Schmerztherapie in der geriatrischen Onkologie

 

Von Prof. Dr. med. Roland Hardt,
Geriatrische Klinik – Geriatrische Schlaganfallstation St. Hildegardis-Krankenhaus – Katholisches Klinikum Mainz

 

München (10. Juli 2006) – Der demographische Wandel in der BRD beschert uns eine wachsende Zahl hoch betagter Mitbürger. Den meisten von ihnen ist als so genannter „3. Lebensabschnitt" eine Zeitspanne vergönnt, die sich durch relative Gesundheit, persönliche Autonomie und Lebensqualität auszeichnet. Der Gesundheitszustand eines heute 65-Jährigen darf als weitaus besser gelten als die eines 50-Jährigen noch in der Nachkriegszeit.

 

Mit steigendem Lebensalter wächst jedoch das Morbiditätsrisiko exponentiell an. Dies gilt für Herz-/ Kreislauferkrankungen wie Myocardinfarkt, Herzinsuffizienz und Schlaganfall, für degenerative Veränderungen des muskeloskelettalen Systems, besonders aber auch für die Demenz vom Alzheimer Typ. All dies führt zur alterstypischen Multimorbidität gefolgt von einer meist bestehenden Polymedikation mit multiplen Möglichkeiten von Arzneimittelinteraktionen, Neben- und Wechselwirkungen.

 

Hierüber wird häufig vergessen, dass Hochaltrigkeit besonders auch mit einer steigenden Inzidenz bösartiger Neubildungen verknüpft ist. Alleine in der nächsten Dekade wird mit einer Verdopplung der Neuerkrankungen gerechnet, sodass die Krebserkrankungen die Herz-Kreislauferkrankungen in naher Zukunft vom 1. Platz in der Todesursachenstatistik verdrängen werden. Mit Ausnahme des steigenden Zigarettenkonsumes junger Frauen und daraus resultierend steigenden Inzidenzraten für das Bronchialkarzinom ist diese Entwicklung jedoch nicht in einem geänderten Risikoverhalten begründet, sondern beruht auf der trivialen Tatsache, dass viele Menschen einfach alt genug werden, um ihre Krebserkrankung zu erleben (früher wären sie vielleicht vorher an einer Infektionskrankheit gestorben). Dies trifft z.B. für die steigende Inzidenz des Mamma‑Ca älterer Frauen sowie für das ProstataCa bei alten Männern zu. Gleichzeitig erleben viele Menschen in fortgeschrittenem Lebensalter Spätrezidive primär erfolgreich behandelter Karzinome (z.B. ossäre Metastasen 10 Jahre nach Primärbehandlung wegen Mamma-Ca). Hinzu kommen maligne Erkrankungen des blutbildenden Systems und Lymphome, z.B. die CLL- oder das Plasmozytom, häufig mit ossärer Ausbreitung und chronischem Verlauf.

 

Zu beklagen ist immer noch die mangelnde Wahrnehmung des Altersphänomens in der Onkologie, sowohl in Bezug auf die Ausschöpfung der Möglichkeiten der Früherkennung (z.B. Mamma-Ca Screening) als auch die mangelnde Ausschöpfung therapeutischer Möglichkeiten oder überhaupt das fehlende Datenmaterial in Bezug auf klinische Studien.

 

Dabei ist zwar häufig keine kurative Therapie mehr möglich, durch geeignete Interventionen und supportive Maßnahmen kann jedoch eine deutliche Verlängerung der Überlebenszeit bei guter Lebensqualität erreicht werden. Zu nennen wäre beispielsweise die antiandrogene Therapie beim hormon­sensiblen Prostata-Ca, bzw. die sup­portive Therapie hormonsensibler Mamma-Ca. Die durchschnittliche Überlebenszeit, auch bei metastasier­enden Prozessen bemisst sich hier in Monaten und Jahren und nicht in weni­gen Wochen. Die Schmerztherapie geriatrisch-onkologischer Patienten ist als Langzeitpalliativmaßnahme aufzu­fassen, die sowohl an die meist vor­bestehende Multimedikation angepasst werden muss als auch einen multimo­dalen Therapieansatz impliziert, der neben der reinen medikamentösen Schmerztherapie physikalisch ‑ thera­peutische sowie aktivierende Verfahren umfasst und auch die seelischen und spirituellen Bedürfnisse der Patienten reflektiert. Basis der medikamentösen Tumorschmerztherapie ist nach wie vor das Stufenchema der WHO, wenn­gleich Modifikationen bezüglich der Beachtung des Nebenwirkungsprofils von nicht ‑ Opioidanalgetika sowie der frühzeitige Einsatz zunächst niedrig dosierter Stufe III Opioide notwendig erscheinen.

