Abb: Projektleiterin Dr. Andrea Kronenthaler (rechts) bei der Abschlussveranstaltung für die Interviewpartner des Projekts. Um Verständigungsprobleme zu vermeiden, waren auch Übersetzer zugegen. Photo und Copyright: Projekt CarEMiMigrantinnen und Migranten oft schlecht über Angebote informiert – Nachholbedarf bei kulturspezifischem Grundwissen von Ärzten und Pflegekräften

Welche Pflege sich türkischstämmige Senioren wünschen

Tübingen (24. August 2016) – In den 1960er Jahren warb die Bundesrepublik Deutschland türkische Gastarbeiter an, um den Arbeitskräftebedarf der wachsenden Wirtschaft zu decken. Viele von ihnen blieben und sind nun, 50 Jahre später, pflegebedürftig. Im Projekt „CarEMi“ (Care for Elderly Migrants – Pflege für ältere Migranten) haben Wissenschaftlerinnen am Institut für Soziologie der Universität Tübingen untersucht, ob es kulturell bedingte Besonderheiten gibt, die bei der Altenpflege von Migrantinnen und Migranten Beachtung finden sollten.

Dabei wurde deutlich, dass Migranten oft schlecht über Angebote informiert sind und Nachholbedarf bei der Verständigung und kulturspezifischem Grundwissen von Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegekräften besteht. „Wissenschaft und Forschung erschließen neue Wege, um die Bedingungen für ein gutes Leben im Alter zu verbessern. Die Vorstellungen davon, was ein gutes Leben im Alter ausmacht, können jedoch unterschiedlich sein. Deshalb ist es wichtig, kulturelle Besonderheiten zu berücksichtigen und auf diese in der Forschung und in der Versorgung einzugehen“, sagt Prof. Dr. Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung und Forschung, deren Ministerium das Projekt gefördert hat. Für die Studie interviewten Forschende unter der Leitung von Dr. Andrea Kronenthaler verschiedene Personengruppen in den Städten und Landkreisen Tübingen und Reutlingen: 32 türkische Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation, 14 Hausärzte und medizinische Fachangestellte sowie 21 Vertreter und Vertreterinnen aus Politik, Pflegeinstitutionen, türkischen Vereinen und Krankenkassen.

Wie sich in der Studie zeigte, wussten viele der Migrantinnen und Migranten nicht, welche Einrichtungen und Beratungsstellen ihnen zur Verfügung stehen und welche finanziellen Leistungen sie für die Pflege in Anspruch nehmen können. Grund dafür sind unter anderem sprachliche Hürden oder mangelnde Kenntnisse des deutschen Gesundheitssystems. Die Konsequenzen tragen vor allem auch ihre Familienangehörigen, die die Pflege ohne zusätzliche Hilfestellungen schultern müssen – teilweise mit der Folge von Überlastung.

Insgesamt waren die Bedürfnisse der interviewten Migrantinnen und Migranten sehr unterschiedlich. „Nivellierung und Verallgemeinerung kann hier sehr schnell zu falschen Prognosen und Angeboten führen“, unterstreicht Kronenthaler. Einige der Älteren wollten beispielsweise ihren Angehörigen nicht zur Last fallen und würden professionelle Versorgung in Anspruch nehmen, andere vertrauten auf eine Pflege innerhalb der Familie. Falls die Versorgung in fremde Hände übergehen sollte, wünschten sich die Befragten, dass das Pflegepersonal über Grundlagenkenntnisse ihrer Religion und Kultur verfügt. So erhofften sie sich beispielsweise Unterstützung bei der Gebetswaschung oder Mahlzeiten, die nach islamischen Vorschriften zubereitet werden. Tendenziell bevorzugte die Mehrheit der Befragten eine nach Geschlechtern getrennte Versorgung: Männliches Pflegepersonal für pflegebedürftige Männer, weibliches Pflegepersonal für pflegebedürftige Frauen. Vor allem lag den Befragten – wie vielen anderen Seniorinnen und Senioren unabhängig von ihrer Herkunft – am Herzen, dass das Pflegepersonal ihnen respektvoll und freundlich begegnet.

Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte räumten in der Befragung ein, dass es ihnen an kulturspezifischem Grundwissen fehle. Wichtiger sei aber, so die befragten Fachkräfte, sich individuell auf die Pflegebedürftigen einzulassen. Ein weiterer zentraler Punkt war, dass es in der Pflegeversorgung und -beratung häufig Verständigungsschwierigkeiten gibt, die teilweise auch zu Fehldiagnosen führen können. Mangels Alternativen übersetzen dann Angehörige oder türkischsprechendes Personal in den Arztpraxen oder im Krankenhaus. Beides stellt keine optimale Lösung dar, da Angehörige etwa aus Rücksicht nicht wortgetreu übersetzen, das medizinische Personal dadurch eine Mehrbelastung erfährt und in eine Rolle gedrängt wird, die weder seiner Qualifikation noch seinen Aufgaben entspricht.

Anlass des Projekts CarEMi war die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“, die unter der Federführung des Bundesfamilienministeriums und des Bundesgesundheitsministeriums formuliert wurde. Die Charta sichert Pflegebedürftigen unter anderem das Recht zu, der „Kultur und Weltanschauung entsprechend zu leben und [die eigene] Religion auszuüben“. Damit dieses Recht in die Praxis umgesetzt werden kann, hat das Projektteam aus den Erkenntnissen der Studie eine Handreichung für Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und andere Interessierte erarbeitet. Anhand von praktischen Beispielen werden darin mögliche Probleme und Handlungsansätze aufgezeigt. „Zusätzlich dazu werden aber auch Schulungen von Ärzten und Pflegepersonal sowie die Aufklärung und Bereitstellung von Informationen, die speziell auf Migranten zugeschnitten sind, nötig sein“, fordert Kronenthaler. So sollen in Zukunft Missverständnisse ausgeräumt, die Seniorinnen und Senioren bedürfnisorientierter versorgt und Kulturunterschieden angemessener begegnet werden.

Die Ergebnisse der Studie zeigen die Wissenschaftlerinnen in einer Posterausstellung im Rahmen der Interkulturellen Woche am Sonntag, dem 25. September, in den Tübinger Rathaus-Arkaden (Am Markt 1, 72070 Tübingen).

Abb oben: Projektleiterin Dr. Andrea Kronenthaler (rechts) bei der Abschlussveranstaltung für die Interviewpartner des Projekts. Um Verständigungsprobleme zu vermeiden, waren auch Übersetzer zugegen. Photo und Copyright: Projekt CarEMi


Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen , 24.08.2016 (tB).

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