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Wenn chronisch kranke Kinder erwachsen werden
Stiftung Kindergesundheit informiert über die schwierige Suche nach der richtigen Betreuung
München (6. Oktober 2009) – Eine gute Nachricht, ohne Zweifel: Kinder mit schweren, chronischen Krankheiten, die zu früheren Zeiten nur eine begrenzte Lebensspanne hatten, erreichen heute immer häufiger das Erwachsenenalter. Dank verbesserter Behandlungsmöglichkeiten dürfen viele von ihnen trotz ihrer Behinderung mit einer Lebenserwartung rechnen, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten kaum vorstellbar gewesen wäre. Doch das Älterwerden bringt leider auch neue Probleme mit sich. Der Wechsel von der kinderärztlichen Betreuung zur Erwachsenenmedizin kann die bis dahin zufrieden stellenden Behandlungsergebnisse plötzlich in Frage stellen: Es drohen Rückschritte statt Fortschritte. Auf dieses drängende und immer größer werdende Problem macht die in München beheimatete Stiftung Kindergesundheit in ihrer aktuellen Stellungnahme aufmerksam.
„Eine geplante und organisierte Überführung der jungen Patienten an die nächste medizinische Instanz ist von großer Bedeutung“, sagt Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit und Stoffwechselexperte der Universitätskinderklinik München. „Der Wechsel der ärztlichen Bezugspersonen fällt in eine besonders sensible Phase der Entwicklung, die sorgfältig gestaltet werden muss, um das in der pädiatrischen Betreuung Erreichte nicht zu gefährden. Wachstum und Pubertät, Schulausbildung und Berufswahl, Freundschaften und Sozialleben sind angesichts der chronischen Erkrankung eine große Herausforderung. Die heranwachsenden Patienten und ihre Eltern müssen deshalb schon frühzeitig auf die unterschiedliche Arbeitsweise der Fachdisziplinen vorbereitet werden“.
Verbesserungen in der Therapie, Spezialisierung der Behandlung und die gelungene Vernetzung der Kinderarztpraxen mit Kinderkliniken und sozialpädiatrischen Zentren haben die Lebensqualität und die Lebenserwartung von vielen chronisch kranken und behinderten Kindern in bemerkenswertem Ausmaß verbessert.
Die Stiftung Kindergesundheit nennt dazu einige Beispiele:
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Die angeborene Stoffwechselstörung Mukoviszidose (auch cystische Fibrose genannt) ist zwar auch heute noch nicht heilbar, die Chancen einer Besserung sind jedoch in den letzten Jahrzehnten dramatisch gestiegen. Noch vor 60 Jahren starb die Mehrzahl der betroffenen Kinder im ersten Lebensjahr und auch die anderen überlebten nur selten die ersten vier Jahre. Dank der verbesserten Behandlungsmethoden liegt die Lebenserwartung der Betroffenen heute bei 31 Jahren.
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Die angeborene Chromosomenstörung Down-Syndrom („Trisomie 21“) ist ebenfalls nicht heilbar. Aber viele der mehr als 120 Symptome, die bei dem Leiden häufiger vorkommen, können beeinflusst oder gebessert werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen mit einer „Trisomie 21“ liegt heute bei 59 Jahren, für Männer bei 61 Jahren.
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Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung werden durchschnittlich 59 Jahre, mit einer leichten geistigen Störung 74 Jahre alt.
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Kinder, die mit einem so genannten Neuralrohrdefekt geboren werden (dazu zählen zum Beispiel Spina bifida oder die Meningomyelocele) haben heute eine zum Teil normale Lebenserwartung.
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Menschen mit spastischen Bewegungsstörungen werden abhängig vom Ausprägungsgrad ihrer Störung zwischen 20 und über 80 Jahre alt.
Seltene Krankheiten oft unbekannt
Nach einer Hochrechnung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie leben in Deutschland zurzeit rund 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen. Über 90 Prozent von ihnen werden das Erwachsenenalter erreichen. Der Bedarf für eine geregelte Übergangsversorgung beträgt zwischen 12.000 und 30.000 Menschen pro Jahrgang.
