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Behandlungsstrategien und -taktiken bei schwerer Depression

 

Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Michael Bauer

 

Berlin (27. November 2009) – Bei der major-depressiven Erkrankung handelt es sich um ein bezüglich Ätiologie, Therapieansprechen und zugrunde liegender Neurobiologie und Pathophysiologie heterogenes Krankheitsbild. Es gibt zahlreiche potenziell wirksame Behandlungsansätze, von denen jedoch keiner ein Allheilmittel ist. Die Evidenz lässt vermuten, dass nur 30 bis 40 Prozent der depressiven ambulanten Patienten, die mit einer Arzneimittel- oder Psychotherapie beginnen, in Remission kommen werden. Selbst bei Kombination beider Ansätze erreichen nur 50 Prozent der Patienten nach dem ersten Behandlungsversuch eine Remission. Bei Patienten mit eher chronischen (prolongierten) major-depressiven Episoden oder bei medizinischer oder psychiatrischer Begleiterkrankung oder begleitender Persönlichkeitsstörung können die Remissionsraten sogar noch niedriger sein.

 

Zu Behandlungsbeginn sind eine Reihe von strategischen und taktischen Erwägungen zu treffen. Dabei betreffen strategische Entscheidungen vor allem die initial gewählte Therapieform sowie die bei Nichtansprechen gewählte Alternativtherapie. Die Taktik bezieht sich dabei auf die konkrete Umsetzung der Behandlungsentscheidungen. Mögliche Taktiken sind: Complianceförderung, die Erfassung von Therapieergebnissen, rechtzeitige Dosis­anpassungen und das rechtzeitige Erfassen eines etwaigen Therapieversagens. Da keine Behandlung grundsätzlich immer wirksam ist, sollte man von Anfang an mindestens zwei Akutphase-Therapieversuche einplanen, damit die Patienten nicht übermäßig entmutigt sind, wenn der erste Behandlungsversuch nicht zum vollen Erfolg führt, da es dadurch oft zum Therapieabbruch kommt.

 

 

Auswahl des Antidepressivums

 

Wenn die Entscheidung für einen initialen pharmakologischen Behandlungsversuch getroffen wurde (allein oder in Kombination mit einer Psychotherapie), müssen bei der Substanzauswahl mehrere Faktoren berücksichtigt werden. Hilfreich sind hierbei Wirksamkeit im Vergleich, Ansprechen auf etwaige Vorbehandlungen beim Patienten oder Angehörigen, vorliegende Symptome, Sicherheit und Nebenwirkungen, Potenzial für Wechselwirkungen, angenehme Darreichungsform (für eine bessere Mitarbeit), begleitende psychiatrische Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, begleitende medizinische Krankheitsbilder und Wünsche des Patienten. Gutes bisheriges Therapieansprechen eines Patienten oder auch eines Verwandten ersten Grades auf eine bestimmte Substanz in einer bestimmten Dosierung ist ein sehr guter Prädiktor für ein zukünftiges Ansprechen und sollte unbedingt in der Therapieplanung berücksichtigt werden.

 

 

Suizidrisiko

 

Die größte vitale Bedrohung für den Patienten in einer Depression geht von der häufig begleitenden Suizidalität aus. Zwischen 10 und 20 Prozent der Patienten mit einer depressiven Episode sterben im Verlauf der Erkrankung an einem Suizid. Das Suzidrisiko ist 20fach erhöht im Vergleich zur gesunden Bevölkerung. Fast alle Patienten mit einer depressiven Erkrankung kennen Suizidgedanken; Suizidversuche ereignen sich häufig in der depressiven Verstimmung. Das Erkennen akuter Suizidalität wird erschwert, da die Patienten ihre Gedanken nicht spontan äußern. Das Suizidrisiko sollte am Anfang und regelmäßig während der Behandlung beurteilt werden (die Häufigkeit der Beurteilung hängt von der Schwere der Suizidalität, vom Vorhandensein suizidaler Risikofaktoren und vom Behandlungsrahmen ab).

