Kongress „Bedürftige Pflege – Perspektiven für eine menschenwürdige Pflege im Alter“


Pflege als Beziehungsgeschehen. – Eine evangelische Perspektive

Berlin (10. Oktober 2007) – Rede von Bischof Dr. Wolfgang Huber, dem Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), beim Kongress „Bedürftige Pflege – Perspektiven für eine menschenwürdige Pflege im Alter“ am 10. Oktober 2007 in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin:

Im Alter von 112 Jahren ist am vergangenen Freitag die älteste Deutsche, Irmgard von Stephani, in einem Seniorenheim in Berlin-Lichterfelde gestorben. Dieses Ereignis verdeutlicht die Perspektive, in der wir über das Altwerden in unserer Gesellschaft nachdenken. In einer älter werdenden Gesellschaft wächst auch die Zahl der Menschen, die im Alter auf Pflege angewiesen sind. Können wir den Erwartungen entsprechen, die dadurch auf uns zukommen? Wollen wir es? Diese Frage gehört zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Die zwei Stunden, die wir heute Nachmittag diesem Thema widmen wollen, sind gewiss keine verschwendete Zeit – und zu lang sind zwei Stunden für ein solches Thema auch nicht.

I.
Nicht nur Pflege ist ein Beziehungsgeschehen. Menschliches Leben ist es überhaupt. Denn der Mensch ist ein Beziehungswesen. Er erlebt sich selbst als das Wesen, dem das Leben von anderen gegeben und, so er glaubt, von Gott anvertraut ist. Seine Würde ist darauf angelegt, von anderen anerkannt zu werden. Seine Freiheit kommt erst dann zum Ausdruck, wenn er zu anderen in Beziehung tritt und für andere Verantwortung wahrnimmt. Selbstbewusstsein entsteht erst, wenn ein Mensch gelernt hat, auch zu sich selbst in Beziehung zu treten. Menschliches Leben vollzieht sich in der Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen, zu der Welt, deren Teil wir sind, zu Gott. Der Mensch ist ein Beziehungswesen.

In diesen elementaren Zusammenhang fügt sich die schlichte Feststellung ein: Pflege ist ein Beziehungsgeschehen: Ein Mensch ist krank oder im Alter gebrechlich geworden und braucht andere, die mit ihm auch diejenigen Bereiche des Lebens bewältigen, die er als gesunder Erwachsener noch für sich selbst gestalten konnte.

