"Mein Fuß muss immer rausgucken"

Dr. Angelika Zegelin fordert Ergänzungen zur Patientenverfügung

 

Witten/Herdecke (8. Dezember 2009) – Im Sommer hat der Bundestag ein Gesetz zur Wirksamkeit von Patientenverfügungen verabschiedet. Dr. Angelika Zegelin vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke sieht auf diesem Gebiet aber trotzdem weiter Nachholbedarf und bemängelt, dass mit den vorhandenen Vordrucken für Patientenverfügungen zu wenig auf die tatsächliche Lebenssituation eingegangen wird. "Bei den Vordrucken geht es immer um große Dinge wie: Dialyse – Ja oder Nein?", sagt Dr. Zegelin. "Es herrscht die Vorstellung vor, dass wir eines Tages einfach auf der Straße umfallen und dann vielleicht noch ein paar Tage auf der Intensivstation behandelt werden. Die Realität ist aber leider so, dass die meisten Menschen irgendwann pflegebedürftig und vollständig von anderen abhängig sind. Ihnen dabei die Würde zu erhalten, ist eine sehr wichtige gesellschaftliche Aufgabe." Um ein besseres Beispiel zu geben, hat Dr. Zegelin nun eine eigene Patientenverfügung geschrieben und veröffentlicht. Darin geht es allerdings hauptsächlich um die kleinen Dinge des täglichen Alltags wie Parfum, fettige Haare und deutschen Schlager.

 

Angelika Zegelin weiß genau, wovon sie spricht. Seit einem Vierteljahrhundert ist sie für die Entwicklung wissenschaftlicher Konzepte in der Pflege zuständig. An der Universität Witten/Herdecke war sie am Aufbau des ersten universitären Studiengangs Pflegewissenschaft in Deutschland federführend beteiligt und damit eine echte Pionierin. Ihre Hauptarbeitsfelder sind die Themen Bettlägerigkeit, "Patienten- und Familienedukation" sowie "Sprache und Pflege".

"Die menschliche Seite der Pflege wird derzeit notgedrungen sehr vernachlässigt", sagt sie. "Dabei ist es ganz wichtig, dass in einer immer älter werdenden Gesellschaft, in der deshalb auch immer mehr pflegebedürftige Menschen leben, diese Aufgabe sehr ernst genommen wird." Gerade die "stumme Arbeit", die aus Interaktion mit den zu Pflegenden besteht, werde in der derzeitigen Lage "nebenbei erledigt". Zegelin: "Diese Arbeit wird nicht bezahlt und erfährt so gut wie keine Wertschätzung. Überall fehlen aufgrund von Personalabbau die Kapazitäten, so dass dieser Teil der Pflege, der für viele fast der wichtigste ist, schwer vernachlässigt wird." Die Folge sei die nun real gewordene Horrorvorstellung von der "Pflege im Laufschritt" und von "Sekunden-Kontakten", unter der auch die Pflegenden leiden würden. "Eine Allensbach-Studie vor wenigen Wochen hat gezeigt, dass die Deutschen die größte Angst davor haben, pflegebedürftig zu werden", sagt die gelernte Krankenschwester. Deshalb sei es dringend an der Zeit, dass die Gesprächsarbeit in der Pflege qualifizierter gestaltet und mehr wertgeschätzt werde. Zegelin: "Das ist mir das wichtigste Anliegen. Wir müssen den Wert von Pflege allgemein und vor allem von interaktiver Pflege deutlicher machen. 08/15-Pflege im Eiltempo kann dazu führen, dass Menschen nicht mehr leben möchten. Unser Wohlergehen ist von vielen Kleinigkeiten abhängig."

Genau dies möchte Dr. Angelika Zegelin mit ihrer selbst verfassten Patientenverfügung verdeutlichen. Darin geht es nicht um Angaben zu künstlicher Ernährung, lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen oder Schmerztherapie, sondern um alltägliche Kleinigkeiten. So schreibt sie: "Für mich wäre es eine Körperverletzung, wenn meine Füße ‚gut eingepackt‘, gar mit einer Decke eingeschlagen würden, ich könnte keine Ruhe finden. Solange ich mich erinnern kann, musste mindestens ein Fuß aus der Zudecke herausgucken, ich stelle mir reichlich irrational vor, dass mein Fuß atmet. Der atmende Fuß ermöglicht für mich eine Kontrasterfahrung, die Lebensqualität bedeutet." Dazu erläutert sie: "Wir alle haben persönliche Eigenheiten, die uns ausmachen. Wir benutzen zum Beispiel gerne bestimmte Seifen, haben Vorlieben beim Essen, gestalten den Tag unterschiedlich. Das sind die Dinge, die wir ergänzend zu einer Patientenverfügung aufschreiben sollten. Nicht die großen, sondern die kleinen Dinge sind die entscheidenden, wenn es darum geht, in einer Situation der Pflegebedürftigkeit den Lebensmut zu behalten. Die meisten Menschen realisieren nicht, dass sie vermutlich irgendwann einmal pflegebedürftig sein werden. Wenn ich dann lediglich festgelegt habe, ob ich eine Magensonde bekommen möchte oder nicht, kann es sein, dass vieles nicht so läuft, wie ich es mir wünsche. Man muss sich die Situation vergegenwärtigen: In so einer Lage kann es passieren, dass man nichts mehr selbst tun kann. Alles muss dann von anderen erledigt werden. Aber wie sollen diese Menschen wissen, was ich mir wünsche? Und selbst, wenn sie es wissen: Wie sollen diese Menschen meine Wünsche umsetzen, wenn sie keine Zeit haben, mit mir zu reden, auf mich einzugehen oder sich um mehr als das gerade medizinisch Notwendige zu kümmern?"

