DEUTSCHER SCHMERZ- UND PALLIATIVTAG 2018 – 29. Deutscher interdisziplinärer Schmerz- und Palliativkongress

Vorstellung aktueller Umfrageergebnisse und neuer DGS PraxisLeitlinie:
1 Jahr Cannabis-Gesetz: Neue Wege in der Versorgung

Berlin / Frankfurt, 9. März 2018 – Das Jahr 2017 stand in den Medien stark unter dem Eindruck des neuen Gesetzes zur Verordnung von Cannabinoiden. Erwartungsgemäß hat das im März letzten Jahres in Kraft getretene Cannabisgesetz zu einem sprunghaften Anstieg der Anträge auf Kostenübernahme für cannabis-basierte Therapien durch die gesetzlichen Krankenversicherungen geführt. Das bestätigen jetzt auch aktuelle Daten aus einer von Bionorica ethics in Auftrag gegebenen Befragung unter Verordnern von cannabisbasierten Wirkstoffen. „Die Zahlen machen deutlich, dass neben der vorhandenen positiven Therapieerfahrung vor allem der Notstand in der Behandlung schwerwiegender Symptome im Vordergrund steht“, erklärte Dr. Johannes Horlemann, der neue DGS-Präsident, bei einer Themen-Pressekonferenz anlässlich des 29. Deutschen Schmerz- und Palliativtags in Frankfurt.

Die Anzahl der Verordnungen hat sich allein in den ersten neun Monaten auf über 8.500 Rezepte mehr als verdoppelt (s.u.).1 Ende Februar 2018 gab es bereits mehr als 10.000 bewilligte Anträge bei den drei größten Krankenkassen.2 Dieser Trend wurde durch die vom Marktforschungsinstitut Exevia durchgeführte Befragung unter 89 Verordnern von cannabisbasierten Wirkstoffen (36 Schmerztherapeuten, 18 Palliativmediziner, 28 APIs und 7 sonstige Fachgruppen) jetzt bestätigt: Demnach ist die Anzahl der auf Cannabinoide eingestellten Patienten vom 2. zum 4. Quartal 2017 um etwa 60 Prozent gestiegen.3 „Hauptindikationen für die Verordnung von Medizinalhanf und davon abgeleiteten Wirkstoffen waren chronische, vor allem neuropathische Schmerzen. Weitere Einsatzfelder waren Spastiken, tumorbehandlungsassoziierte Beschwerden und palliative Beschwerdekomplexe“, erklärte Roland Herterich, Exevia GmbH, Nürnberg. Von den oben genannten 8.500 GKV-Verordnungen sind die Rezepte für cannabishaltige Zubereitungen von März bis Dezember auf fast das 7-Fache von 474 auf 3.186 angestiegen. Die Zahl der Verordnungen von Blüten ist auf circa 1.700 GKV-Rezepte gestiegen. Dagegen gab es bei den Fertigarzneimitteln nur einen leichten Anstieg zu verzeichnen (von 3.119 auf 3.785 Rezepte).1 „Im Vergleich zu anderen cannabisbasierten Wirkstoffen wurde Dronabinol sowohl hinsichtlich der Wirksamkeit in den genannten Indikationen als auch in Bezug auf Verträglichkeit und Nutzen-Risiko-Profil von den befragten 89 Ärzten am besten bewertet“, erklärte Herterich.

PraxisLeitlinie zur Verordnung von Cannabinoiden in den Startlöchern

„Aktuell liegt die Bewilligungsquote bei rund 75 Prozent“, erklärte Horlemann. Aus seiner Sicht decken sich die Ergebnisse mit seinen Erfahrungen sowie den aktuell von verschiedenen Quellen publizierten Zahlen. Dass ein Teil der Nichtbewilligung auf unvollständige Anträge zurückzuführen ist, wundert ihn nicht: „Der Bürokratismus und Unsicherheit bezüglich der Antragstellung und -bewilligung stehen nach wie vor einem häufigeren Einsatz von Cannabinoiden im Wege.“ In der Februar-Ausgabe der Zeitschrift Schmerzmedizin– dem Verbandsorgan der DGS – hat Horlemann daher exemplarische Musteranträge zur Unterstützung bisher diesbezüglich noch weniger erfahrenen Kolleginnen und Kollegen bei der Antragstellung publiziert.4

