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Was hat uns Albert Camus Werk „Die Pest“
in der aktuellen Krise zu sagen?
Vallendar (28. April 2020) — Auch wenn die aktuelle Zeit in der Corona-Krise einige gravierende Einschränkungen mit sich bringt, so bietet sie auch Chancen über christliche Werte, Begriffe wie Solidarität, Nächstenliebe oder Dankbarkeit (neu) nachzudenken und hebt die Wichtigkeit (guter) Pflege nochmal auf eine neue Bedeutungsebene. Die Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar (PTHV) veröffentlicht ab sofort regelmäßig erscheinende Impulse und Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der PTHV und liefert damit geistige Anregungen zu drängenden Fragen im Rahmen der Corona-Krise für Kirche, Gesellschaft und Politik.
Impuls von: Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Lehrstuhl für Gerontologische Pflege an der PTHV und Verena Breitbach, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der PTHV, Soziologin und Wissenschaftsjournalistin: Was hat uns Albert Camus Werk „Die Pest“ in der aktuellen Krise zu sagen?
Für die Corona-Krise ist in der allgemeinen Öffentlichkeit ein „Buch der Stunde“ ausgerufen worden, in Zeiten der Corona-Krise spendet diese Literatur Trost und steht seit März auf Frankreichs Bestsellerlisten. Die 90. Neuauflage dieses Werks hat Rowohlt angekündigt, im Internet ist es ausverkauft. Worum geht es? Die Rede ist von dem 1947 erschienenen Roman „Die Pest“ des französischen Nobelpreisträgers Albert Camus. Erzählt wird die Geschichte der Einwohner der nordalgerischen Hafenstadt Oran, die sich ein Jahr lang gegen die Pest stemmen. Auch wenn die damalige Seuche und Covid-19 nicht vergleichbar miteinander sind und ebenso wenig die medizinischen Bedingungen, so gibt es doch auffällige Parallelen zu den 1940er Jahren, der Wahrnehmung der Situation und dem Umgang mit ihr.
Im Zentrum seines Romans, der vielmehr als Chronik zu lesen ist, steht der Arzt Rieux, der die Seuche von Beginn an miterlebt. Als dieser aus seiner Wohnung tritt stolpert er über eine tote Ratte. Er berichtet darüber dem Hauswart, der dieses Vorkommnis zunächst nicht wahrhaben will – es gäbe keine Ratten im Haus. In kurzer Zeit jedoch verbreiten sich die toten Ratten überall und führen zu der Erkenntnis, dass die gesamte Stadt einem Unheil zum Opfer gefallen ist – und das ist die Pest. Zuerst sterben die Ratten, dann die Menschen. Dr. Rieux hat die Anzeichen der Seuche entdeckt, setzt sich für notwendige Hygienemaßnahmen ein und zögert nicht, die Krankenversorgung auch in den schlimmsten Zeiten dieser Katastrophe fortzusetzten. Er folgt dem ärztlichen Ethos und sieht die Bewahrung der körperlichen Unversehrtheit seiner Mitmenschen als seine professionelle und humane Bestimmung. Er richtet auch nicht über jene, die andere Auffassungen vertreten. Ihm begegnen Vertreter unterschiedlicher Reaktions- und Handlungsweisen auf die Krankheit und das Sterben. Da ist zunächst der außenstehenden Besucher, der eigentlich die Stadt verlassen will, aber aufgrund der Quarantänebestimmungen daran gehindert wird. Nach anfänglichem Zögern stellt sich diese Person in den Dienst des von Dr. Rieux geleiteten Sanitätstrupps. Es gibt den scheinbar farblosen Beamten, der seine ganze Existenz der Pestabwehr widmet und sich dafür unermüdlich einsetzt. Beeindruckend ist sicher auch die Auseinandersetzung mit einem Geistlichen, der zunächst die Seuche als Strafe Gottes deutet, sich ihr am Ende selbst unterwirft. Ihnen allen gegenüber vertritt Dr. Rieux eine rational begründete Widerstandshaltung gegenüber der Pest und vertritt die Auffassung, dass man nicht hinknien, sondern kämpfen müsse. Auch angesichts des Massensterbens lässt Dr. Rieux in seiner Fürsorge für die Schwächsten nicht nach.
