Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich

Köln (12. April 2023) — Zur Behandlung von multipler Sklerose (MS) stehen einige Wirkstoffe mit Einfluss auf das Immunsystem, sogenannte Immunmodulatoren zur Verfügung, die Symptome und Folgen der entzündlichen und neurodegenerativen Erkrankung mindern und aufhalten sollen: Manche davon sind seit den 1990er-Jahren als Basistherapie im Einsatz, zum Beispiel Beta-Interferone oder Glatirameracetat. Seit 2005 werden weitere Immunmodulatoren als hochwirksame (Eskalations-)Therapien angewendet, insgesamt zehn Wirkstoffe bei der häufigsten MS-Form mit schubförmig wiederkehrendem Verlauf (Relapsing-remitting multiple Sclerosis, RRMS): Cladribin, Dimethylfumarat, Ozanimod, Ponesimod, Teriflunomid, Fingolimod sowie die monoklonalen Antikörper Alemtuzumab, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab.

Die Verläufe der chronischen Erkrankung variieren stark, sodass auch unterschiedliche Therapiestrategien notwendig sind. Deshalb vergleicht das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit (IQWiG) im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) diese Wirkstoffe in einer Nutzenbewertung nicht nur untereinander, sondern auch in verschiedenen Therapiestrategien zur Behandlung von Erwachsenen mit einer hochaktiven RRMS trotz Vorbehandlung. Im Vordergrund stehen dabei die Vor- und Nachteile der Therapieoptionen für Patientinnen und Patienten.

Allerdings ist die Datenlage in weiten Teilen lückenhaft: Für den Vergleich der Umstellung von einer Basistherapie auf eine Eskalationstherapie oder auf eine andere Basistherapie liegen aussagekräftige Daten nur aus einer Studie zu einem der zehn Wirkstoffe vor: Demnach ist die Wirkung von Alemtuzumab als Eskalationstherapie der von Interferon-beta 1a als Basistherapie überlegen.

Relevante Studien fehlen zu den Wirkstoffen in einer Deeskalationsstrategie, also zum Aussetzen der Therapie oder zum Wechsel zu einer anderen Basistherapie. Zu diesen für die Betroffenen sehr relevanten Themen bleiben also viele Fragen offen.

Für den Vergleich der Wirkstoffe untereinander als Eskalationstherapie liegen für sieben der zehn Wirkstoffe Studiendaten vor, allerdings kaum vergleichende Daten. Direkt vergleichende Ergebnisse gibt es zu drei Wirkstoffen und demnach bieten Ofatumumab und Ponesimod Vorteile für Betroffene jeweils im Vergleich mit Teriflunomid.

Das IQWiG bittet um Stellungnahmen zum Vorbericht bis zum 11.05.2023.

 

Hohe Krankheitslast und lebenslange Einschränkungen

Mit einer Prävalenz von über 200 000 Erkrankten in Deutschland ist die multiple Sklerose eine der häufigsten entzündlichen neurologischen Autoimmunerkrankungen mit weitreichenden Folgen für den Alltag der Betroffenen. RRMS ist die häufigste MS-Form und verläuft schubförmig in Episoden mit akuter Symptomatik über mindestens 24 Stunden. Intensität, Zeitpunkt der Schübe, Dauer und Art der Symptome variieren individuell sehr stark. Mit dem Ende eines Schubes klingen die krankheitsbedingten Einschränkungen wieder ab, können aber auch nachwirken und zu bleibender Behinderung oder Verschlechterung einer bestehenden Behinderung bis hin zur Pflegebedürftigkeit führen.

Das Symptomspektrum dieser „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ ist sehr breit: Akute Symptome wie motorische Störungen, Sehstörungen, Schmerzen oder Inkontinenz sowie Erschöpfung (Fatigue), Depressionen und kognitive Einschränkungen werden von den Betroffenen als besonders belastend genannt. Das bestätigte sich im persönlichen Gespräch mit Patientinnen und Patienten, die das IQWiG für diese Nutzenbewertung geführt hat, um aus erster Hand mehr zu erfahren über das Leben mit RRMS und deren Auswirkungen für die tägliche Lebensqualität. Auch die Behandlungsmöglichkeiten und deren Auswirkungen auf den Lebensalltag waren Thema des Betroffenengesprächs. Daraus ergaben sich für diese Nutzenbewertung vier grundlegende Fragestellungen unter anderem zu Therapiestrategien, die für Patientinnen und Patienten von besonderem Interesse sind.

„Viele der Fragen, die den Betroffenen wichtig sind, können in diesem Vorbericht nicht beantwortet werden, weil es an Evidenz fehlt – denn bei den untersuchten Wirkstoffen endete die Forschung meist nach der Zulassung“, stellt Thomas Kaiser, Leiter des IQWiG, fest und ergänzt: „Vergleichende Untersuchungen, etwa in registerbasierten RCTs (randomisierte kontrollierte Studien), könnten diese Forschungslücke aber schließen.“ Ein großes Hindernis für weitergehende unabhängige Forschung nach der Zulassung ist in Deutschland die fehlende Finanzierung der Studienmedikation für interventionelle Studien. Das Hindernis sei jedoch überwindbar, betont Kaiser: „Eine entsprechende gesetzliche Regelung zur Finanzierung könnte zu registerbasierten Studien motivieren, die auch nach der Zulassung wichtige Antworten für eine gute Patientenversorgung liefern.“

 

Forschungslücken nach der Zulassung lassen Betroffene und Behandelnde im Ungewissen

Aussagekräftige Daten zur Therapiestrategie „Eskalation vs. Basistherapie“ liefert nur eine Studie für Alemtuzumab. Insgesamt war die Eskalation mit Alemtuzumab dem Wechsel auf die Basistherapie Interferon-beta 1a überlegen.