„Viele Ärzte sind noch unsicher bei der Versorgung mit Cannabinoiden, wissen zu wenig über neue Therapieoptionen und befürchten Regresse“, erklärte Horlemann. „Die Verordner benötigen stabile Rahmenbedingungen, auch innerhalb der vorhandenen Evidenz, um eine Therapie mit Cannabinoiden sinnvoll, ethisch gesichert und pharmakologisch sicher durchzuführen.“ Daher arbeitet die DGS an einer neuen PraxisLeitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“. Sie soll die ärztlichen Kollegen bei der Verordnung von Cannabinoiden, auch im Umgang mit den Krankenkassen, unterstützen. Die DGS PraxisLeitlinie befindet sich derzeit in der Kommentierungsphase5. Sie wird für die Verordnungssicherheit von Patienten wie auch von Anwendern in der Zukunft eine große Bedeutung haben.

Die Leitlinie bekennt sich zu einer patientenzentrierten Medizin und grenzt sich bewusst ab von krankheits- und studienevidenz-fokussierten Ansätzen. Folgerichtig sind die Empfehlungen offen formuliert: „2. Die Indikation chronischer Schmerz ist eine mögliche Indikation für die Verordnung von Cannabinoiden. Empfehlungsgrad: A.“ Die gleiche Formulierung wurde gewählt für die Indikationen Tumorschmerz, nichttumorbedingter Schmerz, neuropathischer Schmerz, Schlafstörung bei chronischem Schmerz und spastischer Schmerz bei Multipler Sklerose mit Empfehlungsgrad A und für die Indikationen Untergewicht/Appetitlosigkeit/Kachexie (insbesondere bei HIV-Patienten), M. Crohn-Beschwerden und chemotherapiebedingte Übelkeit und Erbrechen mit Empfehlungsgrad B. Die mögliche Anwendung bei viszeralem Schmerz und Tourette-Syndrom trägt Empfehlungsgrad C. Für sonstige Indikationen werden keine generellen Empfehlungen formuliert.

Zu den deutlichsten Empfehlungen des Entwurfs gehört ein Verzicht auf die Verordnung von Cannabisblüten: „Aufgrund einer erheblichen Variabilität der Wirkstoffkonzentration durch Zubereitungsprozeduren, der Gefahr übertherapeutischer Dosierungen, aber auch aufgrund möglicher Verunreinigungen sowie der Schwankungsbreite der Konzentrationen der Wirkstoffe in den Pflanzenanteilen und aufgrund möglicher Überschneidungen mit dem Freizeitgebrauch ist die Verordnung von Cannabisblüten zu medizinischen Zwecken nicht zu empfehlen. Es existiert keine wissenschaftliche Grundlage, die den medizinischen Einsatz bestimmter Cannabisblüten als sinnvoll erscheinen lässt.“ Als Wirkstoffe, die sich für einen therapeutischen Einsatz eignen, werden Nabiximols und Nabilon als Fertigarzneimittel und der Rezepturwirkstoff Dronabinol genannt, der als einziges Cannabinoid bereits seit 20 Jahren (Februar 1998) in Deutschland verkehrs- und verordnungsfähig ist.


Anmerkungen und Literaturverweise

  1. INSIGHT Health GmbH & Co. KG
  2. http://www.handelsblatt.com/my/unternehmen/industrie/marihuana-als-medizin-cannabis-auf-rezept-ist-gefragt-viele-unternehmen-profitieren/21032554.html?ticket=ST-5716211-BhKTrkTPj1qCEuZEdljY-ap1
  3. Exevia, Februar 2018
  4. Horlemann: So verordnen Sie Cannabinoide richtig. Schmerzmedizin 2018; 34 (1), 43-45
  5. https://www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis/Kommentierung

 

 


 

Quelle: Deutscher Schmerz- und Palliativtag, 09.03.2018 (tB).

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