 

Obwohl in der Kombinationstherapie starker Schmerzen eine antiinflamatori­sche Wirkkomponente häufig wün­schenswert ist, sind Stufe I Analgetika, besonders nicht steroidale antiinflama­torische Substanzen einschließlich Cox‑II Hemmer aufgrund ihres gastro­intestinalen und kardiovaskulären Nebenwirkungsprofiles problematisch. Ein hohes Alter ist bezüglich des Risi­kos gastrointestinaler Blutungen ein eigenständiger und starker Risikofaktor. Cox‑II Hemmer haben für geriatrische Patienten mit ihren meist vor­bestehenden kardiovaskulären Erkran­kungen aufgrund ihres diesbezüglichen Risikoprofils deutlich an Bedeutung verloren.

 

Bei den Stufe II Opioiden ist sowohl der Ceilingeffekt zu bedenken als auch ihre häufig starke emetogene Wirkung in hohen Dosierungen. Zu bedenken ist auch die Hemmung der Serotonin­wiederaufnahme im synaptischen Spalt, beispielsweise beim Tramadol, was bei gleichzeitiger Behandlung einer De­pression oder depressiven Verstim­mung mit SSRI problematisch werden kann.

 

Stufe III Opioide unterscheiden sich grundsätzlich nicht in ihrer analgeti­schen Wirkung bei äquipotenter Dosie­rung (reine Agonisten, kein Ceilingef­fekt). Unterschiede bestehen hinsicht­lich ihrer Pharmakokinetik, der Applika­tionsform sowie der galenischen Zube­reitung. Auch für die Behandlung geriat­rischer Tumorschmerzpatienten gilt das Primat oraler, retardierter Präparate, möglichst nach schriftlich fixierter und mit dem Patienten besprochener Ein­nahmeeinleitung, bei Bedarf ergänzt durch kurz wirksame, schnell anfluten­de Präparate zur Kupierung von Durch­bruchsschmerzen.

 

Hierfür kommen zunächst alle Stufe III Opioide in Betracht, ggf. nach Aus­testung der individuell am besten ver­träglichen Substanz i.S. des sog. „Opioid-Rotating". Die oben erwähnte, beim geriatrischen Patienten häufige Multimedikation macht es jedoch not­wendig, das Analgetikum auch hinsicht­lich möglicher Neben- und Wechsel­wirkungen insbesondere bezüglich der Eliminationswege auszuwählen. Die Verstoffwechselung verschiedener Pharmaka über das Zytochrom P450­-System der Leber, die Eliminations­halbwertzeit sowie der unterschiedliche Grad der Plasmaeiweißbindung ver­schiedener Substanzen sind hierbei zu bedenken. Dies gilt insbesondere für Patienten, die beispielsweise unter ei­ner oralen Antikoagulantientherapie stehen oder mit bestimmten Antide­pressiva behandelt werden müssen. Hier sind entsprechende Inkompatibili­täten unbedingt zu beachten.

 

Bei vergleichbarer Wirksamkeit und Verträglichkeit ist das Hydromorphon (wie z. B. Palladon®) unter den Stufe III Opioiden die bezüglich möglicher Wechselwirkungen unkomplizierteste Substanz. Der Abbau erfolgt bezüglich des Zytochrom P450-Systems stoff­wechselneutral und die Plasmaeiweiß­bindung ist vergleichbar gering. Die Substanz wird deswegen in der Tumor­schmerztherapie geriatrische Patienten häufig bevorzugt. Überdies zeigen Stu­dien zum Opioid‑Rotating ein sehr günstiges Wirksamkeitsprofil.

 

Die Aktion „Schmerz60plus", eine Initia­tive der Mundipharma GmbH, hat sich dem Problem der Arzneimittelinter­aktion bei multimorbiden Schmerz­patienten bewusst zugewandt. Entspre­chende Tabellen zu möglichen Inter­aktionen, insbesondere im Intermediär­stoffwechsel des Zytochrom P450-­Systems sind unter der Website: www.Schmerz60plus.de für die Fach­öffentlichkeit abrufbar.

 

Schmerztherapie in der geriatrischen Onkologie bedeutet Erhalt der Lebens­qualität über einen langen Zeitraum im Sinne einer Langzeitpalliation. Die Auswahl geeigneter Präparate zu der häufig vorbestehenden Multimedikation ist der Schlüssel zu einer neben­wirkungsarmen und erfolgreichen The­rapie.

 


 

Quelle: 7. Münchener Fachpresse-Workshop zum Thema „Supportivtherapie in der Onkologie – Aktuelle Therapiekonzepte und neue Perspektiven in der onkologischen Supportivtherapie“ am 10.07.2006 in München (POMME-med) (tB).

 

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