Ein kranker oder alter Mensch braucht Pflege: Betten machen, Essen zubereiten und anreichen, die Wunde versorgen, das Zimmer aufräumen, beim Waschen helfen und beim Toilettengang. Für dies und vieles mehr ist Pflege notwendig und ist noch nicht einmal genug. Pflegebedürftige Menschen brauchen Kontakte und Berührung, auch die gute Gewohnheit des Kirchgangs, Gelegenheiten, andere Menschen zu treffen und sich gemeinsam mit ihnen zu erinnern. Und sie brauchen Unterstützer und Fürsprecher, wenn ihr geistiges Leben zerbrechlich und verwirrt wird. Pflege ist deshalb mehr als Summe der notwendigsten Verrichtungen, Pflege ist ein Beziehungsgeschehen, ist Beziehungsarbeit. Mit „Arbeit“ meine ich hier: Pflege ist eine oft schwere und komplexe Aufgabe, an der jeweils ganz unterschiedliche Personengruppen beteiligt sind. Es sind die pflegebedürftigen Menschen selbst, die ihren Alltag, ihre Gewohnheiten und Erwartungen verändern müssen, es sind die Angehörigen, die körperliche und seelische Lasten untereinander aufteilen müssen – und es sind professionelle Kräfte, die teils unterstützend, teils alleinverantwortlich dafür Sorge tragen, dass ein pflegebedürftiger Mensch – möglichst in seiner gewohnten Umgebung – nicht nur am Leben bleibt, sondern – um mit dem Johannesevangelium zu sprechen – weiterhin auch Anteil an der Fülle des Lebens (Johannes 10,10) hat. In dem Maße, in dem ein Mensch das, was ihm wichtig ist, nicht mehr selbst durch eigenes Tun verwirklichen kann, wird die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft bedeutungsvoller. Zugleich gilt aber auch: Menschen, die länger krank sind, die unter Einschränkungen der Mobilität leiden, sind in ihren Beziehungen viel verletzlicher als gesunde und mobile Zeitgenossen. Für Menschen in hohem Alter kommt hinzu, dass viele ihrer Altergenossen schon verstorben sind oder nicht mehr zu ihnen kommen können. Sie sind darauf angewiesen, dass jüngere Familienmitglieder oder Nachbarn sie an ihrem alltäglichen Leben teilhaben lassen. Wenn auch diese Beziehungen spärlich sind oder zerbrechlich werden, dann sind oft die professionellen Pflegekräfte diejenigen, die – für immer zu kurze Zeit – das Leben der kranken, der pflegebedürftigen Menschen teilen: etwas „von draußen“ mitbringen und etwas mitnehmen aus dem Schatz und von den Belastungen der pflegebedürftigen Menschen. Die Anforderungen an die Pflege wachsen nicht nur quantitativ. Es geht nicht nur um den Tatbestand, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland von heute 1,9 Millionen bis 2030 schätzungsweise auf 3,1 Millionen wachsen wird. Auch die Beziehungsbedürftigkeit zu pflegender Menschen wird wachsen. Denn Menschen, die in einem Familienverbund leben, behalten bis ins hohe Alter hinein eine größere Zahl von Bezugspersonen als diejenigen, die als Singles gelebt haben. Wer Familie nur in die vorangehenden, nicht aber in die nachfolgenden Generationen hat, wird einsam alt. Das aber ist für einen großen Teil unserer Gesellschaft als Zukunft vorprogrammiert: Unsere Gesellschaft wird nicht nur älter, sondern auch einsamer. Dadurch wachsen die Anforderungen an die Pflege auch in qualitativer Hinsicht. Sie trifft auf Beziehungserwartungen, die in früherer Zeit – und hoffentlich auch in Zukunft wieder – von Familien wahrgenommen wurden. Die gegenwärtige Phase gesellschaftlicher Vereinzelung wird die Erwartungen und Anforderungen an gute Pflege steigern – ganz unabhängig davon, ob das politisch bejaht wird oder nicht. Pflege wird auch in anderer Hinsicht anspruchsvoller. Die erste Generation geistig oder körperlich schwer behinderter Menschen erreicht ein höheres Lebensalter. Ich selbst gehöre dem Jahrgang 1942 an. Behinderte Kinder meines Jahrgangs waren noch durch die nationalsozialistische Euthanasie-Aktion gefährdet. Doch unter den danach Geborenen befinden sich geistig und körperlich behinderte Menschen, die in den vor uns liegenden Jahren alt werden. Für sie wird eine Pflege notwendig sein, die kompetente Begleitung im Blick auf ihre Behinderung mit Fürsorge im Blick auf ihr Alter verbindet. Die Frage, unter welchen Bedingungen das geschieht, wird eine der vielen Kontroversen der vor uns liegenden Jahre sein. Um mit solchen Fragen umzugehen, brauchen wir einen längeren Atem und eine weitere Perspektive, als wir sie uns üblicherweise gestatten. Wir müssen über Rahmenbedingungen guter Pflege nachdenken. 

