MEDIZIN

DOC-CHECK LOGIN

Wahrnehmungsstörung könnte Grund sein

Schwindel ohne Befund

 

München (2. August 2019) — Patientinnen und Patienten, die unter funktionellem Schwindel leiden, haben oft eine Odyssee zu unterschiedlichen Ärzten hinter sich, weil sich keine organischen Ursachen feststellen lassen. Ein Experiment an der Technischen Universität München (TUM) klärt nun erstmals mögliche Gründe für die Krankheit auf: Erkrankte haben Probleme in der senso-motorischen Verarbeitung im Gehirn, die denen von Personen mit organischen Schwindel-Ursachen ähneln.

Die Münchner Forscherinnen und Forscher hatten schon vor einigen Jahren die These aufgestellt, dass funktionelle Erkrankungen auf einer fehlerhaften Verarbeitung von Wahrnehmungsreizen beruhen. Das Team um Prof. Nadine Lehnen, Funktionsoberärztin der Psychosomatik am TUM-Universitätsklinikum rechts der Isar, konnte diese These nun mit einer ersten experimentellen Pilotstudie stützen.

Acht an funktionellem Schwindel Erkrankte und elf Gesunde als Vergleichsgruppe nahmen daran teil. Zudem wurden Daten von Schwindel-Patientinnen und -Patienten mit organischen Defekten herangezogen, die bereits in früheren Untersuchungen dasselbe Experiment durchlaufen hatten. Sie hatten entweder eine Kleinhirnstörung oder keine funktionierenden Gleichgewichtsnerven mehr.

 

Schwindel-Patienten zeigen starke Defizite

Während des Experiments saßen die Teilnehmenden in einem dunklen Raum, wo in schnellem Wechsel links oder rechts an der Wand Lichtpunkte erschienen, zu denen sie blicken sollten. Die Augen- und Kopfbewegungen während der Blickbewegung wurden erfasst. Anschließend erhielten sie einen Helm mit Gewichten, um die Trägheit des Kopfes zu verändern. Beim Drehen wackelte der Kopf dadurch stark. Das Experiment wurde mit und ohne Helm durchgeführt.

Während die Gesunden ihre Bewegung schnell an die neuen Gegebenheiten anpassten und der Kopf bald nicht mehr wackelte, taten sich alle Probanden mit funktionellem Schwindel hierbei schwer. Was das Forschungsteam verblüffte, war die Tatsache, dass sich Letztere dadurch genauso verhielten wie die Probanden mit massiven organischen Schwindelursachen.

„Unsere Ergebnisse machen beeindruckend klar, dass sich funktioneller Schwindel so äußerte wie schwere körperliche Erkrankungen, zum Beispiel nach komplettem Verlust der Funktion der Gleichgewichtsnerven. Das spiegelt wider, wie stark diese Menschen eingeschränkt sind“, sagt Nadine Lehnen.

 

Experiment liefert mögliche Erklärung für funktionellen Schwindel

Auf der Basis von Vorerfahrung, die im Gehirn in Form sogenannter gelernter Modelle gespeichert wird, bilden Menschen eine Erwartung über die sensorischen Eindrücke, die durch eine Bewegung entstehen. Diese Erwartung wird mit den Informationen zum Beispiel von den Gleichgewichtsorganen verglichen. Verhält sich der Kopf anders als normal, passen beide Informationen nicht mehr zusammen. Es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Erwartung und Realität, was man als „Vorhersagefehler“ bezeichnet.

„Gesunde können diesen Fehler problemlos wahrnehmen, verarbeiten und ihre Bewegung anpassen. Bei funktionellen Schwindel-Patienten scheinen die senso-motorischen Eindrücke jedoch nicht korrekt verarbeitet zu werden. Sie verlassen sich primär auf ihr gespeichertes Modell, das aber nicht mehr zur neuen Realität passt“, erklärt sie und ergänzt: “Für uns war spannend, dass bei ihnen aber ein Lernen möglich ist – nur eben eingeschränkt.“ Für sie wäre es deshalb wichtig, diese Menschen mit therapeutischen Ansätze zu behandeln, die dieses Verarbeitungsdefizit berücksichtigen. In einer geplanten großen Studie sollen die aktuellen Ergebnisse noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden.

