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Zerebrale Sinus- und Venenthrombosen nach Corona-Impfung sind nicht Folge einer globalen Gerinnungsstörung

 

Berlin (13. Juli 2021) — Nach COVID-19-Impfung wurden, wenn auch sehr selten, zerebrale Sinus- und Venenthrombosen beobachtet. Es konnte bereits gezeigt werden, dass bestimmte Impfstoffe bei den Betroffenen eine Autoantikörperbildung gegen Thrombozyten auslösen. Eine neue Studie [1] analysierte nun umfangreiche Gerinnungsprofile gesunder Personen nach der ersten Gabe eines Vektor- oder mRNA-Impfstoffs. Die Studie lieferte keinen Hinweis darauf, dass die Impfstoffe das generelle Thromboserisiko erhöhen. Das bedeutet, dass die beobachteten Komplikationen wahrscheinlich durch den bereits beschriebenen, seltenen autoimmunologischen Prozess ausgelöst wurden. Eine Therapie mit Immunglobulinen ist wirksam.

In sehr seltenen Fällen treten im Zusammenhang mit COVID-19-Impfungen potenziell lebensbedrohliche Ereignisse aufgrund von Gerinnungsstörungen (Koagulopathien) auf; meist zerebrale Sinus- bzw. Hirnvenenthrombosen (CSVT), aber auch andere Thrombosen oder Embolien, wie Pfortaderthrombose, Lungenembolien und Schlaganfälle. Eine deutsche Studie der DGN [2] analysierte Vakzin-assoziierte zerebrovaskuläre Ereignisse, die nach einer webbasierten Befragung im April 2021 aller neurologischen Kliniken in Deutschland gemeldet wurden. Bei 62 Patientinnen und Patienten war ein möglicher Zusammenhang mit der Impfung bestätigt worden. Die meisten Fälle standen im Zusammenhang mit einer Erstimpfung mit dem Vektorimpfstoff ChAdOx1 (AstraZene-ca) – die Rate war hierbei mehr als neunmal höher als bei mRNA-Impfstoffen. In den USA gibt es auch Fälle nach Impfung mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson [3].

Wie und warum bzw. unter welchen Umständen SARS-CoV-2-Impfstoffe in seltenen Fällen eine Koagulopathie verursachen können, ist Gegenstand aktueller Forschung. In einer Ende Juni vorab publizierten Studie [1] sollte geklärt werden, ob die Impfstoffe ein prothrombotisches Milieu verursachen können oder bei Menschen mit Prädisposition für Gerinnungsstörungen zusätzliche Bedingungen für eine Hyperkoagulabilität schaffen. Nun wurden die Ergebnisse der umfassenden Gerinnungsanalyse bei Gesunden nach ChAdOx1- oder mRNA-Impfung (BioNTech) publiziert. Die 190 Probanden sind Angehörige der Universität Padua bzw. arbeiten in der zugehörigen Universitätsklinik. Die Studie evaluierte die Gerinnungsprofile in Woche 2 nach der ersten Impfdosis und suchte Hinweise auf eine globale Hyperkoagulabilität. Eine Kohorte von 28 ungeimpften Familienmitgliedern der Probanden diente als Kontrollgruppe. Das Gerinnungsmonitoring umfasste neben der Thrombozytenzahl spezielle Laboruntersuchungen wie die sogenannte Impedanz-Aggregometrie (Messung der Aggregation) zur Prüfung der Thrombozyten-Funktion, die Thrombelastometrie zur Prüfung der Stabilität des Blutgerinnsels sowie die Bildung des Gerinnungsfaktors Thrombin aus der inaktiven Vorstufe Prothrombin (Faktor II). Insgesamt hatten 101 Probanden (53,2 Prozent) den AstraZeneca-Impfstoff und 89 (46,8 Prozent) die BionTech-Vakzine erhalten. Die Ausgangsmerkmale waren über alle Gruppen vergleichbar.

Im Ergebnis wurden nach den Impfungen keine Veränderungen bzw. Unterschiede im Gerinnungsprofil der einzelnen Gruppen gefunden. Die Ergebnisse waren konsistent auch nach Adjustierung hinsichtlich Alter, Geschlecht und Hormonstatus. Die gesonderte Betrachtung von Frauen, die orale Kontrazeptiva einnahmen, und von Trägerinnen von Thrombophilie-Genen zeigte ebenfalls keine Auffälligkeiten.

