Verlängerte Narkose verändert Hirnverknüpfungen

 

Bonn (19. Februar 2021) — Das medizinisch induzierte Koma („Narkose“) stellt ein lebensrettendes Verfahren dar, das jedes Jahr weltweit bei Millionen von Patienten auf Intensivstationen durchgeführt wird. Während der COVID-19-Pandemie ist das intensivmedizinisch unerlässliche Verfahren noch deutlicher in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Abhängig von der Schwere der Erkrankung ist es notwendig, eine Narkose Tage bis Wochen aufrechtzuerhalten. Intensivmedizinische Patienten aber haben nach dem Aufwachen oft Denk- und Gedächtnisschwierigkeiten, sodass Angehörige immer wieder berichten, dass die Patienten nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht mehr dieselben waren. Durch hochauflösende Mikroskopie im lebenden Gehirn haben Forscher der Columbia University in den USA und der Universität Bonn nun eine Verbindung dieser koma-assoziierten neurokognitiven Defizite und Veränderungen der strukturellen Verknüpfungen des Gehirns identifiziert. Die Studie ist in der Fachzeitschrift PNAS erschienen.

„Es ist seit langem bekannt, dass Überlebende der Intensivstation oft an dauerhaften Beeinträchtigungen wie zum Beispiel Verwirrung oder Gedächtnisverlust leiden, die sich über Monate bis hin zu Jahren ziehen können“, betont Hauptautor Dr. Michael Wenzel. Er führte die Studie als Postdoktorand an der Columbia University durch und ist nun als Arzt und Forscher in der Klinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn tätig.

„Bis jetzt wurden trotz der zahlreichen Hinweise darauf, dass insbesondere auch im Erwachsenenalter ein Zusammenhang zwischen verlängerter Anästhesie und Einschränkung von Kognition besteht, die direkten Auswirkungen auf die neuronalen Verbindungen nicht untersucht“, sagt Rafael Yuste, Professor für Biologische Wissenschaften an der Columbia University. „Das liegt daran, dass es schwierig ist, die Gehirne von Patienten mit einer Auflösung zu untersuchen, die hoch genug ist, die Verbindungen zwischen einzelnen Neuronen überwachen zu können.“

Um dieses Problem zu umgehen, entwickelten die Forscher eine experimentelle Plattform in Mäusen, mit der sie Verbindungen zwischen Neuronen („Synapsen“) während verlängerter Narkose und damit verbundene kognitive Auswirkungen untersuchen konnten. Dabei griffen sie auf eigene Erfahrungen von Michael Wenzel in der Neurointensivmedizin zurück. Sie führten eine kontinuierliche Anästhesie für bis zu 40 Stunden durch – ein Vielfaches länger als die bisher längste Tierstudie (rund sechs Stunden). Mithilfe der Zwei-Photonen-Mikroskopie konnten die Forscher Synapsen im lebenden Organismus mit einer Auflösung im Bereich von tausendstel Millimetern (Mikrometer) sichtbar machen und für viele Tage verfolgen – vor, während und nach Narkose.

 

Veränderungen der synaptischen Architektur unabhängig vom Alter

Entgegen der herrschenden Vorstellung, dass Verbindungen zwischen Neuronen im erwachsenen Gehirn während einer Narkose stabil bleiben, fanden die Forscher heraus, dass eine längere Narkose die synaptische Architektur des Gehirns unabhängig vom Alter signifikant verändert. „Unsere Ergebnisse sind ein Signal insbesondere an die Intensivmedizin, da sie einen physikalischen Zusammenhang zwischen kognitiver Beeinträchtigung und längerem medizinisch induziertem Koma herstellen“, betont Michael Wenzel.

Da es sich bei dieser Studie um eine Pilotstudie in Mäusen handelt, sind weitere Untersuchungen erforderlich, so die Forscher. Es sei wichtig zu wissen, ob bestimmte Anästhetika-Kombinationen mit zunehmender Narkosedauer vorteilhafter für Denkvermögen und Alltagsfähigkeit nach dem Aufenthalt auf Intensivstation sind als andere. Darüber hinaus gebe es kaum standardisierte Unterstützungsmaßnahmen zur Erhaltung einer gesunden Hirnstruktur während Langzeitanästhesie, im Gegensatz zu täglichen physiotherapeutischen Maßnahmen, die wichtig sind, um einer Gelenkversteifung und Muskelschwund entgegenzuwirken.