 

Folgenden Faktoren sind mit einem hohen Suizidrisiko korreliert:

 

  • affektive Störung,
  • schlechte Impulskontrolle,
  • männliches Geschlecht (Männer im Alter zwischen 20 und 30 Jahren und über 50 Jahre; Frauen zwischen dem 40. und dem 60. Lebensjahr),
  • Suizidversuch in der Vorgeschichte,
  • suizidales Verhalten in der Familienanamnese,
  • positive Familienanamnese einer früh beginnenden affektiven Störung,
  • Substanzmissbrauch (besonders Alkoholmissbrauch),
  • Familienstand (ledig, geschieden oder verwitwet),
  • plötzliche Veränderung im sozioökonomischen Status (Arbeitsplatzverlust, finanzielle Probleme, ungewollte Pensionierung),
  • fehlende Unterstützung.

 

Ein spezifisch und akut “antisuizidal” wirksames Medikament existiert nicht. Es wird empfohlen Antidepressiva zu verwenden, die die Agitation des Patienten nicht verstärken. Viele Kliniker behandeln suizidale Patienten zusätzlich mit einem Neuroleptikum oder einem Benzodiazepin. Suizidalen Patienten sollten nur geringe Dosen eines Medikaments ausgehändigt werden, speziell bei einer Behandlung mit potenziell letal wirkenden Antidepressiva (z. B. TZA oder irreversible MAO-Hemmer), um das Risiko einer willentlich herbeigeführten Überdosierung zu reduzieren. Bei schweren Fällen von Suizidalität kann auch ein Behandlungsversuch durch Elektrokrampftherapie in Betracht gezogen werde. Es gibt vermehrt Hinweise darauf, dass Lithiumsalze eine eigenständige “antisuizidale” Wirkung besitzen, wenn es prophylaktisch verabreicht wird.

 

 

Verbesserte Compliance

 

Als Behandlungstaktik bezeichnet man auch Maßnahmen, die eine adäquate Behandlung in ausreichender Dosierung über einen angemessenen Zeitraum mit optimaler Compliance sichern sollen. Dabei ist es von enormer Bedeutung, typischen Problemen vorzugreifen und sie mit Hilfe gezielter Gegenmaßnahmen zu überwinden. Zu diesen Problemen gehören Nebenwirkungen, Einnahme von Begleitmedikamenten, unzureichende Dosierung, unzureichende Therapiedauer sowie unzulängliche Erfassung des Behandlungsergebnisses. Vermutlich ist eine schlechte Compliance für mehr erfolglose Therapieversuche verantwortlich als die Auswahl eines bestimmten Medikamentes.

 

Die Compliance wird beeinträchtigt durch:

 

  • Art und Schwere von Nebenwirkungen,
  • die bewusste oder unbewusste Einstellung des Patienten gegenüber der Arzneimitteleinnahme und
  • den Wunsch, die Therapie zu beenden (Arzneimitteleinnahme oder Psychotherapie), sobald eine Besserung erzielt wurde.

 

Der beste Hinweis auf eine zu erwartende Compliance ist eine anamnestisch bekannte Compliance. Die Compliance ist unabhängig von Geschlecht, Ausbildungsstand und sozioökonomischem Status. Inwieweit psychiatrische oder medizinische Begleiterkrankungen die Compliance beeinträchtigen, ist unbekannt, wobei sich Persönlichkeitsstörungen vermutlich negativ auswirken (Schwierigkeiten beim Aufbauen und Unterhalten tragfähiger zwischenmenschlicher Beziehungen). Mögliche die Compliance beeinträchtigende Faktoren sollten schon vor Behandlungsbeginn berücksichtigt und eingeplant werden. Die Compliance bei antidepressiver Therapie ist höher, wenn die Patienten vorab über die Therapieziele und den Behandlungsplan aufgeklärt werden (z. B. die Zielvariablen der Therapie und die voraussichtliche Behandlungsdauer).

 

 

Autor

 

Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Michael Bauer

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum Carl Gustav Carus

Technische Universität Dresden

Fetscherstraße 74

01307 Dresden

 


 

Quelle: Meet-the-Expert der Firma Lundbeck zum Thema „Schwere Depressionen als Prüfstein – sind alle Antidepressiva gleich wirksam?“ am 27.11.2009 in Berlin (Gianni Public Relations) (tB).

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