MedInform-Konferenz zur ambulanten Versorgung 2011

„Versorgungsgesetz muss sich am Patienten orientieren und regionale Besonderheiten berücksichtigen“

Berlin (28. Januar 2011) – Das 2011 anstehende Versorgungsgesetz muss sich am Patientenbedürfnis orientieren und Besonderheiten in den regionalen Versorgungsstrukturen berücksichtigen, um eine qualitativ hochwertige und wohnortnahe medizinische Versorgung sicherzustellen. Dafür sprachen sich die Experten der MedInform-Konferenz „Ambulante Versorgung im Spannungsfeld zwischen Qualität, Sparzwang und Ethik“ am 27. Januar 2011 in Berlin aus.

Maik Nothnagel vom Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK) befürchtet, dass ansonsten behinderte Menschen und chronische Kranke nur noch als Kostenfaktor gesehen werden und „unter die Räder geraten“. Joachim Becker vom Bundesgesundheitsministerium betonte, dass die strukturellen Veränderungen keine Leistungsbeschränkungen und keine Leistungskürzungen beinhalten würden. DKG-Hauptgeschäftsführer Georg Baum plädierte dafür, Synergien zwischen den Krankenhäusern und dem ambulanten Bereich zu nutzen, insbesondere bei der fachärztlichen Versorgung in der Fläche. Während Dr. Bärbel Grashoff, Fachärztin für Frauenheilkunde und Medi-Vorstand, in der Kostenerstattung mit sozial verträglichem Selbstbehalt die Lösung sieht, riet DAK-Chef Prof. Dr. Herbert Rebscher genau von diesem Weg ab. Der Kassenmanager sprach sich für mehr Versorgungsforschung aus, um im Versorgungsalltag den Nutzen von neuen Produkten nachzuweisen. Nur dann sei es eine echte Innovation. Berater Dr. Michael C. Müller von Cepton ging genau auf diesen Aspekt ein und sieht es als große Herausforderung für die Unternehmen, künftig besser zu kommunizieren, welchen Nutzen ein neues Produkt für den Patienten hat. Dafür müssten frühzeitig entsprechende Daten generiert werden.

Einen Einblick in die aktuellen und angedachten Gesetzesänderungen gab Ministerialrat Joachim Becker, Leiter der Unterabteilung Krankenversicherung im Bundesgesundheitsministerium (BMG). Bei den „schrittweisen Weichenstellungen“ handelt es sich um das GKV-Finanzierungsgesetz und die Neuordnung des Arzneimittelmarkts durch das AMNOG aus dem Jahr 2010 sowie das geplante Versorgungsgesetz und die Pflegereform, die 2011 auf der Agenda stehen. Hinzu kommt ein Artikelgesetz zur Verbesserung der Krankenhaushygiene. Becker betonte, dass die strukturellen Veränderungen keine Leistungsbeschränkungen und keine Leistungskürzungen beinhalten würden. Das BMG werde zusammen mit den Ländern eine Kommission zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung einrichten. Der Zeitplan sehe den Abschluss voraussichtlich bis April 2011 vor. Zu den Vorschlägen gehört eine Berücksichtigung besonderer regionaler Versorgungsbedarfe bei der Bedarfsplanung, Sicherstellungszuschläge für Vertragsärzte in unterversorgten Gebieten und die Abschaffung der Mengensteuerung in unterversorgten Gebieten oder eine stärkere Einbeziehung der stationären Angebote in die Bedarfsplanung. Die Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung müsse weiterentwickelt werden. Der gemeinsame Zeitplan der Koalition sieht vor, dass das Versorgungsgesetz am 1. Januar 2012 in Kraft treten soll.