 

Originalpublikation

  • Nadine Lehnen, Lena Schröder, Peter Henningsen, Stefan Glasauer, Cecilia Ramaioli: Deficient head motor control in functional dizziness: Experimental evidence of central sensory-motor dysfunction in persistent physical symptoms, Progress in Brain Research, 2019, DOI: 10.1016/bs.pbr.2019.02.006
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31325997

 

Weitere Informationen

 

Abbildung oben: Dr. Cecilia Ramaioli (links) überprüft den Sitz des Helms mit Gewichten bei einem Probanden. Prof. Nadine Lehnen stellt im Hintergrund den Computer für das Experiment ein. Photo- und Copyright: A. Heddergott / TUM

 


Quelle: Technische Universität München, 02.08.2019 (tB).

Schlagwörter:

MEDICAL NEWS

IU School of Medicine researchers develop blood test for anxiety
COVID-19 pandemic increased rates and severity of depression, whether people…
COVID-19: Bacterial co-infection is a major risk factor for death,…
Regenstrief-led study shows enhanced spiritual care improves well-being of ICU…
Hidden bacteria presents a substantial risk of antimicrobial resistance in…

SCHMERZ PAINCARE

Hydromorphon Aristo® long ist das führende Präferenzpräparat bei Tumorschmerz
Sorgen und Versorgen – Schmerzmedizin konkret: „Sorge als identitätsstiftendes Element…
Problem Schmerzmittelkonsum
Post-Covid und Muskelschmerz
Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln

DIABETES

Wie das Dexom G7 abstrakte Zahlen mit Farben greifbar macht…
Diabetes mellitus: eine der großen Volkskrankheiten im Blickpunkt der Schmerzmedizin
Suliqua®: Einfacher hin zu einer guten glykämischen Kontrolle
Menschen mit Diabetes während der Corona-Pandemie unterversorgt? Studie zeigt auffällige…
Suliqua® zur Therapieoptimierung bei unzureichender BOT

ERNÄHRUNG

Positiver Effekt der grünen Mittelmeerdiät auf die Aorta
Natriumaufnahme und Herz-Kreislaufrisiko
Tierwohl-Fleisch aus Deutschland nur mäßig attraktiv in anderen Ländern
Diät: Gehirn verstärkt Signal an Hungersynapsen
Süßigkeiten verändern unser Gehirn

ONKOLOGIE

Strahlentherapie ist oft ebenso effizient wie die OP: Neues vom…
Zanubrutinib bei chronischer lymphatischer Leukämie: Zusatznutzen für bestimmte Betroffene
Eileiter-Entfernung als Vorbeugung gegen Eierstockkrebs akzeptiert
Antibiotika als Störfaktor bei CAR-T-Zell-Therapie
Bauchspeicheldrüsenkrebs: Spezielle Diät kann Erfolg der Chemotherapie beeinflussen

MULTIPLE SKLEROSE

Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich
Neuer Biomarker für Verlauf von Multipler Sklerose
Multiple Sklerose: Analysen aus Münster erhärten Verdacht gegen das Epstein-Barr-Virus
Aktuelle Daten zu Novartis Ofatumumab und Siponimod bestätigen Vorteil des…
Multiple Sklerose durch das Epstein-Barr-Virus – kommt die MS-Impfung?

PARKINSON

Meilenstein in der Parkinson-Forschung: Neuer Alpha-Synuclein-Test entdeckt die Nervenerkrankung vor…
Neue Erkenntnisse für die Parkinson-Therapie
Cochrane Review: Bewegung hilft, die Schwere von Bewegungssymptomen bei Parkinson…
Technische Innovationen für eine maßgeschneiderte Parkinson-Diagnostik und Therapie
Biomarker und Gene: neue Chancen und Herausforderungen für die Parkinson-Diagnose…