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Mezzanine-Märkte
Wozu brauchen wir ein Zwischengeschoss?
Berlin (23. Oktober 2009) – Eine fiktive Geschichte: Januar 2012 in Deutschland: Petra Meier* erfährt von Ihrem Gastroenterologen, dass bei ihr eine bösartige Darmerkrankung festgestellt wurde. Flankierend zur Operation hält der Arzt eine medikamentöse Therapie für notwendig. Dafür stehen zwei Arzneimittel zur Auswahl: Orbutaxin und Syntralon. Bei der speziellen Form von Darmkrebs, die bei Petra Meier vorliegt, bringt eine Therapie mit Syntralon einen deutlichere Verbesserung der Lebensqualität mit sich als eine Therapie mit Orbutaxin. Aus medizinischer Sicht ist Syntralon ohne Zweifel das bessere Medikament für die Mutter von 2 Kindern. Aber es hat einen erheblichen Nachteil: Petra Meier müsste über 6.000 Euro zuzahlen.
Wie kann das sein?
Für Syntralon wurde im Jahr 2011 vom Spitzenverband der Krankenkassen ein Höchstbetrag festgesetzt, weil eine Bewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (kurz: IQWiG) zum Ergebnis hatte, dass der Mehrnutzen des Medikaments nicht im Verhältnis zu den damit verbundenen höheren Kosten steht.
Diese Regelung ist im Sozialgesetzbuch seit 2007 festgelegt. Durch die Festsetzung eines Höchstbetrages soll verhindert werden, dass die Gesetzliche Krankenversicherung Millionen für teure Therapien aufwendet, die im Ergebnis nur einen geringen Mehrnutzen für den Patienten bringen. Im konkreten Fall müsste Petra Meier für die teurere Therapie mit Syntralon deshalb 6.000 Euro „aufzahlen“. Das geben die finanziellen Ressourcen der alleinlebenden Mutter, die als Sachbearbeiterin in einem mittelständigen Betrieb arbeitet, aber nicht her. Auch der Krankenkasse sind die Hände gebunden. Aufgrund der gesetzlichen Regelung kann sie für die Kosten nicht aufkommen. Selbst wenn der Arzt das Medikament auf einem Kassenrezept verordnet, müsste doch der Apotheker die hohen Aufzahlungen einfordern.
Diese fiktive Situation zeigt die Auswirkung möglicher „Höchstbetragsfestsetzungen“ durch die Krankenkassen, wie sie gegenwärtig im Sozialgesetzbuch angelegt ist. Noch diskutieren die Experten der Gesundheitsökonomie mit dem IQWiG und dem Gemeinsamen Bundesausschuss über die Methodik. Wenn die Gesetzeslage so bleibt, dürfte das geschilderte Szenario aber schon bald Realität werden.
Zum rechtlichen Hintergrund
In Deutschland können die Arzneimittelhersteller die Preise für ihre Arzneimittel frei bestimmen. In den meisten Fällen sind zugelassene Medikamente auch ab dem ersten Tag des Markteintritts Bestandteil des sog. „Sachleistungssystems“ der Gesetzlichen Krankenversicherung. Mit anderen Worten: Die Hersteller setzen die Preise fest und die Krankenkassen müssen sie bezahlen.