II.
Dabei knüpfen wir an eine große Tradition an. Wir haben sie uns in diesem Jahr am Beispiel der heiligen Elisabeth von Thüringen deutlich gemacht – einer Frau, deren ökumenische Bedeutung in vielen Veranstaltungen im Jahr ihres 400. Geburtstages zu Recht hervorgehoben wurde. Es beeindruckt, welche Bedeutung ein so kurzes Leben – Elisabeth, die von 1207 bis 1231 lebte, wurde gerade 24 Jahre alt – für die Geschichte christlicher Liebestätigkeit gewinnen konnte. Mit Gottesdiensten, Ausstellungen, Vorträgen haben die Kirchen daran erinnert, dass der Ursprung von Hospitälern, Obdachlosenheimen, Armenfürsorge, politischer Lobbyarbeit mit unserem Glauben zu tun hat. Immer hat diese Engagement mit Menschen angefangen, die überzeugt waren, dass sie in den Heruntergekommenen, Verzweifelten, Sterbenden Jesus begegnen. Dass das Schweißtuch, das sie reichen, am Ende allemal das Gesicht Jesu zeigt. Dass in dem Bett, das sie dem Kranken bereiten, der Gekreuzigte liegt. Dass Gott selbst am Wegrand unter die Räuber gefallen ist, wie die Geschichte vom Barmherzigen Samariter deutlich macht. Dass Gott leidet, wo ein Mensch leidet und an den Rand gedrängt wird, wo Menschen niedergemacht werden. Dass es um unseren Glauben und unsere Frömmigkeit geht, wann immer die Menschlichkeit auf dem Spiel steht. Heute ist gute Pflege eines der Themen, an denen sich diese Frage stellt. Gute Pflege vermag sehr viel; sie hat eine heilsame Wirkung. Pflegende können von sich sagen, dass sie sich an dem Auftrag Jesu beteiligen, zu heilen (Lukas 9,2). Denn Heilung bedeutet im christlichen Verständnis nicht nur die Wiederherstellung der Gesundheit, sondern auch und vor allem, Menschen wieder ein Leben in der Gemeinschaft zu er-möglichen, wenn eine Krankheit oder eine Behinderung sie aus den Gemeinschaftsbezügen herausreißt. Jesu Gleichnis vom Weltgericht (Matthäus 25,36) folgend zählt die christliche Tradition das Besuchen der Kranken zu den sieben Werken der Barmherzigkeit. Wenn sogar der Besuch der Kranken als Werk der Barmherzigkeit gilt, dann die Pflege erst recht. In Jesu Weltgerichtsrede aber wird das Besuchen deshalb hervorgehoben, weil es im Verhältnis zu Menschen, die durch Krankheit oder Alter isoliert sind, ganz besonders um die Aufnahme einer Beziehung geht. Einsamkeit wird aufgebrochen; ein Mensch macht die Erfahrung, dazuzugehören. Das ist genauso wichtig, wie dass er sauber und satt ist. In diesem umfassenden Sinn hat die Pflege in der christlichen Tradition eine herausgehobene Bedeutung. In der Geschichte der Christenheit war damit schon relativ früh nicht nur die Pflege innerhalb der Familie gemeint, sondern auch die Pflege für Menschen, die keine Familie haben, die sie aufzunehmen vermag. Beide Aspekte verbinden sich in der christlichen Ethik: die Wertschätzung der Familie als eines unentbehrlichen Raums wechselseitigen Beistands, und ebenso die Pflege von Solidarität über die Grenzen der Familie hinaus, eine übergreifende Kultur der Barmherzigkeit, eine Kultur des Helfens. Die Schweizer Pflegewissenschaftlerin Elisabeth Käppeli hat gezeigt, dass dieses Motiv des mitleidenden Gottes die wichtigste religiöse Wurzel der sozialen Arbeit in der jüdisch-christlichen Tradition ist. Gottes Mitleiden, seine Liebe und seine Gerechtigkeit stärken Israel den Rücken, aus der Sklaverei aufzubrechen. Und seine Sympathie gewinnt in Jesus ein Gesicht, so dass es in der Bibel heißen kann: Wir haben einen Hohenpriester, der mit unseren Schwächen mitfühlt und mitleidet – unser Gott schwebt nicht über den Dingen. Das griechische Wort Sympathie wird wortgleich aufgenommen in dem englischen compassion, einem der zentralen Begriffe heutiger Pflegewissenschaft. Pflege wird insgesamt von manchen als die Kunst der compassion, der mitleidenden Aufmerksamkeit bezeichnet. Denn das ist es, was uns an großen Beispielen der compassion bewegt: die radikale Bereitschaft, in den Schuhen des anderen zu gehen, in Berührung mit Kranken und Leidenden zu kommen.
Heute blicken wir zurück auf über 150 Jahre moderner Pflegegeschichte, in denen immer genauer erfasst und verstanden wurde, was pflegedürftige Menschen brauchen und wie sie diese mit Hilfe moderner Organisation und Beruflichkeit bekommen können. Zu den in dieser Zeit entwickelten Formen gehören die großen Anstalten der Alten- und Behindertenhilfe ebenso wie die lokalen Selbsthilfeformen – von der Gemeindeschwester und der Frauenhilfe bis zum modernen Netzwerk im Stadtteil. Im Blick auf helfende Institutionen wie im Blick auf die Netzwerke der Selbsthilfe werden neue Entwicklungen und Aufgaben vor uns stehen. Sie werden auch damit zu tun haben, dass der Tod einer 112jährigen künftig nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit erregen wird wie heute. Sie werden ebenso damit zu tun haben, dass mit wachsendem Alter auch neue Krankheitsbilder an Bedeutung gewinnen; die größer werdende Zahl von Menschen mit dementiellen Erkrankungen weist in diese Richtung. 

