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WORKSHOP: Versorgungskonzept für die sichere und gesunde Entwicklung des Kindes

 

Neubewertung von Folsäure und Folat

 

Von  Prof. Dr. med. vet. Klaus Pietrzik

 

Hamburg (18. September 2008) – Folsäure hat in den letzten Jahren stark an Aufmerksamkeit gewonnen, da man zeigen konnte, dass durch perikonzeptionelle Zufuhr das Risiko für Neuralrohrdefekte und andere angeborene Fehlbildungen signifikant gesenkt wird. Eine adäquate Versorgung mit Folsäure bzw. Folat ist für Frauen bereits ab Kinderwunsch wichtig. Dennoch erhalten nur wenige Frauen im gebärfähigen Alter eine wirksame perikonzeptionelle Folsäure‑/Folatzufuhr. Ganz unberücksichtigt bleiben der weitere Schwangerschaftsverlauf und die Laktation, die jedoch ganz erhebliche Anforderungen an die Folatzufuhr stellen.

 

Begriffsdefinition

Folsäure kommt als solche in der Natur nicht vor. Sie wird synthetisch hergestellt und kommt in Vitaminpräparaten, Medikamenten und bei der Anreicherung von Lebensmitteln zum Einsatz. Folsäure selbst besitzt keine Vitaminfunktion. Sie muss erst bei der Resorption in der Mucosazelle und anschließend in der Leber in die eigentlich vitaminwirksamen Folatverbindungen überführt werden.

 

In Lebensmitteln pflanzlicher und tierischer Herkunft kommen natürlicherweise Folate vor. Besonders folatreich sind Blattgemüse, Spinat, Salat, Spargel, Tomaten und Gurken sowie Getreide und Leber. Die einzelnen Verbindungen unterscheiden sich in der Anzahl der an sie gebundenen Glutamatmoleküle. Mit der Nahrung nimmt der Mensch sowohl Mono‑ als auch Polyglutamate auf, weshalb man die gesamten Folat­verbindungen als Nahrungsfolat bezeichnet.

Den quantitativ wichtigsten Metaboliten beim Menschen stellt mit ca. 98 Prozent das 5‑Methyltetrahydrofolat (5‑MTHF) dar. Es ist die Hauptwirkform und somit auch die überwiegende Transport‑ und Speicherform.

 

Unzureichende Folatversorgung

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt Erwachsenen, täglich 400 Ng Nahrungsfolat zuzuführen. Doch die wenigsten Deutschen können diesen Bedarf über ihre normale Ernährung abdecken. Nach Angaben des Ernährungsberichtes aus dem Jahr 2004 (verfügbare Daten stammen aus 1998) beträgt die durchschnittliche tägliche Folatzufuhr bei Frauen 223 pg. Dies entspricht 56 Prozent der empfohlenen Zufuhr. Hinzu kommt, dass es durch falsche Lagerung und die Zubereitung der Lebensmittel, beispielsweise durch Kochen, zu Verlusten des Folatgehaltes zwischen 30 und 90 Prozent kommen kann.

 

Folatbedarf in Schwangerschaft erhöht

Die Schwangerschaft stellt eine besonders kritische Phase der Folatversorgung dar, denn der Folatbedarf steigt infolge der Vergrößerung des Uterus, der Anlage der Plazenta, der Zunahme der mütterlichen Erythrozytenzahl sowie des embryonalen Wachstums an. Gemessen an den geltenden Zufuhrempfehlungen für erwachsene Frauen (400 mg Nahrungsfolat pro Tag) bedeutet dies einen Mehrbedarf von 50 Prozent. Daher empfiehlt die DGE Schwangeren, 600 mg Nahrungsfolat pro Tag aufzunehmen. Die Bedarfsdeckung ist auch bei guten Ernährungskenntnissen und der Aufnahme einer „ausgewogenen Mischkost" nicht immer möglich, so dass die Empfehlung der Fachgesellschaften lautet, über das Nahrungsfolat hinaus synthetisch hergestellte Folsäure in Form von Supplementen zuzuführen. Allerdings muss die synthetische Folsäure noch in die biologisch aktive Folatverbindung 5‑Methyltetrahydrofolat überführt werden.

 

Zahlreiche Studienergebnisse der vergangenen Jahrzehnte bestätigen Zusammen­hänge, dass eine ausreichende Folat‑/Folsäureversorgung während der kritischen Phase des Neuralrohrschlusses (22. bis 28. Tag nach der Empfängnis) das Risiko für Neuralrohrdefekte (NRD) wie Spina bifida (offener Rücken) und Anenzephalie (fehlendes Schädeldach, „Froschkopf`) senken kann. Zur wirksamen Prävention eines Neuralrohrdefektes muss bereits vor der Schwangerschaft ein ausreichend hoher Erythrozytenfolatspiegel (EFS) aufgebaut werden. In einschlägigen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass zur optimalen NRD‑Risikoreduktion ein EFS von über 906 nmol/L erforderlich ist. Für Deutschland berechnete Daten ergeben, dass 87 Prozent der Bevölkerung ein zwei‑ bis achtfach erhöhtes Risiko für Neuralrohrdefekte haben, da sie Erythrozytenfolatkonzentrationen unter 906 nmol/I aufweisen.