Das komplexe Problem wird von den Medizinern häufig als Transition bezeichnet. Professor Koletzko: „Gemeint ist der zielgerichtete und geplante Übergang heranwachsender und junger Erwachsener mit chronischen körperlichen oder medizinischen Problemen von einer Kind-zentrierten zu einer Erwachsenen-orientierten Gesundheitsversorgung.
Die Hürden sind dabei oft nur schwer zu überwinden: Viele der seltenen Erkrankungen sind Erwachsenenmedizinern gänzlich unbekannt. Man findet oft keine kompetenten Fachleute in erreichbarer Nähe. Die aufwändige Betreuung der einzelnen Patienten wird von den Krankenkassen nicht ausreichend honoriert. Es fällt außerdem oft schwer, im Labyrinth der Zuständigkeiten den richtigen Kostenträger zu finden“.
So lange sie noch Kinder oder Heranwachsende sind, werden die kleinen Patienten mit einer chronischen körperlichen oder geistigen Krankheit oder einer Mehrfachbehinderung in enger Zusammenarbeit mit Kinderkliniken, spezialisierten Kinder- und Jugendmedizinern und den über 130 sozialpädiatrischen Zentren in Deutschland interdisziplinär betreut. Die pädiatrische Betreuung endet je nach Vereinbarung mit den Kostenträgern zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr.
Mühsame Suche nach den Experten
Danach müssen sich aber die Eltern oft verzweifelt um eine angemessene Weiterversorgung ihrer kranken jungen erwachsenen Kinder bemühen. Sie müssen sich die Angebote der Erwachsenenmedizin bei spezialisierten Ärzten zum Beispiel für Gastroenterologie, Neurologie, Psychiatrie oder Orthopädie selbst zusammensuchen. Eine koordinierte, interdisziplinäre Zusammenarbeit findet bei den Fachdisziplinen für das Erwachsenenalter nur selten statt, so die Stiftung Kindergesundheit.
Die Unterschiede können enorm sein. Professor Koletzko: „Die Entwicklungsprozesse sind durch chronische Krankheiten verlangsamt und kompliziert. Während sich Ärzte in der Kinder- und Jugendmedizin bei der Behandlung in der Regel viel Zeit nehmen, stets Wachstum und Entwicklung des jungen Patienten berücksichtigen und die ganze Familie betreuen, fokussiert sich die Erwachsenenmedizin eher auf die Diagnostik und auf das ‚disease management’ der Krankheit sowie auf die Überwachung des Patienten“.
Finanzierung – der große Knackpunkt
Viele Erwachsenenmediziner sind zudem zur Behandlung von jungen Erwachsenen mit seltenen chronischen Krankheiten oder Behinderungen nicht ausreichend ausgebildet.
Auch die Finanzierung der notwendigerweise umfangreichen Behandlungsmaßnahmen ist unter den heutigen Rahmenbedingungen von niedergelassenen Erwachsenenmedizinern kaum zu bewerkstelligen.
Probleme gibt es aber auch von Seiten der Patienten, räumt die Stiftung Kindergesundheit ein: Es kommt häufiger zu Konflikten mit den Eltern und Ärzten über Medikation, Ernährung oder Lebensführung. Vielen Jugendlichen gelingt es nicht, eine kontinuierliche Betreuung in Anspruch zu nehmen und eine ausreichende Eigenverantwortung zu entwickeln. Sie verlieren so für kürzere oder längere Zeit den Kontakt zu der notwendigen Spezialbetreuung. Oft stellen sie sich in den fachlich qualifizierten Einrichtungen der Erwachsenenmedizin erst dann wieder vor, wenn – möglicherweise vermeidbare – Komplikationen aufgetreten sind.