III.
Das Ethos des Helfens, die Erfahrungen, die vor uns gesammelt wurden, und die Herausforderungen unserer Zeit bestimmen zusammen die Art und Weise, in der wir klären, was pflegebedürftige Menschen brauchen und wie die Gesellschaft die notwendigen Ressourcen dafür bereitstellt. In diesem Zusammenhang will ich beispielhaft auf zwei problematische Entwicklungen – im Krankenhaus und in der Altenpflege – hinweisen, an denen deutlich wird, dass Pflege als Beziehungsgeschehen akut gefährdet ist. In einem jüngst veröffentlichten Heft der Zeitschrift GEO zum Thema Gerechtigkeit findet sich eine Reportage über den Alltag von Schwester Silke Müller auf einer Intensivstation in Mecklenburg, die dort mit großer Liebe und Hingabe arbeitet und schließlich mit einem Netto-Gehalt von 1250 Euro nach Hause kommt. Ein Gespräch mit dem Geschäftsführer ihrer Klinik klärt darüber auf, das Krankenhaus sei ökonomisch betrachtet ausreichend besetzt, man müsse nur mehr interne Vernetzungen und Synergien schaffen und das Bettenmanagement verbessern sowie natürlich die Aufgaben ausgliedern, die nicht von Fachkräften erledigt werden müssten. Schwestern wie Silke sollen sich mehr und mehr auf hochwertige Aufgaben konzentrieren – Röntgen, Infusionen, Schmerzmedikation, Kontrolle der Vitalfunktionen und natürlich auch Dokumentation. An einem Bett sitzen, eine Hand halten, einen Patienten zum Spazieren fahren gehören dazu nicht. Ganzheitliche Pflege verliert ihre Entsprechung in den Kalkulationen von Pflegeeinrichtungen. Der Kostendruck und die Rahmenbedingungen in Krankenhäusern wie Pflegeeinrichtungen machen gute Pflege heute schwer. Die Enttäuschung darüber, wenn sie denn laut wird, trifft die einzelne Pflegekraft; wie weit ihre Handlungsmöglichkeiten durch solche Rahmenbedingungen und das Gefühl mangelnder Anerkennung und Wertschätzung bestimmt sind, bleibt meistens unberücksichtigt. Eine Kultur der Pflege werden wir jedoch nur dann erwarten können, wenn wir eine Kultur der Wertschätzung für diejenigen entwickeln, die in der Pflege tätig sind. Ein anderes Beispiel: Das Dortmunder Institut für Gerontologie hat vor einigen Jahren eine Untersuchung über den Schritt in der Altenpflege vorgelegt. Sie macht deutlich, dass alle Mitarbeitenden aufgrund der Zeitvorgaben gezwungen sind, weit schneller über die Stationen zu gehen, als die alten Menschen gehen können, für die sie arbeiten. Sie müssen an ihnen vorbei laufen, ohne wirklich Kontakt