Maik Nothnagel, Sozialpolitischer Referent des Bundesverbands Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK) und langjähriger Landtagsabgeordneter in Thüringen, bewertete das Gesundheitssystem aus Sicht der Patienten. Er begann mit einem negativen Beispiel des Umgangs einer Krankenkasse mit behinderten Menschen, die auf Hilfsmittel angewiesen sind. Das Gesundheitssystem brauche deshalb unbedingt den mündigen Patienten, „sonst kommt er unter die Räder“, so Nothnagel. Der Patientenvertreter forderte eine verbesserte Kommunikation durch eine patientengerechtere Sprache, weniger Bürokratie durch vereinfachte Antragsverfahren, kürzere und direktere Wege durch eindeutige Verantwortlichkeiten und einen Ansprechpartner sowie individuelle Beratung und Versorgung. Sein Appell: „Das Gesundheitssystem muss sich an den individuellen Lebensbedingungen der Patienten orientieren!“ Medizin und Verwaltung müssten den Patienten mehr als Partner sehen und „sich endlich von dem vorherrschenden negativen und defizitären Behindertenbild lösen“. Das deutsche Gesundheitssystem stehe dem selbstbewusst auftretenden Patienten nach wie vor entgegen. Nothnagel forderte einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Bundesregierung. Erforderlich sei eine Abkehr vom medizinischen Modell hin zum sozialen Modell im Umgang mit Behinderten. Der behinderte Mensch und chronisch Kranke sei sein eigener Gesundheitsexperte. Das müsse anerkannt werden.

Georg Baum, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), ging auf das anstehende Versorgungsgesetz 2011 aus Sicht der Krankenhäuser ein. Ziel müsse es sein, Synergien besser zu nutzen, um die flächendeckende medizinische Versorgung sicherzustellen. Der Krankenhausbereich müsse dabei mit seinem ambulanten Potential in die Überlegungen einbezogen werden. Die sektorenübergreifende Versorgung sei in Teilen bereits Realität, so Baum. Einige Kennzahlen: 20 Millionen ambulante Behandlungskontakte im Jahr an Krankenhäusern, 6 Millionen ambulante Operationen, 6.000 Belegärzte, 1.500 MVZs, davon ein Drittel Klinik-MVZs. Krankenhäuser dürften nicht nur als Lückenbüßer angesehen werden, wenn es Probleme im ambulanten Bereich gibt. „Wir brauchen vom Gesetz stabile Bedingungen für die Investitionen der Krankenhäuser“, so der DKG-Hauptgeschäftsführer. Baum betonte die Rolle der Krankenhäuser bei der Sicherstellung des Versorgungsauftrages. Die Krankenhäuser seien und bleiben in der Fläche vertreten – auch dort, wo Arztpraxen bereits ausgedünnt sind. Baum plädierte dafür, die restriktiven Zulassungsbedingungen im ambulanten Bereich aufzubrechen. Die Bedarfsplanung mache für die Haus- und Fachärztliche Grundversorgung Sinn. Die spezialfachärztliche Versorgung könne aber ohne Bedarfsplanung und Zulassungsbeschränkungen flexibler organisiert werden. Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte sollten hier gleiche Bedingungen haben. Das könne Synergien erzeugen: bei der Nutzung von Ressourcen, Kapazitäten und Investitionen. Die ambulante Versorgung sei für die Krankenhäuser ökonomisch aber sehr wenig bedeutend und damit kein zusätzliches Standbein.

Dr. Bärbel Grashoff, Fachärztin für Frauenheilkunde aus Ulm und Mitglied des geschäftsführenden Vorstands von MEDI Baden-Württemberg, beschrieb die negative Ist-Situation im ambulanten Bereich. Es gebe ein intransparentes Vergütungssystem mit keinerlei Planungssicherheit. Im ländlichen Raum gebe es Engpässe, „weil die Vergütung im GKV-System nicht ausreicht, um von einer Praxis zu leben und weniger Privatpatienten zur Quersubventionierung vorhanden sind“. Neben den Vergütungsproblemen durch geringe Regelleistungsvolumen für Fachärzte und Rationierung durch Richtgrößenwerte beispielsweise für Arzneimittel gebe es auch eine überbordende Bürokratie, die sich zu einem ärztlichen Hauptproblem entwickelt habe. Dokumentation, Abrechnungsfragen, Formulare, Beantwortung von Kassenanfragen und Kodierrichtlinien beanspruchten 50 Prozent der Zeit. Als Ausweg sieht Grashoff die Kostenerstattung mit sozial verträglichem Selbstbehalt. Dies sei wirtschaftlich, transparent und berücksichtige die Eigenverantwortung und Mitsprache des mündigen Patienten. Auf dem Weg zu diesem Ideal habe MEDI ein Fünf-Säulen-Modell erarbeitet, bestehend aus Kollektivvertrag, Hausarzt- und Facharztverträge, Kostenerstattung, IGeL und Einzelverträge. Selektiverträge seien eine sinnvolle Alternative zum GKV-System. Dadurch werde die Versorgung regionalisiert und dem Bedarf vor Ort angepasst. Die Erfahrungen in Baden-Württemberg mit den Selektivverträgen seien ebenso wie die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen gut. Die Ärztevertreterin forderte, auf Steuerungsmittel wie „Bedarfsplanung“ oder Stufenversorgung zu verzichten und eine feste Vergütung für Leistungen einzuführen.

