Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie bei Kindern

Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten

 

Von Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert,
Ärztlicher Direktor Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Universität Tübingen

 

Tübingen (15. Juni 2007) – Lippen-Kiefer-Gaumenspalten gehören nach den Gliedmaßenfehlbildungen mit 11 bis15 Prozent den häufigsten angeborenen Fehlbildungen. Sie treten sehr früh in der Entwicklungsphase im Grenzbereich sog. Organisationszentren auf, d.h. an den Grenzen von Zelldifferenzierungszonen des späteren Gesichtes. Die Entstehung liegt in der Zeit des 36. bis 42. Tages bzw. des 49. bis 56./58. Tages der Embryonalentwicklung. In dieser Entwicklungsphase befinden sich im späteren Gesichtsbereich sog. Zellwülste, die normalerweise verschmelzen. Bleibt diese Verschmelzung aus, entsteht dort eine Spaltbildung.

 

Die Ursachen von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind nicht eindeutig geklärt, jedoch ist eine familiäre Häufung, somit eine genetisch fixierte Ursache, gesichert. Dafür spricht auch, dass deutliche Unterschiede in der Häufigkeit von Spaltbildungen zwischen verschiedenen Rassen bestehen. Beispielsweise treten bei nordamerikanischen Indianern oder Ostasiaten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten häufiger aus. Es ist jedoch ebenfalls bekannt, dass auch ohne familiäres Auftreten Spaltbildungen spontan entstehen können.

 

Eine sichere Prophylaxe von Spaltbildungen ist nicht möglich, jedoch gibt es Hinweise aus neueren Studien, dass die Gabe von Vitamin B-Komplex und Folsäure die Rate von Spaltbildungen verringern kann. Eine pränatale Diagnostik im Ultraschall ist etwa ab der 18. Schwangerschaftswoche möglich.

 

Das Erscheinungsbild von Spaltbildungen umfasst Lippenspalten, Lippen-Kieferspalten, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und isolierte Gaumenspalten. Die drei Erstgenannten können ein- oder beidseitig auftreten, ferner sind alle Ausprägungsgrade in der Breite möglich. Ferner treten Spaltbildungen auch als Teil von Syndromen in Kombination mit anderen Fehlbildungen auf.

 

Die Behandlung von Spaltbildungen beginnt grundsätzlich unmittelbar nach der Geburt. Hierbei steht zunächst die Sicherstellung der Ernährung im Vordergrund, zum Beispiel durch die Eingliederung einer Gaumenplatte aus Kunststoff, die das Saugen erleichtert oder auch die Demonstration bestimmter Fütterungstechniken. Die zweite Funktion der Gaumenplatte ist die unblutige Lenkung des Kieferwachstums, da die Kiefersegmente in den ersten Lebensmonaten stark wachsen.

 

Das Wachstum der beteiligten Strukturen ist auch der Grund dafür, dass Spaltbildungen in fast allen Zentren schrittweise verschlossen werden. Grundsätzlich werden Operationen an Weichgeweben, z.B. dem weichen Gaumen oder der Lippe, früher vorgenommen als Operationen an knöchernen Strukturen wie dem harten Gaumen oder dem Kiefer.

 

Für eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ergibt sich folgender exemplarischer Ablauf der operativen Behandlung:

Mit ca. 4 Monaten Verschluss des weichen Gaumens, mit ca. 6 Monaten Verschluss der Lippe, mit ca. 2 Jahren Verschluss des harten Gaumens, mit ca. 8-10 Jahren Knochenanlagerung in die Kieferspalte und nach Wachstumsende Korrektur der begleitenden Nasendeformität, da bei Lippenspalten auch immer die Nase mitbeteiligt ist.

 

Parallel erfolgt in einer fachübergreifenden, gemeinsam abgehaltenen Sprechstunde mit Kieferorthopädie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde mit Phoniatrie und Logopädie die Überwachung der Sprech- und Sprachentwicklung, des Hörvermögens, des Kieferwachstums und des Zahndurchbruchs. Dabei werden auch die jeweils erforderlichen Begleitmaßnahmen, wie Behandlung einer spaltbedingten Mittelohr-Schwerhörigkeit, kieferorthopädische Behandlung oder logopädische Behandlung in die Wege geleitet, um zu einem funktionell und ästhetisch guten Ergebnis zu gelangen.

 

Insgesamt ist bei der Behandlung von Spaltbildungen im Kiefer- und Gesichtsbereich von besonderer Bedeutung, dass die Behandlung in einem spezialisierten, von allen beteiligten Fächern getragenen Zentrum durchgeführt wird, wobei die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie die Koordination übernimmt.

 


Quelle: 13. Presseforum des Informationszentrums Zahngesundheit Baden-Württemberg (IZZ) zum Thema „Zahnmedizin in Theorie und Praxis“ am 15. Juni 2007 in Tübingen.

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