Ein Forscherteam aus Greifswald [4] hatte zuvor bei Patientinnen und Patienten mit postvakzinalen (Hirnvenen-) Thrombosen einen speziellen immunologischen Pathomechanismus nachgewiesen, der die Thrombosen erklären kann. Er ähnelt dem Mechanismus einer bekannten immunologischen Koagulopathie, die als seltene Komplikation einer Heparin-Gabe auftreten kann, der „HIT Typ II“ (heparininduzierte Thrombozytopenie). Bei den Betroffenen besteht eine Thrombozytopenie (erniedrigte Blutplättchenzahl), weil das Immunsystem Antikörper gegen den Komplex aus Heparin und Plättchenfaktor 4 (PF4) bildet. Die PF4-Antikörper aktivieren gleichzeitig die übrigen Thrombozyten, so dass Thrombosen entstehen und eine disseminierte intravasale Gerinnung bei gleichzeitiger Blutungsneigung wegen des Plättchenmangels auftreten kann. Prof. Greinacher und Kolleginnen/Kollegen konnten zeigen, dass Patienten/Patientinnen mit postvakzinalen Thrombosen im Blut PF4-Autoantikörper aufwiesen, obwohl sie zuvor nie Heparin erhalten hatten. Vorgeschlagen wurde daher die Bezeichnung Vakzine-induzierte immunogene thrombotische Thrombozytopenie (VITT).

„Zur Diagnostik bei VITT-Verdacht sind die meisten HIT-Suchtests ungeeignet, und ein negatives Ergebnis schließt nach COVID-19-Impfung PF4-Antikörper nicht aus. Es muss nach Rücksprache mit dem Labor ein hochsensitiver HIT-ELISA-Test durchgeführt werden“, kommentiert DGN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit.

Bei Patientinnen und Patienten mit VITT wird zur Behandlung die Gabe hochdosierter intravenöser Immunglobuline (IVIG) kombiniert mit einer Antikoagulation empfohlen. Dabei sollen die Immunglobuline die Autoantikörper neutralisieren und die Antikoagulation eine weitere Thrombenbildung verhindern. Eine aktuelle Publikation [5] beschreibt den Therapieeffekt bei den ersten VITT-Patienten in Kanada nach Impfung mit ChAdOx1. Sie waren 63-72 Jahre alt (zwei Männer, eine Frau). Zum Zeitpunkt dieses Berichts hatte Kanada den Einsatz des Impfstoffs auf Personen im Alter über 55 Jahre beschränkt. Zwei Betroffene hatten arterielle Thrombosen der Extremitäten, der dritte zusätzlich eine Hirnvenenthrombose. Nach Beginn der IVIG-Therapie ging die Antikörper-induzierte Plättchenaktivierung bei allen drei Betroffenen zurück. Bemerkenswert sei, so die Auto-rinnen und Autoren, dass alle drei arterielle Thrombosen hatten, denn gegenüber venösen Thrombosen sind arterielle eher selten. Es sei denkbar, dass ältere Menschen mit VITT möglicherweise häufiger arterielle als venöse Thrombosen haben. Eine mögliche Alternative zur IVIG-Therapie stellt die Plasmapherese dar, mittels der die Antikörper eliminiert werden [6].

„Es bleibt festzuhalten, dass bei der Seltenheit der VITT der Nutzen der COVID-19-Impfung weitaus überwiegt. Wenn in den zwei Wochen nach der Impfung mit einem Vektorimpfstoff anhaltende Kopfschmerzen oder Durchblutungsstörungen auftreten, sollte die Thrombozytenzahl gemessen werden. Wenn eine Thrombozytopenie vorliegt, müssen die PF4-Antikörper bestimmt werden “, schlussfolgert DGN-Generalsekretär Prof. Peter Berlit. „Zum Glück wissen wir, wie die seltene Komplikation erfolgreich behandelt werden kann.“

 

 

Literatur

[1] Campello E, Simion C, Bulato C et al. Absence of hypercoagulability after nCoV-19 vaccination: An observational pilot study. DOI: https://doi.org/10.1016/j.thromres.2021.06.016

[2] Schulz J, Berlit P, Diener H, Gerloff C, Greinacher A, Klein C, Petzold G, Poli S, Piccininni M, Kurth T Röhrig R, Steinmetz H, Thiele T. COVID-19 vaccine associazed cerebrovascular events in Germany: a descriptive study. Preprint,
https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.04.30.21256383v1

[3] See I, Su JR, Lale A, Woo EJ et al. US Case Reports of Cerebral Venous Sinus Thrombosis With Thrombocytopenia After Ad26.COV2.S Vaccination, March 2 to April 21, 2021. JAMA 2021; 325 (24): 2448-56.

[4] Greinacher A, Thiele T, Warkentin TE et al. Thrombotic Thrombocytopenia after ChAdOx1 nCov-19 Vaccination. N Engl J Med 2021 Jun 3; 384 (22): 2092-2101 doi: 10.1056/NEJMoa2104840. Epub 2021 Apr 9.

[5] Bourguignon A, Arnold DM, Warkentin TE et al. Adjunct Immune Globulin for Vaccine-Induced Thrombotic Thrombocy-topenia. N Engl J Med 2021 Jun 9. doi: 10.1056/NEJMoa2107051. Online ahead of print.

[6] Patriquin CJ, Laroche V, Selby R et al. Therapeutic Plasma Exchange in Vaccine-Induced Immune Thrombotic Thrombo-cytopenia. NEJM, July 7, 2021. DOI: 10.1056/NEJMc2109465

 

 

 

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)

sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin.

 

 

Originalpublikation

 

 


Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN), 13.07.2021 (tB).

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