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Neue, komplett überarbeitete Leitlinie zur Therapie des ischämischen Schlaganfalls

 

Berlin (25. Mai 2021) — Aktuell wurde von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) e.V. und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG) die aktualisierte und erweiterte S2e-Leitlinie zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls publiziert. Die zügige und richtige Behandlung nach einem Schlaganfall rettet Leben und kann bleibende Schäden verhindern. Die Leitlinien geben klare Empfehlungen zum genauen Vorgehen, auch in speziellen Situationen. Neu sind u.a. Aspekte des Post-Stroke-Delirs oder der kardiovaskulären Diagnostik sowie ein Kapitel zu geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Schlaganfallpatienten/-patientinnen.

Weltweit gehören Schlaganfälle zu den häufigsten Mortalitäts- und Morbiditätsursachen. In Deutschland erleiden jedes Jahr ungefähr 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Es gibt zwei Arten von Schlaganfällen, zum einen die sogenannten ischämischen Schlaganfälle (auch Hirninsult bzw. -infarkt) und die selteneren hämorrhagischen Schlaganfälle, die durch eine Hirnblutung bedingt sind. Die meisten Schlaganfälle sind ischämischer Natur (85%) – d. h. sie entstehen durch den Verschluss oder die hochgradige Verengung einer hirnversorgenden Arterie durch ein Blutgerinnsel (Thrombus oder Embolie). Die zu dem verstopften Gefäß gehörende Hirnregion wird nicht mehr bzw. minder durchblutet – es kommt zum Sauerstoffmangel in den Gehirnzellen. Daher ist ein schneller Behandlungsbeginn entscheidend: Damit es nicht zum Absterben von Gehirnzellen und bleibenden Schäden kommt, muss die Blutversorgung (Perfusion) möglichst schnell wiederhergestellt werden (Rekanalisationstherapie) („time is brain“). Die Behandlung erfolgt entweder durch die medikamentöse Auflösung des Gerinnsels (intravenöse Thrombolyse) oder bei Großgefäß-Verschlüssen mit einem Gefäßkatheter-Eingriff zur mechanischen Entfernung des Gerinnsels (interventionelle Thrombektomie) in einem entsprechenden Zentrum.

Die bisherige S1-Leitlinie stammt aus dem Jahr 2012, 2015 kam eine Ergänzung zu den Rekanalisationstherapien hinzu. Nun wurde eine komplette Überarbeitung und Aktualisierung der bisherigen Leitlinie publiziert [1]. Beteiligt waren neben der DSG und der DGN auch die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie (DGNR), die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC), die Deutsche Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI), die Deutsche Gesellschaft für Interventionelle Radiologie und minimalinvasive Therapie (DeGIR), die Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM), die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), die Deutsche Röntgen-Gesellschaft (DRG), die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe (SDSH), die Österreichische Schlaganfall-Gesellschaft (ÖGSF), die Österreichische Gesellschaft für Neuroradiologie (ÖGNR), die Schweizerische Neurologische Gesellschaft (SNG) und die Schweizer Gesellschaft für Neuroradiologie (SGNR).

Die Sprecher der Leitlinien-Steuergruppe Prof. Dr. med. Martin Köhrmann, Essen, und Prof. Dr. med. Peter A. Ringleb, Heidelberg, erklären: „Viele Empfehlungen haben sich seit 2012/2015 aufgrund neuer Studiendaten verändert, außerdem wurden verschiedene Aspekte neu aufgenommen. Die Leitlinien reflektieren nun den aktuellen Wissensstand.“

 

Was ist neu?