Eine aktuelle Studie zeigt jedoch, dass bei der bisher empfohlenen Supplementierung von 400 pg Folsäure der präventiv wirksame EFS erst nach etwa drei Monaten erreicht wird. Dagegen wird bei einer täglichen Folsäuredosis von 800 pg dieser optimale Wert im Mittel schon nach vier Wochen erreicht.

 

Risikofaktor Enzympolymorphismus

Das Schlüsselenzym, das die Überführung von Folsäure in die biologisch aktive Folatverbindung 5‑Methyltetrahydrofolat (5‑MTHF) katalysiert, ist die 5,10­Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR). Eine Punktmutation an diesem Enzym ist bei homozygot Betroffenen mit einer um etwa 75 Prozent verminderten Enzymaktivität verbunden. Die Folge: Folsäure wird nicht vollständig in 5‑MTHF überführt. Ist die Methylgruppe des 5‑MTHF nicht in ausreichender Menge vorhanden, um Homocystein in Methionin umzuwandeln, steigt der Homocysteinspiegel und damit auch das Risiko für NRD.

 

Verschiedene Studien haben inzwischen gezeigt, dass Mütter von Kindern mit Neuralrohrdefekt signifikant häufiger homozygot sind und dass damit ein zweifach höherer Risikoanstieg für das Auftreten von NRD verbunden ist. Liegt diese Enzymvariante sowohl bei der Mutter als auch beim Neugeborenen vor, dann steigt das Risiko für Neuralrohrdefekte sogar um das Sechs‑ bis Siebenfache. Während zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung homozygote Merksmalsträger sind, sind 40 Prozent von der heterozygoten Form betroffen. Bei dieser Gruppe ist die Enzymaktivität um circa 30 Prozent vermindert. Die Heterozygoten weisen ein leicht erhöhtes Risiko für NRD auf. Berücksichtigt man aber, dass die Zahl der heterozygoten Merkmalsträger circa viermal höher liegt als die der homozygot Betroffenen, relativiert sich die scheinbar geringere Bedeutung: Die absolute Zahl der NRD-Fälle bedingt durch homozygote Genträger dürfte in etwa der Zahl, die durch heterozygote Merkmalsträger ausgelöst werden, entsprechen. Das bedeutet, dass bei ca. 50 Prozent der Bevölkerung der Enzympolymorphismus ein zusätzlicher Risikofaktor ist.

 

MTHFR‑Genotyp‑Bestimmung

Zur Diagnostik des MTHFR‑Polymorphismus bedient man sich der PCR (Polymerase Chain Reaction). Dabei handelt es sich um ein Verfahren, bei dem spezifische Bausteine des genetischen Materials ‑ Nukleinsäureabschnitte, auf dem das Gen des Enzyms MTHFR lokalisiert ist ‑ isoliert werden (z.B. aus dem Zellkern von Lymphozyten). Nachfolgend wird in einer Art Kettenreaktion dieses Material angereichert. Über eine spezielle Form der Elektrophorese wird die Wanderungsgeschwindigkeit der betreffenden Nukleinsäureabschnitte optisch dargestellt. Homocygote bzw. heterocygote Merkmalsträger können dabei von den Wildtypen unterschieden werden. Es handelt sich um ein relativ aufwendiges Verfahren, welches routinemäßig nur in molekularbiologischen Labors durchgeführt wird. Dementsprechend ist der Durchschnittsverbraucher nicht darüber informiert, über welche Enzymform er verfügt.

 

Schwangerschaftskomplikationen

Es gilt als allgemein anerkannt, dass unter den Bedingungen eines Folatmangels Schwangerschafts-komplikationen auftreten. Bei der kritischen Sichtung der Literatur wird nicht nur der Folatstatus als Ursache für Schwangerschaftskomplikationen untersucht, sondern auch der Enzympolymorphismus (MTHFR C677T*) und der Homocysteinspiegel. So konnte beispielsweise in der norwegischen Hordaland­Homocystein-Studie gezeigt werden, dass mit zunehmendem Anstieg des Homocysteinspiegels das Risiko für niedriges Geburtsgewicht sowie für Frühgeburten zunimmt (1).