Welche Anschlussfähigkeiten zeichnen sich also zwischen Camus Klassiker „Die Pest“ von 1947 und der aktuellen Corona-Krise ab?
Corona ist nicht die Pest
Natürlich – der Titel des Romans ist anregend. Und die Kriegsrhetorik mancher Regierungen macht uns glauben, dass wir im Kampf befinden. Und tatsächlich – ein Blick in die Geschichte verrät uns, dass die großen Seuchen häufig in Verbindung mit Kriegen aufgetreten sind. Das gilt für die Pest in Athen während des Peloponnesischen Kriegs, die regelmäßig auftretenden Seuchen während des 30-jährigen Kriegs, auch für die Spanische Grippe, die ebenfalls Millionen Opfer gefordert hatte. Neu ist aber, dass mit Corona eine Pandemie auftritt, die nicht an Kriegszeiten gebunden ist, aber weltweit zu einer Bedrohung geworden ist. Und noch ein Unterschied zu früher fällt auf: „Die Pest aus Zentralasien in der Zeit von 1348 brauchte zwei Jahre, um vom Schwarzen Meer, dem Endpunkt der Seidenstraße, zu uns zu gelangen“. („Corona-Pandemie: Niemand kann sich abschotten.“ Interview mit Herfried Münkler, in: „Die ZEIT“, 16.04.2020.) Heute sind wir schneller.
„Wir können uns solche Pandemien eigentlich gar nicht vorstellen“
Blicken wir einmal auf die gesellschaftliche Reaktion auf die Seuche damals, ebenso wie auf die Corona-Pandemie heute. Da fällt eine gewisse Parallele auf – vom anfänglichen Nicht-Wahrhabenwollen über zögerliche Hygienemaßnahmen, Isolation, bis hin zur radikalen Abriegelung der Stadt und der Entsorgung der Toten, ohne dass die Angehörigen Abschied nehmen konnten. In der aktuellen Situation gilt das insbesondere in jenen Regionen unserer Erde, welche von der Krise massiv getroffen wurden (und werden). Wenn man die weltweite politische Reaktion betrachtet, dann ist eine gewisse Ambivalenz unverkennbar. Und das hat nicht nur etwas mit scheinbar zeitaufwändigen bürokratischen Prozeduren in der Demokratie zu tun; im Kern geht es darum, dass wir uns eine solche Pandemie eigentlich gar nicht vorstellen konnten. Um es anders zu formulieren: Wir haben uns für unverwundbar gehalten, die Krise führt uns die eigene Vulnerabilität und Abhängigkeit von Anderen drastisch vor Augen.
