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Risiko von venösen Thromboembolien bei Einnahme von Drospirenon-haltigen kombinierten oralen Kontrazeptiva (Yasmin®/Yasminelle®, Aida®, Yaz®, Petibelle®)

Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108, Heft 45, 11.11.2011

 

Berlin (11. November 2011) – Der AkdÄ wurde der Fall einer 22-jährigen Frau gemeldet, die ab November 2008 Aida® zur Kontrazeption eingenommen hatte (AkdÄ-Fall Nr. 151333). Es lagen keine Begleiterkrankungen vor, und es wurden keine weiteren Medikamente eingenommen. Die junge Frau war Nichtraucherin und leicht übergewichtig (Body-mass-Index [BMI]: 26,8). Es wird beschrieben, dass sie sich regelmäßig körperlich betätigt hat (Radfahrerin). Eine Immobilisation, z.B. durch eine akute Erkrankung, bestand nicht. Im September 2009 brach die Frau vor ihrer Haustür plötzlich bewusstlos zusammen. Der alarmierte Notarzt fand die Patientin komatös auf und begann unverzüglich mit Reanimationsmaßnahmen. Im EKG wurde einmalig Kammerflimmern bei ansonsten durchgehender Asystolie dokumentiert. Nach Eintreffen im Krankenhaus zeigte eine transthorakale Echokardiographie einen großen rechten Ventrikel mit paradoxer Septumkontraktion, so dass von einer fulminanten Lungenembolie als Ursache ausgegangen wurde. Unter einer daraufhin durchgeführten Notfall-Lysebehandlung gelang eine Kreislaufstabilisierung, die mit Volumensubstitution und Katecholaminen aufrechterhalten werden konnte. Im Verlauf zeigte sich jedoch ein schweres, nicht therapierbares Hirnödem, an dem die Frau starb. Eine Sektion wurde nicht durchgeführt. Bei einer retrospektiven Befragung von Kontaktpersonen ergab sich, dass die Frau in den Wochen vor dem Ereignis über Wadenschmerzen geklagt hatte, die sie zunächst auf das Radfahren zurückführte und die von ärztlicher Seite als Muskelzerrung interpretiert wurden.

 

Der dargestellte Fall sowie aktuell publizierte Daten werden von der AkdÄ zum Anlass genommen, die aktuelle Einschätzung des Risikos von thromboembolischen Ereignissen unter hormonaler Kontrazeption darzustellen und Hinweise für die Verordnung zu geben.

 

Venöse thromboembolische Ereignisse (VTE) sind selten. Bei Frauen, die kein hormonales Kontrazeptivum einnehmen, geht man von einer Häufigkeit von fünf bis zehn Fällen pro 100.000 Frauen pro Jahr aus (1, 2). Zu den Risikofaktoren für VTE bei ansonsten Gesunden zählen unter anderem Adipositas, Immobilisation, Rauchen und die Einnahme von hormonalen Kontrazeptiva (3).

 

Bei den heute gängigen kombinierten oralen Kontrazeptiva (KOK) mit niedrigem Estrogengehalt (< 50 µg Ethinylestradiol pro Pille, meistens 20–35 µg) wird das Thromboembolierisiko vom Gestagenbestandteil beeinflusst. Für die KOK der zweiten Generation mit Levonorgestrel wird eine VTE-Häufigkeit von 20 Fällen pro 100.000 Frauen pro Jahr angegeben, während bei den KOK der dritten Generation mit Gestoden oder Desogestrel eine Häufigkeit von bis zu 40 Fällen pro 100.000 Frauen pro Jahr angenommen wird (2).

 

Das VTE-Risiko unter KOK mit Drospirenon musste von der europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA) aufgrund aktueller Studienergebnisse mehrfach neu bewertet werden. Nach der EURAS- und der INGENIX-Studie (4, 5) war man zunächst davon ausgegangen, dass das VTE-Risiko unter Drospirenon dem von Levonorgestrel entsprechen würde. Aufgrund der Ergebnisse einer dänischen Kohortenstudie und einer niederländischen Fallkontrollstudie wurde diese Annahme im letzten Jahr revidiert und das Risiko von Drospirenon zwischen dem der zweiten und der dritten KOK-Generation gesehen (6–8). Die dänische Studie hatte Limitationen, da eine familiäre Prädisposition und der BMI nicht berücksichtigt wurden. Aus diesem Grund führte die EMA jetzt eine Reanalyse der dänischen Daten durch und bezog zusätzlich die Ergebnisse von zwei aktuellen Fallkontrollstudien in die Bewertung ein (9, 10).

 

Im Ergebnis dieser Bewertung weist die EMA darauf hin, dass das Risiko von thromboembolischen Ereignissen unter allen KOK sehr gering ist (2). Unter Drospirenon-haltigen KOK ist das Risiko ist jedoch höher als unter Levonorgestrel-haltigen; es entspricht vermutlich dem von KOK der dritten Generation (Desogestrel beziehungsweise Gestoden).