Einige Auszüge aus der Patientenverfügung "Mein Fuß muss immer rausgucken" von Dr. Angelika Zegelin:

Ich wundere mich immer darüber, dass in den Vorlagen zu Patientenverfügungen stets die großen Entwürfe vorgestellt werden, welches Menschenbild jemand hat, welchen Blick auf die Welt, ob eine "künstliche Niere" verordnet werden darf oder die Beatmung abgestellt werden soll – seltsam, für mich zeitigen sich meine Wünsche und Erfahrungen in der Ansammlung täglicher Kleinigkeiten. Vielleicht sind es ja gar keine Kleinigkeiten, weil sie genau in dieser Kombination uns als Person ausmachen.

Musikalisch bin ich ein Kind der 70er, Soul, Blues und Rock gefallen mir… Santana, die Stones, Dire Straits, Paul Young, Chris Rea, Simply Red, Sade, eben die melodiöse Richtung. Deutsche Schlager und Heimatmusik finde ich furchtbar. Wenn ich damit später beschallt würde, ginge ich in eine innere Emigration.

Ich möchte als Person "Angelika Zegelin" begriffen werden. Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist. Auf jeden Fall möchte ich im Falle einer Pflegebedürftigkeit intelligente und warmherzige Menschen um mich haben. Ich will nicht um alles betteln, jeden Handgriff aushandeln müssen. Wer mich pflegt, muss ahnen, was mir wichtig ist. Wenn ich nach "Schema F" gepflegt werden soll, würde ich mich schreiend und mit allen Mitteln zur Wehr setzen, solange ich das noch kann. Wenn es nichts nutzt und ich das realisiere, würde ich sofort um Sterbehilfe bitten.


Wie soll ich all das schriftlich niederlegen?

Die üblichen Patientenverfügungen gehen offensichtlich davon aus, dass jemand kurz vor seinem Tod plötzlich umfällt und seine letzten Tage auf der Intensivstation verbringt. Das ist ziemlich unrealistisch. In vielen Fällen entstehen akute Phasen aus Zeiten der Pflegebedürftigkeit heraus. Bisher habe ich noch keinen Vorschlag einer Patientenverfügung gefunden, der dies berücksichtigen würde. In größeren Abständen sehe ich mir die Vorschläge im Internet an, von A wie Aidshilfe bis Z wie Zeugen Jehovas sind Formulare verfügbar, jede Vereinigung, jede religiöse Richtung, jeder Wohlfahrtsverband hat seine Vorstellungen eingearbeitet. In der letzten Zeit bin ich erschrocken über die Kommerzialisierung der Angebote, "wir setzen Ihre Patientenverfügung durch" heißt es, oder es wird mit der "sicheren" Verfügung geworben und die Sorgen der Bürger in Geld umgesetzt. Alle Patientenverfügungen setzen auf ärztliche Maßnahmen und gelten für ein "Endstadium einer unheilbaren und tödlich verlaufenden Krankheit". Doch wann ist dieses Endstadium?
Für mich wäre dies, unabhängig von medizinischen Aspekten, wenn ich nicht mehr als Individuum wahrgenommen und wertgeschätzt würde.

Bei den Vordrucken zur Patientenverfügung scheint es eher um rechtliche Absicherungen der Mediziner zu gehen und weniger um die wirklichen Anliegen Schwerstkranker.

Die vollständige Patientenverfügung "Mein Fuß muss immer rausgucken" von Dr. Angelika Zegelin, erschienen in: Schnell, M. (2009): Patientenverfügung, Huber-Verlag, Bern, finden Sie unter www.uni-wh.de/patientenverfügung/

 


 

Quelle: Universität Witten/Herdecke, 08.12.2009 (tB).

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