Daten zu anderen Eskalationswirkstoffen in dieser Therapiestrategie fehlen. Auch zu den beiden Fragestellungen, die die Möglichkeit zur Deeskalation untersuchen, liegen keine relevanten Studien vor.

Für den Vergleich verschiedener Eskalationswirkstoffe untereinander lagen Studiendaten zu den Wirkstoffen Alemtuzumab, Cladribin, Fingolimod, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod und Teriflunomid vor. Für die Wirkstoffe Dimethylfumarat und Ocrelizumab übermittelten die Hersteller auf die Anfrage des IQWiG jeweils keine Auswertungen zur Patientengruppe der Nutzenbewertung, obwohl diese in den Studien untersucht worden sind. Für den Wirkstoff Natalizumab waren keine relevanten Studien zu identifizieren.

Direkt vergleichende Studien zeigen Ergebnisse für die Wirkstoffe Ofatumumab und Ponesimod, jeweils im Vergleich mit Teriflunomid: Bei einer Behandlung mit Ofatumumab haben die Betroffenen weniger Krankheitsschübe pro Jahr und weniger Patientinnen und Patienten erleben überhaupt einen Schub. Außerdem mindert eine Ofatumumab-Therapie das Fortschreiten der Behinderung stärker als Teriflunomid. Insgesamt bilanzieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IQWiG einen Hinweis auf einen höheren Nutzen von Ofatumumab gegenüber Teriflunomid.

Eine Behandlung mit Ponesimod hat ebenfalls weniger Krankheitsschübe pro Jahr zur Folge als Teriflunomid. Insgesamt kommt das IQWiG im Fazit hier zu einem Anhaltspunkt für einen höheren Nutzen von Ponesimod gegenüber Teriflunomid.

 

Zum Ablauf der Berichtserstellung

Den finalen Berichtsplan für dieses Projekt hatte das IQWiG im Dezember 2021 veröffentlicht. Stellungnahmen zum Vorbericht „Alemtuzumab, Cladribin, Dimethylfumarat, Fingolimod, Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Ozanimod, Ponesimod und Teriflunomid zur Behandlung Erwachsener mit hochaktiver schubförmig-remittierender Multipler Sklerose“ werden nach Ablauf der Frist ab dem 11.05.2023 gesichtet. Sofern sie Fragen offenlassen, werden die Stellungnehmenden zu einer mündlichen Erörterung eingeladen.

 

Originalpublikation

 

 

 


Quelle: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), 12.04.2023 (tB).

Schlagwörter: , , ,

MEDICAL NEWS

IU School of Medicine researchers develop blood test for anxiety
COVID-19 pandemic increased rates and severity of depression, whether people…
COVID-19: Bacterial co-infection is a major risk factor for death,…
Regenstrief-led study shows enhanced spiritual care improves well-being of ICU…
Hidden bacteria presents a substantial risk of antimicrobial resistance in…

SCHMERZ PAINCARE

Hydromorphon Aristo® long ist das führende Präferenzpräparat bei Tumorschmerz
Sorgen und Versorgen – Schmerzmedizin konkret: „Sorge als identitätsstiftendes Element…
Problem Schmerzmittelkonsum
Post-Covid und Muskelschmerz
Kopfschmerz bei Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln

DIABETES

Wie das Dexom G7 abstrakte Zahlen mit Farben greifbar macht…
Diabetes mellitus: eine der großen Volkskrankheiten im Blickpunkt der Schmerzmedizin
Suliqua®: Einfacher hin zu einer guten glykämischen Kontrolle
Menschen mit Diabetes während der Corona-Pandemie unterversorgt? Studie zeigt auffällige…
Suliqua® zur Therapieoptimierung bei unzureichender BOT

ERNÄHRUNG

Positiver Effekt der grünen Mittelmeerdiät auf die Aorta
Natriumaufnahme und Herz-Kreislaufrisiko
Tierwohl-Fleisch aus Deutschland nur mäßig attraktiv in anderen Ländern
Diät: Gehirn verstärkt Signal an Hungersynapsen
Süßigkeiten verändern unser Gehirn

ONKOLOGIE

Strahlentherapie ist oft ebenso effizient wie die OP: Neues vom…
Zanubrutinib bei chronischer lymphatischer Leukämie: Zusatznutzen für bestimmte Betroffene
Eileiter-Entfernung als Vorbeugung gegen Eierstockkrebs akzeptiert
Antibiotika als Störfaktor bei CAR-T-Zell-Therapie
Bauchspeicheldrüsenkrebs: Spezielle Diät kann Erfolg der Chemotherapie beeinflussen

MULTIPLE SKLEROSE

Multiple Sklerose: Aktuelle Immunmodulatoren im Vergleich
Neuer Biomarker für Verlauf von Multipler Sklerose
Multiple Sklerose: Analysen aus Münster erhärten Verdacht gegen das Epstein-Barr-Virus
Aktuelle Daten zu Novartis Ofatumumab und Siponimod bestätigen Vorteil des…
Multiple Sklerose durch das Epstein-Barr-Virus – kommt die MS-Impfung?

PARKINSON

Meilenstein in der Parkinson-Forschung: Neuer Alpha-Synuclein-Test entdeckt die Nervenerkrankung vor…
Neue Erkenntnisse für die Parkinson-Therapie
Cochrane Review: Bewegung hilft, die Schwere von Bewegungssymptomen bei Parkinson…
Technische Innovationen für eine maßgeschneiderte Parkinson-Diagnostik und Therapie
Biomarker und Gene: neue Chancen und Herausforderungen für die Parkinson-Diagnose…