aufnehmen zu können. Und auch, wenn sie ein Zimmer betreten und wieder verlassen, ist es schwer, in kurzer Zeit auf Augenhöhe, auf Hörweite zu kommen und dem langsameren Rhythmus, der Unbeweglichkeit Rechnung zu tragen. Entschleunigung wäre nötig, um wirklich in die Welt des anderen einzutreten. Beschleunigung und Arbeitsverdichtung aber prägen den Alltag. Arbeitsverdichtung und mangelnde Arbeitszufriedenheit wirken sich auch in einem hohen Krankenstand aus. Nach einer Untersuchung des BKK-Bundesverbandes sind die Pflegekräfte zusammen mit den Sozialarbeitern die Berufsgruppe, die die höchste Arbeitsunfähigkeitsquote wegen psychischer Erkrankungen aufweist. Ein anderes Indiz dafür, dass der Berufsalltag in der Pflege aus dem Lot geraten ist, ist die Diskrepanz zwischen der Berufsmotivation der Berufseinsteiger und den Gründen, die Pflegekräfte dazu bewegen, diesen Beruf wieder aufzugeben. In den Gründen für die Berufswahl spiegelt sich das Bild der Pflege als eines Beziehungsgeschehens. Viele wählen diesen Beruf, weil er sie in Beziehung zu anderen Menschen bringt. Junge Menschen gehen mit der Erwartung in die Ausbildung, einen sinnvollen Beruf zu erlernen, in dem man Menschen in schwierigen Lebensphasen hilft und begleitet. Sie erwarten einen Beruf, in dem menschlicher Kontakt im Vordergrund steht und die Lebensgeschichte eines hilfsbedürftigen Menschen eine Rolle spielt. Die berufliche Wirklichkeit sieht in der Regel anders aus. Mangelnde Zeit für menschliche Begegnungen, Rollendiffusionen und Unklarheiten im Blick auf das faktisch wirksame  Leitbild, die Verpflichtung zu Pflegeleistungen, die nicht am Bedarf, sondern an der Bezahlung orientiert sind, führen zu inneren und oft auch zu äußeren Kündigungen.
Es besteht die Gefahr, dass eine verzerrte Pflegepraxis die Bereitschaft zur Pflege in der Gesellschaft sinken lässt. Dies ist eine fatale Entwicklung in einer Gesellschaft, die aufgrund ihrer Altersstruktur künftig mehr professionelle Pflege, aber auch mehr freiwilliges Engagement, mehr Nachbarschaftshilfe usw. benötigt als bisher. Wir müssen deshalb in dem kontinuierlichen Reformprozess, zu dem die aktuelle Pflegereform als ein wichtiger Schritt gehört, nicht nur auf die verfügbaren finanziellen Ressourcen in den sozialen Sicherungssystemen, sondern auch auf die sozialen und sozialmoralischen Ressourcen in unserer Gesellschaft achten, ohne die eine beziehungsorientierte Pflege nicht möglich ist. 

