Kürzer im Krankenhaus, kränker zur Reha

Studie zeigt Konsequenzen des Fallpauschalensystems

 

Münster (15. April 2011) – Seit der Einführung des Fallpauschalensystems stieg die Zahl der Patienten, die bei der Aufnahme in die Reha einen deutlich verschlechterten Gesundheitszustand aufweisen. Zu diesem Ergebnis kommt die sogenannte REDIA-Studie. Seit 2004 liegen Patienten in Deutschland kürzer im Krankenhaus als zuvor. Ursache ist das diagnoseorientierte Fallpauschalensystem, das damals verbindlich zur Abrechnung von Krankenhausleistungen eingeführt wurde. Nach diesem System werden Leistungen nicht abhängig vom jeweiligen Zeitaufwand vergütet, sondern pauschal pro Behandlungsfall. Seit der Einführung dieses Systems stieg jedoch die Zahl der Patienten, die bei der Aufnahme in die Reha einen deutlich verschlechterten Gesundheitszustand aufweisen. Zu diesem Ergebnis kommt die sogenannte REDIA-Studie, die seit 2003 in drei Erhebungszyklen unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Wilfried von Eiff vom Centrum für Krankenhaus-Management der Universität Münster durchgeführt wurde. Die vollständigen Ergebnisse der Studie wurden nun als Buch veröffentlicht.

"Die Krankenhäuser haben auf die Einführung des Fallpauschalen-Entgeltsystems erwartungsgemäß reagiert: mit der Durchführung minimalinvasiver Operationen, bei denen der chirurgische Eingriff in den Körper möglichst gering gehalten wird, sowie mit dem Einsatz zeitsparender medizinischer Produkte und der Verkürzung der Akutverweildauer", erklärt Wilfried von Eiff. So sei beispielsweise der stationäre Aufenthalt nach Hüftoperationen von durchschnittlich 17,3 Tagen im Jahr 2003 auf 12,5 Tage im Jahr 2010 gesunken – "alles mit dem Ziel, die Kosten je Patient zu senken". Als Konsequenz sei die Zahl der Patienten gestiegen, die bei Aufnahme in die Reha vermehrt unter Komplikationen leiden sowie einen deutlich verschlechterten Gesundheits- und Mobilitätszustand aufweisen. "REDIA ist die einzige Langzeitstudie, die eine fundierte Aussage über Aufwandsverschiebungen zwischen den Gesundheitssektoren zulässt. Die Ergebnisse haben sowohl medizinisch als auch gesundheitspolitisch betrachtet eine hohe Relevanz", betont Professor von Eiff.

Seit 2003, als das Fallpauschalensystem noch nicht eingeführt war, stieg der Anteil von Hüftpatienten, die wegen Schmerzen und geklammerten Wundnähten in der ersten Woche nicht an der Physiotherapie teilnehmen konnten, von 5,6 Prozent auf 39,4 Prozent. Deutlich nahm auch der Medikationsaufwand in der Rehabilitation zu: Die Verabreichung von Herz entlastenden Nitraten wuchs von 1,2 Prozent (2003) auf 33,3 Prozent (2010), und die Gabe von Schmerzpräparaten zog von 4 Prozent auf 32 Prozent an. Die Einnahme von Blutverdünnern entwickelte sich gar von 3,1 Prozent (2003) auf 57,4 Prozent (2010) bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Wilfried von Eiff führt diese Entwicklung auf mehrere Ursachen zurück: "Zeitsparende Operationstechniken ermöglichen eine kurze Liegezeit im Krankenhaus, machen aber aufwendige Wundversorgung und Schmerztherapien in der Rehabilitation nötig. Außerdem stieg das Durchschnittsalter der Patienten im Untersuchungszeitraum um vier Jahre an, und die Zahl von Begleiterkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck nahm zu." Der Medizin-Ökonom bemängelt: "Ein unzulängliches Verlegungsmanagement führt zu einer Verlängerung der Übergangszeit zwischen der Entlassung aus dem Krankenhaus und der Aufnahme in die Reha-Klinik. Diese häusliche Übergangszeit ist mit therapeutisch und ökonomisch relevanten Risiken verbunden." So werde häufig die Thromboseprophylaxe unterbrochen, und die Wundversorgung erfolge nicht fachgerecht. Im Jahr 2003 waren beispielsweise 1,8 Prozent der Herz-Kreislauf-Patienten von Komplikationen während der Übergangszeit betroffen, in 2010 zehn Mal so viele.

 

 

Hintergrundinformationen zur Studie

 

Die REDIA-Studie (REDIA steht für REhabilitation und DIAgnosis Related Groups) ist die bislang einzige prospektive Langzeitstudie über die Auswirkungen der Einführung des Fallpauschalen-Systems auf medizinische Leistungsanforderungen und Kosten in der Rehabilitation. Im Fokus der Untersuchung standen der psychische und körperliche Zustand der Patienten sowie der Arbeitsaufwand und die Kosten der Behandlung, die Entwicklung der Vergütung von Reha-Leistungen und die Anreizwirkungen von politischen Eingriffen in das Gesundheitssystem. Insgesamt wurden Daten von 2.290 Patienten in 27 ausgewählten stationären und ambulanten Reha-Einrichtungen erfasst. Darunter waren 956 Kardiologie-Patienten in akuter Anschlussrehabilitation nach Bypass-Operationen und Herzinfarkten sowie 1.334 Orthopädie-Patienten, die ein künstliches Hüft- oder Kniegelenk erhalten hatten beziehungsweise eine Bandscheiben-Operation hinter sich hatten.

Die medizinischen Patientendaten wurden über Fragebögen durch die behandelnden Ärzte erhoben. Die Daten zur persönlichen Befindlichkeit wurden bei Aufnahme der Patienten in die Reha sowie sechs Monate nach Entlassung abgefragt. Die Auswahl der Patienten erfolgte zufällig, sodass sowohl Patienten der Rentenversicherung als auch der gesetzlichen Krankenversicherung repräsentiert sind. Die darüber hinaus durchgeführte Strukturerhebung in Verbindung mit einer Mitarbeiterbefragung machte die Veränderungen im Arbeitsaufwand, in der Organisation sowie in der baulichen und technischen Ausstattung transparent.


Literaturhinweis

 

  • Wilfried von Eiff, Stefan Schüring, Christopher Niehues
    REDIA: Auswirkungen der DRG-Einführung auf die medizinische Rehabilitation. Ergebnisse einer prospektiven medizin-ökonomischen Langzeitstudie 2003 bis 2011. LIT Verlag Münster, Reihe: Münsteraner Schriften zu Medizinökonomie, Gesundheitsmanagement und Medizinrecht, ISBN 978-3-643-11095-4.

 

 

Weitere Informationen

 

http://www.wiwi.uni-muenster.de/ikm/organisation/mitarbeiter/von_eiff.html – Prof. von Eiff

 


 

Quelle: Westfaelische Wilhelms-Universität Münster, 15.04.2011 (tB).

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