  • Alle Patienten mit einem ischämischen Insult sollen in einer Stroke Unit behandelt werden.
  • Die sofortige zerebrale Diagnostik mit CT oder MRT erfolgt, um zwischen Ischämie und Blutung zu unterscheiden und somit das therapeutische Procedere festlegen zu können. Wenn eine mechanische Thrombektomie in Frage kommt, sollte stets auch eine Gefäßdiagnostik (vom Aortenbogen aufwärts) stattfinden. Falls bei Ankunft in der Klinik das Zeitintervall von 4,5 Stunden überschritten ist, sollte eine erweiterte Bildgebung erfolgen (z.B. Perfusionsuntersuchung mit MRT oder CT), da auch dann befundabhängig noch therapeutische Schritte zur Reperfusion möglich sind.
  • Die Standardtherapie für die systemische Thrombolyse erfolgt mit Alteplase (auch rt-PA „recombinant tissue-type plasminogen activator“). Tenecteplase könnte als modifiziertes Molekül eine noch bessere Wirksamkeit haben. In der EU ist diese Substanz bisher nur zur Behandlung des Herzinfarktes zugelassen, die Studienlage beim Schlaganfall ist bislang nicht einheitlich. Gemäß der neuen Leitlinie soll Tenecteplase außerhalb klinischer Studien nur in Einzelfällen eingesetzt werden.
  • Das sogenannte Post-Stroke-Delir tritt je nach Studie bei bis zu 48% der Patienten auf; durchschnittlich bei 26%. Dabei entwickeln sich in kurzer Zeit fluktuierende Störungen von Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Bewusstsein, die nicht allein durch den Schlaganfall erklärt werden können. Ein solches Delir geht einher mit einer fast fünffach erhöhten Sterblichkeit, längeren Kliniksaufenthalten und häufigeren Entlassungen in Pflegeeinrichtungen. Trotz dieser Häufigkeit und möglichen Folgen des Post-Stroke-Delirs sind neue Forschungsergebnisse dazu rar und die Therapien kaum standardisiert. Die Leitlinien empfehlen das gezielte Screening mit etablierten Scores. Neben der Behandlung mit speziellen Medikamenten ist es besonders wichtig, frühzeitig die Reorientierung der Patienten zu stimulieren (Kommunikation, Mobilisation, Brille, Hörgeräte, Tag-Nacht-Rhythmus).
  • Eine duale antithrombotische Sekundärprophylaxe (ASS plus Clopidogrel oder Ticagrelor) sollte nicht routinemäßig erfolgen. Sie kann bei ausgewählten Patienten nach TIA oder leichten Schlaganfällen über einen Zeitraum von 21 – 30 Tagen Vorteile haben (nicht-tödliche Rezidive reduzieren), möglicherweise jedoch zu Lasten des Blutungsrisikos bei insgesamt unveränderter Mortalität und nur geringem Einfluss auf bleibende Behinderung und Lebensqualität. Bei erhöhtem Blutungsrisiko sollte keine duale Plättchenhemmung erfolgen.
  • Die systematische Suche in Datenbanken brachte keinen Anhalt dafür, dass Frauen mit einem Schlaganfall anders behandelt werden sollten als Männer. Es zeigten sich jedoch je nach Studie variable epidemiologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern: So waren weniger Frauen von Schlaganfällen betroffen als Männer. Frauen waren jedoch durchschnittlich ca. fünf Jahre älter als Männer, hatten häufiger Bluthochdruck und Vorhofflimmern. Alkohol- oder Nikotinkonsum sowie Hyperlipidämie und Diabetes mellitus waren bei Männern häufiger. Bei uneinheitlicher Datenlage gibt es Hinweise darauf, dass Frauen seltener auf Stroke Units behandelt wurden, eine erhöhte Krankenhaussterblichkeit hatten (2017 verstarben 8,8 % der Frauen und 5,8 % der Männer) sowie ein schlechteres funktionelles Ergebnis. Frauen wurden etwas seltener mit rt-PA behandelt, jedoch häufiger mit einer Thrombektomie (2013-2017).

„In Schlaganfall-Studien waren Frauen häufig unterrepräsentiert, da dort die Altersgrenze oftmals bei 80 liegt. Da Schlaganfallpatientinnen durchschnittlich älter waren als männliche Patienten, ist also denkbar, dass sich geschlechtsspezifische Unterschiede in den Behandlungsergebnissen der Studien nicht abzeichnen konnten“, erläutert Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der DGN. „Hierauf sollte bei der Konzipierung künftiger Studien besonders geachtet werden, denn wenn geschlechtsspezifische Besonderheiten bei der Behandlung sicher belegt werden könnten, wären das gegebenenfalls leicht realisierbare Therapieoptimierungen für beide Geschlechter.“

„Insgesamt bildet die aktuelle Leitlinie das derzeit verfügbare Wissen beim Schlaganfall ab, um eine bestmögliche Versorgung der Betroffenen zu gewährleisten. Besonders hervorzuheben ist die Interdisziplinarität dieser Leitlinie: Kolleginnen und Kollegen zahlreicher medizinischer Disziplinen waren an ihrer Erstellung beteiligt, was einen umfassenden Blick garantiert und sicherstellt, dass alle Aspekte der Versorgung fachübergreifend berücksichtigt wurden,“ erklärt Prof. Dr. med. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN.

 

 

Literatur

[1] Ringleb P., Köhrmann M., Jansen O. et al.: Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, S2e-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 21.05.2021)

 

 

Originalpublikation

 

 

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)

sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin.

 

 


Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V., 25.05.2021 (tB).

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