IV.
Wir müssen mit diesen Ressourcen ähnlich sorgfältig und nachhaltig umgehen, wie dies zu Recht für die finanziellen Ressourcen in den sozialen Sicherungssystem gefordert wird. Jugendliche müssen lernen, dass sie helfen können und dass eine respektvolle Beziehung zu einem gebrechlichen oder behinderten Menschen etwas Wertvolles ist. Was im evangelischen Religionsunterricht – oft auch im fächerübergreifenden Unterricht als „diakonisches Lernen“ – seit einigen Jahren praktiziert wird, hat unter anderem dieses Ziel. Erwachsene im mittleren Lebensalter, die bisher keinen Grund hatten, sich mit der Situation der Pflegebedürftigkeit auseinander zu setzen, weil ihre eigenen Eltern noch gesund sind, müssen die Gelegenheit bekommen, die Ängste abzubauen, die die Pflegebedürftigkeit in einer „fit for fun“-Gesellschaft auslöst. Die jetzt aktive Generation muss sich einerseits die innerfamiliäre Pflege als Lebensphase neu aneignen – jenseits der stillschweigenden Tochter- und Schwiegertochterpflichten der vergangenen Jahrzehnte. Sie muss sich aber auch mit der eigenen hohen Lebenserwartung, mit den künftigen Erfordernissen des Wohnens und Lebens und mit den jetzt verfügbaren Möglichkeiten der Prävention auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen, sehr geehrte Frau Bundesministerin, liebe Frau Schmidt, dafür danken, dass Sie die Pflegezeit wie auch die kurzfristige Freistellung bei plötzlich eintretendem Pflegebedarf so eindeutig befürwortet haben. Auch wenn die Regelungen im einzelnen noch umstritten sind, zeigen diese Reformschritte die Richtung, in die wir gehen müssen, wenn wir die Pflege durch nahe Angehörige erhalten wollen. Das wird auch durch neue Wohn- und Lebensformen unterstützt. Seniorengenossenschaften, intergenerationelle Wohnprojekte und Netzwerke in Stadt und Land eröffnen neue Möglichkeiten. Dass mit der Pflegereform nun flächendeckend Anlaufpunkte eingerichtet werden sollen, die die Menschen bei ihren ganz unterschiedlichen Pflegearrangements beraten und unterstützen sollen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg in eine Gesellschaft, die Pflegebedürftigkeit frühzeitig wahrnimmt und Lösungen sucht, die das jeweils erreichbare Maß an Selbstbestimmung bis ins hohe Alter zu gewährleisten versucht. In unterschiedlichen Pflegearrangements werden künftig professionelle Kräfte stärker als bisher mit Selbsthilfeinitiativen und freiwillig Engagierten, aber auch mit ungelernten Helfern zusammenarbeiten; sie müssen dafür in neue Rollen hineinwachsen. Dazu müssen berufliche Aus- und Fortbildung entsprechend weiterentwickelt werden; dafür empfiehlt sich aber auch eine höhere berufliche Autonomie, wie sie nach der Pflegereform in Modellversuchen erprobt werden soll. Für die Zukunft der Pflege in unserer Gesellschaft ist aber auch entscheidend, dass abhängig beschäftigte professionelle Pflegekräfte angemessen entlohnt werden und aus einem ganztägigen Arbeitsverhältnis auch ein Einkommen beziehen, von dem sie leben können. Dafür sind Rahmenbedingungen nötig, die gewährleisten, dass Kranken- und Altenpflege ein existenzsichernder Beruf ist. Ich kann auch nicht verhehlen, dass wir uns mit dem an die Frühzeiten der Industrieproduktion erinnernden Zeittakt in der Pflege eine problematische Konsequenz einhandeln, die mit der Vorstellung von Pflege als Beziehungsgeschehen in einer unaufhebbaren Spannung steht. Denn damit wird der pflegebedürftige Mensch nicht mehr als Person in der Pflegebeziehung ernst genommen, sondern wird zum Objekt der Verrichtungen. Aber auch die Pflegekraft hört in diesem Takt auf, ein beziehungsvoller Mensch zu sein, sondern wird zum Pflegewerkzeug. Und dann entsteht jenes inhumane Zerrbild der Pflege, das uns die Medien – teils zu Recht, teils zu Unrecht – zeigen. Dass im Zusammenhang der Pflegereform auch der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu gefasst werden soll, ist gewiss ein Zeichen dafür, dass die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Pflege politisch wahrgenommen wird. Ich will allerdings einen Schritt weiter gehen und einen Perspektivenwechsel anregen, in dessen Folge nicht mehr von Pflegebedürftigkeit, sondern von Pflegeberechtigung die Rede ist. Denn erst dann nehmen wir auch den Menschen, der Pflege in Anspruch nimmt, als ein menschliches Subjekt mit eigenen Rechten wahr, dessen Selbstbestimmung auch noch an den Grenzen seines Lebens gewürdigt und beachtet wird.