 

In Deutschland sind Levonorgestrel-haltige KOK mit 89,3 Millionen verordneten DDD die führende Gruppe unter den hormonalen Kontrazeptiva. Drospirenon-haltige KOK werden mit 73,7 Millionen DDD jedoch sehr häufig verordnet und zeigen unter den Kontrazeptiva als einzige Gruppe eine Zunahme der Verordnungen (11). Obwohl es sich um seltene Ereignisse handelt, sollte das Risiko von thromboembolischen Ereignissen bei der Auswahl eines Kontrazeptivums aus Sicht der AkdÄ berücksichtigt werden. Dies gilt vor allem, wenn weitere Risikofaktoren vorliegen. In der Fallkontrollstudie von Jick et al. (9) war eine fast fünffache Erhöhung des Thromboembolierisikos unter Drospirenon gegenüber Levonorgestrel in der Gruppe der unter 30-jährigen Frauen auffällig. Daher sollte insbesondere in dieser Altersgruppe bevorzugt ein Levonorgestrel-haltiges Präparat eingesetzt werden, auch wenn aus kosmetischen Gründen häufig die Verordnung Drospirenon-haltiger Präparate erwogen wird (Gewichtsreduktion und verminderte Akneneigung durch antimineralokortikoide bzw. antiandrogene Wirkung). Bei der Verordnung eines hormonalen Kontrazeptivums sollten die Frauen auf das Thromboembolierisiko und mögliche Warnsymptome wie Schmerzen und Schwellungen in den Beinen hingewiesen werden. Sie sollten auch darüber aufgeklärt werden, dass sich durch die Kombination Rauchen und Einnahme der Pille das Risiko für ein thromboembolisches Ereignis erhöht – in einer Untersuchung um das 8,8-fache (12).

 

 

Literatur

  1.  BfArM: Drospirenonhaltige orale Kontrazeptiva (z. B. Yasmin®) – Aktualisierung der Produktinformationen zum Risiko venöser Thromboembolien. Risikoinformation vom 30. Mai 2011. Zuletzt geprüft: 25. Juni 2011.
  2. EMA: Pharmacovigilance Working Party (PhVWP): Ethinylestradiol + drospirenone-containing oral contraceptives (YASMIN, YASMINELLE and other products) – Risk of venous thromboembolism. Plenary Meeting, Mai 2011. Zuletzt geprüft: 20. Juli 2011.
  3. Previtali E, Bucciarelli P, Passamonti SM, Martinelli I: Risk factors for venous and arterial thrombosis. Blood Transfus 2011; 9: 120–38.
  4. Dinger JC, Heinemann LA, Kuhl-Habich D: The safety of a drospirenone-containing oral contraceptive: final results from the European Active Surveillance Study on oral contraceptives based on 142,475 women-years of observation. Contraception 2007; 75: 344–54.
  5. Seeger JD, Loughlin J, Eng PM, et al.: Risk of thromboembolism in women taking ethinylestradiol/drospirenone and other oral contraceptives. Obstet Gynecol 2007; 110: 587–93.
  6. Lidegaard O, Lokkegaard E, Svendsen AL, Agger C: Hormonal contraception and risk of venous thromboembolism: national follow-up study. BMJ 2009; 339: b2890.
  7. van Hylckama V, Helmerhorst FM, Vandenbroucke JP, et al.: The venous thrombotic risk of oral contraceptives, effects of oestrogen dose and progestogen type: results of the MEGA case-control study. BMJ 2009; 339: b2921.
  8. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Risiko von venösen Thromboembolien bei Einnahme von kombinierten oralen Kontrazeptiva, die Drospirenon enthalten (z. B. Yasmin®, Petibelle®). AkdÄ Drug Safety Mail 2010–096 vom 26. April 2010.
  9. Jick SS, Hernandez RK: Risk of non-fatal venous thromboembolism in women using oral contraceptives containing drospirenone compared with women using oral contraceptives containing levonorgestrel: case-control study using United States claims data. BMJ 2011; 342: d2151.
  10. Parkin L, Sharples K, Hernandez RK, Jick SS: Risk of venous thromboembolism in users of oral contraceptives containing drospirenone or levonorgestrel: nested case-control study based on UK General Practice Research Database. BMJ 2011; 342: d2139.
  11. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2010. Berlin, Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2010.Pomp ER, Rosendaal FR, Doggen CJ: Smoking increases the risk of venous thrombosis and acts synergistically with oral contraceptive use. Am J Hematol 2008; 83: 97–102.


Quelle: Arzneimittelkommission der Deutsche Ärzteschaft (AkdÄ), 11.11.2011 (tB).

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