Religion hat Wohlfahrtsstaaten weit mehr beeinflusst als bekannt

 

Münster (22. Mai 2014) – Religionsgemeinschaften haben laut einer neuen Studie aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ weit mehr Einfluss auf die Entstehung europäischer Wohlfahrtsstaaten gehabt als bislang bekannt. „Vor allem in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden, in denen Staat und Kirchen sowie die Konfessionen untereinander konkurrierten, entwickelten Religionen viel Einsatz für den Wohlfahrtssektor“, sagt der evangelische Theologe und Sozialethiker Prof. Dr. Hans-Richard Reuter vom Exzellenzcluster der Uni Münster. „In Ländern wie Spanien oder Polen hingegen, wo der Katholizismus lange ein Monopol innehatte und eng an den Staat gebunden war, haben Religionen kaum Einfluss auf die bis heute schwächere Ausprägung von Sozialstaatlichkeit genommen.“ Sie bestimmten insofern entscheidend mit, wie und wie stark sich der Wohlfahrtssektor in einem Land entwickelte. Die Studie untersucht 13 europäische Länder. Es handelt sich um die bislang größte Untersuchung zum Einfluss von Religionen auf die Sozialstaaten Europas.

Da der Faktor Religion in der europäischen Wohlfahrtsforschung zuvor wenig auftauchte, schließt die Studie eine Forschungslücke, wie die Leiter der Untersuchung, Prof. Reuter und der katholische Theologe und Religionssoziologe Prof. Dr. Karl Gabriel erläutern. Die Untersuchung ist unter dem Titel „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa“ im Tübinger Verlag Mohr Siebeck erschienen. Herausgeber des ersten von zwei Bänden sind neben Prof. Reuter und Prof. Gabriel der katholische Theologe Dr. Stefan Leibold und der evangelische Fachkollege Andreas Kurschat vom Exzellenzcluster. Der zweite Band wird unter dem Titel „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland“ voraussichtlich im Frühjahr 2015 erscheinen.


„Wenig Sozialstaat in Ländern mit Orthodoxie und Islam“

Die Autoren untersuchen religiös-konfessionelle Einflüsse auf die sozialstaatliche Entwicklung in dreizehn europäischen Ländern von der Industrialisierung bis zur Gegenwart. Auf dieser Grundlage arbeiten die Forscher verschiedene Länder-Typen nach der Stärke von Wohlfahrtsstaatlichkeit und dem religiösen Einfluss darauf heraus. „Zugleich zeigt jedes einzelne Land eine einzigartige Gestalt in der Entwicklung seines Wohlfahrtssystems“, so die Wissenschaftler. Die schwächsten Formen des Sozialstaats finden sich in den untersuchten christlich-orthodox und osmanisch geprägten Staaten. „Während die Wohlfahrtsstaaten Westeuropas sowohl Klassenspaltung als auch Konflikte zwischen Kirche und Staat institutionell verarbeiteten, entwickelte die Orthodoxie in Ländern wie Griechenland, Russland und Bulgarien nie ein konfliktreiches Gegenüber, das zu Aktivitäten im sozialen Sektor hätte führen können.“ Ähnliches stellten die Forscher für den Islam und die Türkei fest.

In Ländern mit mehr Sozialstaat waren es der Untersuchung zufolge häufig „religiös erweckte und charismatische Persönlichkeiten“, die den Anstoß zum sozialen Engagement der Religionsgemeinschaften gaben. In Deutschland zählten dazu auf katholischer Seite „Arbeiterbischof“ Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877) und der Sozialethiker und Politiker Franz Hitze (1851-1921). Als wegweisende Protestanten nennen die Autoren Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), den Theologen Johann Hinrich Wichern (1808-1881), Sozialpolitiker Theodor Lohmann (1831-1905) und Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898).

Einen besonders starken Einfluss der Religion auf den Sozialstaat fanden die Forscher in gemischt-konfessionellen Staaten wie Deutschland und den Niederlanden. Ausschlaggebend dafür war das Zusammentreffen der Konkurrenz zwischen Kirchen und Staat mit derjenigen zwischen den Konfessionen. Das gilt auch für Länder, in denen Religion und Staat Interessenskonflikte austrugen und institutionell eigenständig blieben, wie die Herausgeber schreiben. „Dabei reagierten die Religionen nicht nur auf Modernisierung und Wohlfahrtsstaatsentwicklung, sondern wirkten selbst aktiv darauf hin.“ Prof. Gabriel: „Wie nirgendwo sonst entdeckten in Deutschland die gut organisierten Katholiken die Sozialpolitik als bevorzugtes Feld ihres Ringens um gesellschaftliche Anerkennung und politische Emanzipation.“ Eine Rolle spielte dabei, dass Religion und Aufklärung sich nicht ausschlossen.

Auch in anderen mittel- und nordwesteuropäischen Ländern wie dem lutherisch geprägten Schweden und Dänemark sowie dem anglikanisch beeinflussten Großbritannien gelang es, Impulse der Aufklärung und des Christentums miteinander zu verbinden, wie die Autoren darlegen. „Auf diese Weise erhielten die bürgerlich-nationalen Revolutionen keine antichristliche, sondern eine mit dem christlichen Erbe positiv verbundene Ausrichtung.“

Weniger ausgeprägt und auch weniger religiös beeinflusst seien die Wohlfahrtsstaaten im Süden und Osten Europas. „In Spanien oder Polen etwa war der Katholizismus staatlich eng eingebunden und hatte eine religiöse Monopolstellung inne. Folglich blieb der Konkurrenzkampf aus – sowohl zwischen Religion und Staat als auch zwischen einzelnen Konfessionen“, so die Herausgeber. Etwas ausgeprägter sei der Wohlfahrtsstaat In Italien, der zumindest einige „langfristig wirkende katholische Elemente“ aufweise.

Die Studie des Exzellenzclusters entstand im Projekt A7 „Die religiöse Tiefengrammatik des Sozialen“. Beteiligt waren internationale Sozialwissenschaftler, Historiker, Theologen und Juristen. Sie untersuchten die Wohlfahrtsstaatlichkeit in Bulgarien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Polen, Russland, Schweden, Spanien und der Türkei. Dabei ging es um den Einfluss von Katholizismus, Luthertum, anglikanischer Staatskirche und freikirchlichem Protestantismus sowie Calvinismus, Orthodoxie und Islam. Prof. Reuter: „Die Länderauswahl folgte dem Ziel, ein breites geographisches, religionskulturelles und sozialstaatliches Spektrum abzudecken.“

 


 

Quelle: Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 22.05.2014 (tB).

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