wählen viele Ärzte lieber einen höheren Druck und wähnen sich damit auf der sicheren Seite. "Ein Trugschluss," so Guttmann, "es lohnt sich, um jedes Millibar Entlastung zu kämpfen."
Im Rahmen des DFG-Schwerpunkts "Protektive Beatmungskonzepte" entwickelt Guttmann nun zusammen mit Wissenschaftlern der TU München eine Modell basierte Strategie zur schonenden künstlichen Beatmung. Prof. Dr.-Ing. Wolfgang A. Wall am Lehrstuhl für numerische Mechanik arbeitet an der computergestützten Modellierung der Verhältnisse in der Lunge. Dr. Burkhard Schillinger am Instrument ANTARES der Neutronenquelle FRM II liefert die für die Modellierung nötigen Geometriedaten. Zusammen wollen sie aufklären, wie die Mikromechanik der Lunge unter Beatmung genau funktioniert. Etwa 300 Millionen Lungenbläschen mit einer inneren Oberfläche von etwa 100 Quadratmetern sorgen für den Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid zwischen Atemluft und Blut. Doch wie gelangt die Luft dort hin? Welchen Einfluss hat ein erhöhter Druck auf den Gastransport und das Gewebe?
In den Lehrbüchern werden die Lungenbläschen oder Alveolen noch immer als Bläschen gezeichnet. Atmen wir ein, so die gängige Vorstellung, strömt die Luft durch das sich immer feiner verzweigende System der Bronchien bis in die Alveolen, in denen dann der Gasaustausch stattfindet. Erhöht man den Beatmungsdruck, müsste nach diesem Modell mehr Luft in die Lungenbläschen strömen. Doch so einfach ist die Sache nicht: Die Bronchien einer menschlichen Lunge haben bis zu 23 Verzweigungsgenerationen. Die Modellrechnungen zeigen, dass die Atemluft noch etwa bis zur 16. Generation durch Konvektion transportiert werden kann. Danach müsste der Gasaustausch über Diffusion erfolgen. Hier betreten die Forscher absolutes Neuland.
Die feinsten Verzweigungen haben Strukturgrößen im unteren Mikrometer-Bereich. "Hier gibt es kein Bild gebendes Verfahren, das die dynamischen Abläufe bei Ein- und Ausatmung wiedergeben könnte," so Guttmann. "Ohne ein geeignetes Computermodell kommen wir hier nicht weiter." Unter dem Mikroskop können die Wissenschaftler zwar die Strukturen erkennen, doch präparierte Gewebeschnitte geben nicht die tatsächlichen Verhältnisse einer funktionierenden Lunge wieder. Auch Computer-Tomografie mit Röntgenstrahlen führt nicht zum Erfolg. "Röntgenstrahlung sieht vor allem schwere Atome," erläutert Burkhard Schillinger. "Das schwammige Lungengewebe mit seinen dünnen Wänden enthält vor allem Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoffatome. Die feinen Luftkanäle enthalten vor allem Stickstoff und Sauerstoff. Dadurch haben wir zu wenig Kontrast, um wirklich etwas zu sehen." Das ideale Bild gebende Verfahren ist die Neutronen-Tomografie. Neutronen "sehen" leichte Atome wie Wasserstoff besonders gut. Der ist im Gewebe reichlich vorhanden, nicht aber in den Bronchien.
Ihre dynamischen Modelle prüfen die Forscher daher nun anhand von Rattenlungen am Instrument ANTARES des FRM II. Das Instrument wurde eigens für die Neutronen-Tomografie gebaut und ist eines der leistungsfähigsten weltweit. Etwa 400 bis 800 Aufnahmen braucht Burkhard Schillinger für einen vollständigen 3D-Scan. Selbst der hohe Neutronenfluss des FRM II erfordert immer noch Belichtungszeiten von etwa 20 Sekunden pro Einzelbild. "Der FRM II ist das einzige Gerät weltweit, mit dem wir solche Forschung machen können. Bei einem niedrigeren Neutronenfluss wären die Belichtungszeiten so lang, dass das Gewebe bis zum Ende des Scans merklich abbauen würde," erklärt Schillinger. Im Gerät wird die Rattenlunge mit dem zu untersuchenden Beatmungsdruck gefüllt. Die mechanische Abstützung durch den Brustkorb simuliert ein Aluminiumröhrchen. Ändern die Forscher den Druck, ändert sich auch die feine Geometrie. Daraus können die Ingenieure die Elastizität des Lungengewebes errechnen. Und sie können sehen, wo die Grenzen der Elastizität erreicht werden und Schäden zu erwarten sind.
Zu Anfang der Versuche stand Burkhard Schillinger der Idee eher skeptisch gegenüber. "Angefangen haben wir mit Schweinelunge, die wir uns beim Metzger in Garching gekauft haben," erzählt Robert Metzke, der projektverantwortliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Numerische Mechanik. "Als wir dann die ersten Bilder sahen, wussten wir, wir sind auf dem richtigen Weg." Inzwischen können die Wissenschaftler die Verzweigungen der Bronchien bis zur 12. Generation sichtbar machen. Die Weiterentwicklung der Methode scheitert derzeit nur an der Auflösung der Detektoren. Die Neutronen-Tomografie arbeitet mit parallelen Neutronenstrahlen, daher gibt es keine Vergrößerung wie beim Kegelstrahl einer Röntgenröhre. Die Auflösung des Detektors hängt wesentlich von seiner Schichtdicke ab. Inzwischen arbeiten die Wissenschaftler mit eigens für sie angefertigten Detektoren, die eine Schichtdicke von nur 50 Mikrometern aufweisen. Damit erreichen sie eine Auflösung von etwa 40 Mikrometern. Dann ist Schluss. Während der Hersteller nun an noch dünneren Detektoren tüftelt, untersuchen die Wissenschaftler weitere Möglichkeiten zur Kontrasterhöhung.
"Die 3D-Modelle des Instruments ANTARES sind uns eine wichtige Hilfe," bestätigt Prof. Wall. "Das ist unser Abgleich mit der Realität, am lebenden Patienten können wir das ja alles nicht messen." Auch Prof. Guttmann freut sich über die gute Zusammenarbeit: "Es ist bekannt, dass krankes Lungengewebe eine erheblich geringere Elastizität besitzt als gesundes. Je mehr wir über die tatsächlichen Gegebenheiten in der Lunge wissen, desto schonender können wir beatmen." Fernziel ist die Herstellung selbst lernender Beatmungsgeräte, die aufbauend auf den Erkenntnissen der Wissenschaftler den Atemdruck individuell für jeden Patienten auf das notwendige Minimum reduzieren und damit die oft tödlichen Lungenschäden vermeiden.
Weitere Informationen
http://content.nejm.org/cgi/content/full/342/18/1301 – Studie zur schonenden Beatmung
http://www.uniklinik-freiburg.de/anaesthesie/live/Lehre/Beatmung.pdf – Foliensatz zum Thema Beatmung (Uniklinik Freiburg)
Abb. oben: 3D-Neutronentomografie einer Rattenlunge. Bild: Robert Metzke/TUM.
Quelle: Pressemitteilung der Technischen Universität München vom 01.09.2008.