 

In eigenen Untersuchungen konnten wir belegen, dass das Auftreten von Aborten mit dem Folatstatus korreliert. In der gesunden Kontrollgruppe wurden lediglich 6,3 Prozent der Frauen als unterversorgt (Serumfolatspiegel < 5 ng/ml) eingestuft, wohingegen die Häufigkeit einer Unterversorgung im Abortkollektiv bei 18,9 Prozent lag und bei Frauen mit habituellen Aborten auf 30,4 Prozent stieg. Anhand aktueller Studienergebnisse muss auch davon ausgegangen werden, dass dem Enzympolymorphismus eine klare pathogenetische Bedeutung im Abortgeschehen zukommt. Bei 200 Schwangeren mit habituellen Aborten war die Anzahl der homozygoten Merkmalsträger signifikant höher als in der Kontrollgruppe.

 

Da das Plazentagewebe einen selektiv hohen Folatbedarf hat, ist es verständlich, dass bei schlechtem Folatstatus Plazentablutungen bis hin zu Plazentaablösungen auftreten können. Die Zusammenhänge zwischen Folatstatus, Enzympolymorphismus (MTHFR C677T) und Abruptio placentae konnten in der Studie von van der Molen eindrucksvoll belegt werden (2). Das relative Risiko für Abruptio placentae bzw. Placentainfarkt war für die homozygoten Schwangeren mit 2,45 signifikant höher als im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Schwangerschaftskomplikationen. Wird zusätzlich der Folatstatus berücksichtigt, so wird deutlich, dass das relative Risiko mit zunehmender Verschlechterung des Folatstatus steigt. Auch in anderen großen Studien ergaben sich klare signifikante Zusammenhänge, so dass der Enzympolymorphismus (MTHFR C677T) als Risikofaktor für eine Plazentaablösung eingestuft werden kann.

 

Folatbedarf auch während der Stillzeit erhöht

Der Bedarf an Folaten ist auch während der Laktation erhöht. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt stillenden Müttern, täglich 600 jg Nahrungsfolat aufzunehmen. Eine adäquate Folatversorgung ist wichtig, da der Folatgehalt der Muttermilch zirka fünf‑ bis zehnmal höher ist als die entsprechende Konzentration im Serum. Dadurch wird in Phasen verstärkten Wachstums genügend Folat für eine optimale Zellvermehrung bereitgehalten. Generell gilt, dass die Folatkonzentrationen in Muttermilch direkt nach der Geburt höher sind als gegen Ende der Laktation. Wird hingegen supplementiert, können abnehmende Folatgehalte in der Muttermilch vermieden werden.

 

Supplementation mit der biologisch aktiven Folatform

Die synthetisch herstellbare, natürliche Folatform 5-MTHF in Form von Calcium‑L­Methylfolat (Metafolin®) wird enzymunabhängig verstoffwechselt und kann inzwischen in Ergänzung zu Folsäure für die Supplementation bei Kinderwunsch, in Schwangerschaft, aber auch in der Stillzeit verwendet werden. In einer Studie wurden mit dieser Substanz signifikant höhere Erythrozytenfolatspiegel erreicht als mit Folsäure (3). Da nur die wenigsten Menschen wissen, ob bei ihnen ein Enzympolymorphismus vorliegt, bietet der Einsatz von 5-MTHF die Möglichkeit, das biologische Potential von Folat voll auszuschöpfen und eine breitenwirksame Prävention auch für den Bevölkerungsanteil (ca. 50 Prozent) zu erzielen, der vom MTHFR-Polymorphismus in homozygoter oder heterozygoter Form betroffen ist. Daher bietet die natürliche Folatform 5-MTHF Sicherheit für alle Frauen.

 

Anmerkung

* Eine Punktmutation am 677 Nukleotid führt zu einem Austausch von Cytosin gegen Thymin.

 

 

Literatur

  1. Vollset SE et al.:Plasma total homocysteine, pregnancy complications, and adverse pregnancy outcomes: the Hordaland Homocysteine study. Am J Clin Nutr 71 (4), 962‑8 (2000)
  2. van der Molen EF et al.: A common mutation in the 5,10‑methylenetetrahydrofolate reductase gene as a new risk factor for placental vasculopathy. Am J Obstet Gynecol 182 (5), 1258‑63 (2000)
  3. Lamers Y et al.: Red blood cell folate concentrations increase more after supplementation with 6S‑5‑methyltetrahydrofolate than with folic acid in women of childbearing age. Am J Clin Nutr 84, 156‑61 (2006)

 

Folien zu Vortrag von Prof. Dr. Klaus Pietrzik.pdf Folien zu Vortrag von Prof. Dr. Klaus Pietrzik.pdf (1.77 MB)

 

 

 

Referent

Prof. Dr. med. vet. Klaus Pietrzik
Abt. Pathophysiologie der Ernährung des Menschen Institut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaft
Rheinische Friedrich‑Wilhelms‑Universität Bonn

 


Quelle: Workshop der Firma Merck zum Thema  „Versorgungskonzept für die sichere und gesunde Entwicklung des Kindes“, anlässlich des 57. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) am 18. September 2008 in Hamburg (Dorothea Küsters Life Science Communications).

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