 

Es geht darum, einen Menschen, der Pflege erfährt, nicht als ein defizitäres menschliches Wesen aufzufassen, sondern als einen Menschen mit einer unantastbaren Würde und ungeteilten Rechten zu betrachten. Dass wir einem neugeborenen Menschen ein Recht auf elterliche Fürsorge zuerkennen, ist evident und unbestritten. Diese Betrachtungsweise muss aber auch für alte Menschen ihre Kraft erweisen. Es sollte uns in diesem Zusammenhang im Gedächtnis bleiben, dass das biblische Elterngebot in seinem ursprünglichen Sinn die alt gewordenen, hilfsbedürftigen, auf Pflege angewiesenen Eltern meint: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Land, das dir der Herr geben wird.“

V.
Die Praxis der Pflege braucht eine kritische Öffentlichkeit. Wenn man Pflege vor allem als Beziehungsgeschehen versteht, wie ich es tue, wird man an manchen Punkten noch kritischer sein müssen als die Zeitungsberichte, die uns alarmierende Zustände vor Augen führen. Aber unserer Gesellschaft ist mit einer vernichtenden Kritik an Missständen in der Pflege nicht geholfen, wenn die Schärfe der Kritik nicht dazu führt, dass wir es besser und menschlicher machen. Am Ende möchte ich deshalb einen der schärfsten Kritiker der institutionalisierten Pflege zu Wort kommen lassen, der einen positiven Gegenentwurf nicht schuldig bleibt. Der bekannte Psychiater Klaus Dörner hat nach den verschiedenen Plädoyers für die Abschaffung der Heime nun einen positiven Entwurf von einer Gesellschaft vorgestellt, die ihre pflegebedürftigen und sterbenden Menschen bei sich behält. „Leben und sterben wo ich hingehöre“ heißt sein Buch. Darin beschreibt er ein Zusammenleben in der Nachbarschaft, in der Menschen sich zunächst gegenseitig helfen und professionelle Hilfen selbstbestimmt und sparsam in Anspruch nehmen. Natürlich muss dieser „Dritte Sozialraum“, wie Dörner ihn nennt, sich erst entwickeln, nachdem wir jahrelang unseren privaten Sozialraum scharf abgegrenzt haben und ansonsten auf Markt oder Staat gesetzt haben. Aber schon jetzt leisten viele Menschen Großartiges mit ihrem bürgerschaftlichen Engagement. Das reicht von dem diakonischen Altenbesuchsdienst „Urlaub aus dem Koffer“ über die Freiwilligen am Servicetelefon von Diakoniestationen bis zu den Initiativen, die kleine Dienste in der Nachbarschaft organisieren. Werke der Barmherzigkeit sind auch heute nötig. Denn auch im Sozialstaat kann uns keine Institution die Achtsamkeit für unsere Mitmenschen abnehmen. Die Frage, wem ich selbst zum Nächsten geworden bin, ist auch heute aktuell – über alle Pflegereform hinaus. Aber gerade für eine Gesellschaft, die die Kultur der Barmherzigkeit nicht vergisst, hat eine Pflegereform natürlich ihren guten, ja notwendigen Sinn. Es geht darum, dass wir zusammensehen, was auch zusammengehört: gute institutionelle Rahmenbedingungen und gelebte Nächstenliebe.


Quelle: Pressemitteilung der EKD vom 10. Oktober 2007 (tB). 

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