DAK-Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Herbert Rebscher stellte den Spagat der Krankenkassen zwischen Versichertenzufriedenheit und Kostendämpfungsdruck im Wettbewerb dar. Man sei für mehr Wettbewerb, müsse aber im Gesundheitssystem beachten, dass manche Instrumente zu Fehlentwicklungen führen könnten. So würde die Einführung von Zusatzbeiträgen dem System eher Geld entziehen. Ein Problem sei, dass 20 Prozent der Versicherten rund 80 Prozent der Kosten verursachen. Das bedeute im Umkehrschluss, dass 80 Prozent der Versicherten kaum Leistungen beanspruchen und sich keine Gedanken darüber machen, über Zusatzangebote gesundheitliche Risiken der Zukunft abzusichern. Deshalb verlassen gerade jüngere Menschen derzeit die Krankenkassen, die Zusatzbeiträge erheben. Eine weitere Problematik sei die Messung des Nutzens. „Unser System ist gut bei der Bewertung der Kosten, aber nicht des Nutzens.“ Voraussetzung für Qualitätssteigerungen sei deren Messung mit den richtigen Instrumenten und den richtigen Fragestellungen. RCT-Studien können die Wirksamkeit einer Leistung messen. Für den Nutzen einer Leistung unter Alltagsbedingungen müsse aber Versorgungsforschung betrieben werden. Rebscher: „Studienergebnisse unter klinischen Bedingungen müssen nichts mit dem Versorgungsalltag zu tun haben. Dafür braucht man die Versorgungsforschung unter Alltagsbedingungen.“ Nach Rebschers Ansicht seien Medizinprodukte erst dann innovativ, wenn sie ein Versorgungsproblem tatsächlich unter Alltagsbedingungen lösen. Das zeige sich aber erst im Verlauf der Anwendung. „Die Wirksamkeit muss zu einem früheren Zeitpunkt nachgewiesen sein. Die eingeführte ‚frühe Nutzenbewertung‘ ist damit eher eine frühere Wirksamkeitsbewertung. Der Nutzen kann erst zu einem späteren Zeitpunkt evaluiert werden“, so der Krankenkassenmanager.

Dr. Michael C. Müller, Geschäftsführender Gesellschafter und Managing Partner von Cepton, beleuchtete die Auswirkungen der aktuellen Rahmenbedingungen auf die Medizinprodukteindustrie und -leistungserbringer. Die Rahmenbedingungen seien durchaus positiv, wenn sich die Unternehmen darauf einstellen, den Nutzen eines neuen Produkts oder Verfahrens zu verdeutlichen und die Chancen in den wachsenden Schwellenländern zu nutzen. Marktzugang dürfe nicht mehr nur auf die regulatorische Seite begrenzt sein. Marktzugang müsse strategisch angegangen werden – als Erfolgsmodell, wenn der Nutzen des neuen Produkts oder Verfahrens entsprechend kommuniziert werden kann. Dieses „Pull-Marketing-Prinzip“ werde mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. „Das Produkt muss vom Patienten gewollt werden. Das geht aber nur, wenn kommuniziert wird, dass ein Nutzen da ist und das Produkt sinnvoll ist.“ Auch auf der Seite der Direktverträge mit den Krankenkassen müssten die Unternehmen neue Wege und „mit in das Risiko“ gehen, um den Beweis antreten zu können, dass es sich um eine wirkliche Innovation handelt. Mit diesem Argumentationsaufbau müsse früh genug begonnen werden, schon in der Phase der ersten klinischen Studie.

Moderiert wurde die Veranstaltung von BVMed-Geschäftsführer und Vorstandsmitglied Joachim M. Schmitt.


Quelle: BVmed, 28.01.2011 (tB).

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