„Wir sind uns darüber bewusst, dass die Anästhesie ein lebensrettendes Verfahren ist“, sagt Wenzel. „Die Verfeinerung der Behandlungspläne von Patienten und die Entwicklung unterstützender Therapien aber, die das Gehirn während einer längeren Anästhesie in Form halten, würden das Outcome für diejenigen, deren Leben gerettet wird, deren Lebensqualität aber beeinträchtigt bleibt, erheblich verbessern.“

 

Förderung

Die Studie wurde durch das National Eye Institute, das National Institute of Mental Health, das Hertie Exzellenznetzwerk für klinische Neurowissenschaften und das Donostia International Physics Center gefördert.

 

 

Publikation

  • Michael Wenzel, Alexander Leunig, Shuting Han, Darcy S. Peterka, Rafael Yuste: Prolonged anesthesia alters brain synaptic architecture. PNAS;
    DOI: 10.1073/pnas.2023676118

 

Link zur Studie: https://www.pnas.org/content/118/7/e2023676118

 

 


Quelle: Universitätsklinikum Bonn, 19.02.2021 (tB).

Schlagwörter: , ,

MEDICAL NEWS

IU School of Medicine researchers develop blood test for anxiety
COVID-19 pandemic increased rates and severity of depression, whether people…
COVID-19: Bacterial co-infection is a major risk factor for death,…
Regenstrief-led study shows enhanced spiritual care improves well-being of ICU…
Hidden bacteria presents a substantial risk of antimicrobial resistance in…

SCHMERZ PAINCARE

Hydromorphon Aristo® long ist das führende Präferenzpräparat bei Tumorschmerz
Sorgen und Versorgen – Schmerzmedizin konkret: „Sorge als identitätsstiftendes Element…
Problem Schmerzmittelkonsum
Post-Covid und Muskelschmerz
Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln

DIABETES

Wie das Dexom G7 abstrakte Zahlen mit Farben greifbar macht…
Diabetes mellitus: eine der großen Volkskrankheiten im Blickpunkt der Schmerzmedizin
Suliqua®: Einfacher hin zu einer guten glykämischen Kontrolle
Menschen mit Diabetes während der Corona-Pandemie unterversorgt? Studie zeigt auffällige…
Suliqua® zur Therapieoptimierung bei unzureichender BOT

ERNÄHRUNG

Positiver Effekt der grünen Mittelmeerdiät auf die Aorta
Natriumaufnahme und Herz-Kreislaufrisiko
Tierwohl-Fleisch aus Deutschland nur mäßig attraktiv in anderen Ländern
Diät: Gehirn verstärkt Signal an Hungersynapsen
Süßigkeiten verändern unser Gehirn

ONKOLOGIE

Strahlentherapie ist oft ebenso effizient wie die OP: Neues vom…
Zanubrutinib bei chronischer lymphatischer Leukämie: Zusatznutzen für bestimmte Betroffene
Eileiter-Entfernung als Vorbeugung gegen Eierstockkrebs akzeptiert
Antibiotika als Störfaktor bei CAR-T-Zell-Therapie
Bauchspeicheldrüsenkrebs: Spezielle Diät kann Erfolg der Chemotherapie beeinflussen

MULTIPLE SKLEROSE

Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich
Neuer Biomarker für Verlauf von Multipler Sklerose
Multiple Sklerose: Analysen aus Münster erhärten Verdacht gegen das Epstein-Barr-Virus
Aktuelle Daten zu Novartis Ofatumumab und Siponimod bestätigen Vorteil des…
Multiple Sklerose durch das Epstein-Barr-Virus – kommt die MS-Impfung?

PARKINSON

Meilenstein in der Parkinson-Forschung: Neuer Alpha-Synuclein-Test entdeckt die Nervenerkrankung vor…
Neue Erkenntnisse für die Parkinson-Therapie
Cochrane Review: Bewegung hilft, die Schwere von Bewegungssymptomen bei Parkinson…
Technische Innovationen für eine maßgeschneiderte Parkinson-Diagnostik und Therapie
Biomarker und Gene: neue Chancen und Herausforderungen für die Parkinson-Diagnose…