Von „notwendig“ bis „kein Bedarf“
Das Problem ist bereits erkannt, wenn auch nicht allgemein akzeptiert, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. So hat der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“ für sein Sondergutachten 2009 (Titel: „Koordination und Integration – Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens“) an verschiedene wissenschaftliche Gesellschaften und Organisationen der Patientenbetreuung einen Fragebogen unter anderem zur Beurteilung der Problematik bei der Übergangsversorgung versandt. Wie zu erwarten, fielen die Antworten höchst unterschiedlich aus:
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft erkennt zwar ausdrücklich die zunehmende Notwendigkeit einer Übergangsversorgung. Sie sieht aber die Probleme weniger in den Kliniken, sondern eher im niedergelassenen Bereich.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV räumte ein: „Im Übergang von pädiatrischer zur Erwachsenenversorgung wird von Patientenseite vielfach von einer zuwendungsärmeren und weniger intensiven medizinischen Betreuung berichtet“. Sie fügte aber sogleich hinzu: „Es kann jedoch nicht sein, dass die im Rahmen der Pädiatrie gegebenenfalls entstandene Bindung regelhaft für das gesamte Patientenkollektiv der Kinderarztpraxen bis ins hohe Erwachsenenalter fortgeführt wird.
Die hierbei wahrgenommenen Defizite sind auch nicht durch die Schaffung spezifischer Versorgungsangebote einer ‚Übergangsmedizin’ lösbar“. Fazit der KBV: „Einen generellen Bedarf für besondere Maßnahmen der Übergangsversorgung sehen wir nicht. Für seltene Krankheiten können Kinderärzte die Behandlung ihrer Patienten auch bis in das Erwachsenenalter fortführen, wenn die Patienten dies z. B. aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes und der Kompetenz des Kinderarztes wünschen“.
Für den Verband der Universitätskliniken Deutschlands nahm Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Georg Friedrich Hoffmann (Heidelberg) Stellung. Er ortete das Problem im finanziellen Bereich: „Ein entscheidender fehlender Anreiz ist das Fehlen einer ausreichenden spezifischen Finanzierung der Übergangssprechstunden sowie weiterer Maßnahmen zur Verbesserung der Übergangsversorgung. An der Übergangssprechstunde nimmt die doppelte Anzahl ärztlichen Personals teil, z. B. ein Pädiater und ein Internist sowie weitere spezialisierte Berufsgruppen, z. B. Ernährungsberaterinnen, Psychologen und so weiter. Die Finanzierung derartiger Sprechstunden sollte im Rahmen einer ausreichenden Fallpauschalierung für alle chronischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters gesichert werden“.
Die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie setzt sich mit besonderem Nachdruck für eine bessere Koordination des Übergangs ein. Es könne nicht sein, dass chronisch kranke Jugendliche und ihre Familien mit Vollendung des 18. Lebensjahres als Folge der rigiden Regelungen im Krankenversicherungsrecht von ihrer bis dahin interdisziplinären und spezialisierten Betreuung auf eine Grundversorgung fallen, die eine deutlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, ihrer bereits erreichten Funktionsfähigkeiten und Teilhabemöglichkeiten nach sich zieht, so die Sozialpädiater.
Teamarbeit angemahnt
Die Stiftung Kindergesundheit empfiehlt zur Lösung des Problems die Erhöhung des Vernetzungsgrades der beteiligten Institutionen sowie die feste Etablierung von Transfersprechstunden. Idealerweise sollte der Prozess der Übergabe schon Jahre vor dem Transfer einsetzen.
Weitere Voraussetzungen
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Vorbereitung der Ablösung von den Eltern;
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Kommunikation mit Kollegen der Erwachsenenmedizin;
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Zeitkorridor zwischen 16 und 21 Jahren;
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Gemeinsame Termine mit Mitgliedern beider Teams;
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Transfer aller wichtigen Informationen;
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Absprachen/Vereinbarungen mit den Patienten;
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Unterstützung von Freunden/Erwachsenen sicherstellen;
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Telefonische Nachfragen, ob der Transferprozess erfolgreich war.
Fazit der Stiftung Kindergesundheit: Es besteht die große Gefahr, dass jugendliche Patienten mit Behinderungen und chronischen Krankheiten im komplizierten Gesundheitssystem verloren gehen. Eine Verbesserung der Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendärzten und Erwachsenenmedizinern ist deshalb dringend notwendig!
Quelle: Presseinformation der Stiftung Kindergesundheit vom 06.10.2009.