Aktueller Umgang mit der Angst: Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur
Ein zweiter Punkt fällt auf: der unterschiedliche Umgang mit der Angst, die von der Seuche ausgelöst wird. Wenn man aktuell in die Sozialen Netzwerke schaut, dann wird deutlich, dass hier die unterschiedlichsten Verschwörungstheorien Konjunktur haben. Gleichzeitig gibt es aber ein nahezu stoisches Grundvertrauen großer Teile der Bevölkerung in die von den Autoritäten angeordneten Maßnahmen, Medienprofi Sascha Lobo spricht von „Vernunftpanik“. (Lobo, Sascha: „Wider die Vernunftpanik“, in: www.spiegel.de, 18.03.2020. ) Der Soziologie Hartmut Rosa drückt das Gefühl wie folgt aus: „Wir sind in einem Versuchslabor. […] Was dabei herauskommt, steht völlig in den Sternen.“ („Wir sind in einem Versuchslabor“. Interview mit Hartmut Rosa, in: taz, 25.3.2020.) So werden die Einschränkungen mehr oder weniger ohne Murren akzeptiert oder wie Hartmut Rosa schreibt: „Ich staune noch immer, dass innerhalb so kurzer Zeit in einem so großen geografischen Ausmaß so viele Prozesse ausgesetzt wurden. Es gibt eine gewaltige wirtschaftliche und soziale Verlangsamung, doch diese ist verbunden mit einer physischen Verlangsamung, die körperlich spürbar ist.“ („Auf einmal sind wir die Gejagten“. Interview mit Hartmut Rosa, in: Philosophie Magazin, 18.03.2020.) Selbst in Kriegszeiten – denken wir etwa an die Ausgangsbeschränkungen rund um die Uhr – war diese Situation nicht gegeben. Grundsätzlich ist es kein schlechtes Zeichen, dass man in dieser Krise relativ gelassen reagiert, statt sich von der Erregungsspirale in den sozialen Netzwerken irritieren zu lassen. Auch die Ansicht des italienischen Philosophen und Essayisten Giorgio Agamben, dass mit der Corona-Krise der Untergang der Demokratie bevorsteht, kann so nicht geteilt werden – so weit sind wir noch nicht. Im Gegenteil: Diese hat sich im Kern bewährt. (Vgl. Agamben, Giorgio: Zum Umgang der liberalen Demokratien mit dem Coronavirus: Ich hätte da eine Frage, in: Neue Zürcher Zeitung, 15.04.2020.)
Die Rolle des Helden – damals und heute
Ein dritter Aspekt scheint ebenfalls bedeutsam: Das ist die Rolle des Helden bei Camus. Es ist typischerweise ein Mediziner. Auch in der aktuellen Krise scharen sich viele um diese Profession. Die Berichterstattung in den Medien, die Bilder von den Intensivstationen, die nahezu gläubige Befolgung der seitens der Virologen vorgeschlagenen Maßnahmen – all dies zeigt uns, wer hier den Ton angibt. Es ist eine Schwäche der Politik, dass sie ganz im Bann einer Disziplin steht und im Moment der Krise aufhört vielstimmig zu denken und zu handeln. Das muss sich ändern! Es bleibt zu hoffen, dass nach der Krise die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Das hängt letztlich auch von uns selbst ab. Wir – als Vertreter einer Hochschule mit den Schwerpunkten Pflegewissenschaft, Theologie und Ethik, als Bürgerinnen und Bürger, haben es in der Hand, wie wir aus dieser Krise herauskommen. Entscheidend ist das Bewusstsein unserer gegenseitigen Abhängigkeit und Zugehörigkeit zueinander.
Was folgt aus dem Ganzen?
Nutzen wir diese Situation zur Stärkung der Demokratie, der Solidarität untereinander und der wachsenden Einsicht aller systemrelevanten Berufsgruppen sowie der Anerkennung der und dem Vertrauen in die Wissenschaft. Denn: „Diesmal sind nicht die Banken systemrelevant, sondern die Wissenschaften“, so Astrophysiker und Philosoph Harald Lesch im Gespräch über die Bedeutung von Wissenschaftskommunikation in Zeiten von Corona. („Diesmal sind nicht die Banken systemrelevant, sondern die Wissenschaften“. Interview mit Harald Lesch, in: Merton Magazin, 24.03.2020.) Wissenschaftskommunikation muss seit jeher den Spagat zwischen den öffentlichen Erwartungen und zugleich der Unsicherheit wissenschaftlicher Erkenntnis leisten und hat in der aktuellen Zeit vielleicht die Chance das Vertrauen dauerhaft zu erlangen.
Information zur PTHV
Die Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar (PTHV) ist eine kirchlich und staatlich anerkannte wissenschaftliche Hochschule (im Rang einer Universität) in freier Trägerschaft. Die Gesellschafter der PTHV gGmbH sind die Vinzenz Pallotti gGmbH und die Marienhaus Holding GmbH. Rund 50 Professoren und Dozenten forschen und lehren an der PTHV und betreuen etwa 500 Studierende beider Fakultäten.
Quelle: Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, 28.04.2020 (tB).