Allerdings stehen die Vertragsärzte und Krankenhäuser in der Pflicht, das Wirtschaftlichkeitsgebot zu erfüllen. Unter gleich guten Arzneimitteln müssen sie das preiswertere auswählen. Der medizinische Fortschritt bringt es aber mit sich, dass mehr und mehr innovative Arzneimittel mit Jahrestherapiekosten von über 10.000 Euro zur Verfügung stehen. Nach der Überzeugung vieler Gesundheitspolitiker muss sich das solidarisch finanzierte System der Gesetzlichen Krankenversicherung vor finanzieller Überforderung durch diese teuren, innovativen Therapien schützen. Ein Verfahren hierzu ist das System der Festbeträge, das schon in den 90er Jahren entwickelt wurde. Der Gemeinsame Bundesausschuss bildet Gruppen von Arzneimitteln mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Eigenschaften, für die dann Festbeträge als Kostengrenze für die Krankenkassen gelten. Jenseits dieser Grenze müssen die Versicherten die Kosten als „Aufzahlung“ tragen. Weil das Festbetragssystem eine gewisse Austauschbarkeit der Wirkstoffe voraussetzt, kann es für neuartige, nicht vergleichbare Arzneimittel keine Anwendung finden. Mit dem Gesetz zur Stärkung der Wirtschaftlichkeit in der Gesetzlichen Krankenversicherung (WSG) ist daher 2007 zusätzlich die Höchstbetragesregelung eingeführt worden: Der Gemeinsame Bundesausschuss beauftragt das IQWiG mit der Kosten-Nutzen-Bewertung für bestimmte Arzneimittel. Auf der Basis dieser Bewertung können die Krankenkassen über ihren Spitzenverband dann einen Höchstbetrag festsetzen. Nur in Höhe dieses Höchstbetrages dürfen die Kosten von den Krankenkassen übernommen werden. Die Differenz zum Apothekenabgabepreis muss der Versicherte zahlen.
Die Konsequenz
Wenn das betroffene pharmazeutische Unternehmen die Kosten seines Arzneimittels auf den Höchstbetrag senkt, ändert sich an den Optionen für eine Therapie des Versicherten nichts. Die Medikamentenkosten werden als Sachleistung von der Krankenkasse übernommen. Eine teure Aufzahlung ist dann nicht erforderlich. Also könnte man auf dem Standpunkt stehen: kein Problem! Oder doch? Die Entwicklung innovativer Arzneimittel, z.B. monoklonaler Antikörper, verschlingt Forschungskosten in Höhe von bis zu einer Milliarde Euro. Diese Investitionsbeträge müssen während der Patentlaufzeit durch den Verkauf des Arzneimittels wieder erwirtschaftet werden, so dass die Spielräume bei der Preisbildung auch für das pharmazeutische Unternehmen begrenzt sein können. Außerdem ist zu beachten, dass Deutschland Referenzland für die internationale Arzneimittelpreisbildung ist und veränderte Abgabepreise für die Apotheken zwischen Flensburg und Friedrichshafen erhebliche internationale Auswirkungen haben können. Immer öfter können die Hersteller auf eine Festbetragsfestsetzung oder andere Beschränkungen der Verordnungsfähigkeit in Deutschland nicht mehr wie früher mit einer Preisabsenkung reagieren. Die Folge, auch für die zukünftig zu erwartende Höchstbetragsfestsetzung, ist dann der faktische Ausschluss durch eine prohibitiv hohe Aufzahlung.
Der Vorschlag
Vor diesem Hintergrund haben nun drei Gutachter, jeder Experte auf seinem Gebiet, einen Vorschlag für ein zusätzliches Versicherungssystem im Gesundheitsmarkt entwickelt: Die Mezzanine-Märkte. Die Professoren Dierks, Felder und Wasem haben mit ihrer kombinierten juristischen, medizinischen und gesundheitsökonomischen Expertise dargestellt, dass durch die Höchstbetragsfestsetzung ein neuer Markt entsteht, der sich zwischen die „Basisleistungen“ der GKV und den Selbstzahlermarkt wie ein Zwischengeschoss (daher „Mezzanine“) einfügen wird. In diesem Markt finden sich Leistungen, und das ist neu in Deutschlands Kassenmedizin, die aus der GKV ausgeschlossen werden, obwohl bei ihnen ein medizinischer Mehrnutzen festgestellt wurde.
Damit unterscheiden sich die Leistungen oder Produkte von den reinen Selbstzahlerleistungen, die keinen medizinischen Nutzen bringen oder vom gesetzlichen Leistungskatalog ohnehin nicht umfasst sind. „Erstmals wird bei Medikamenten zwar ein Mehrnutzen festgestellt, das Mittel aber dennoch von der Versorgung ausgeschlossen“ formuliert der Gesundheitssystemforscher Professor Dr. Dr. Christian Dierks, der als Rechtsanwalt und Arzt in Berlin tätig ist. Nach Auffassung des Gesundheitsökonomen Prof. Dr. Jürgen Wasem muss schon aus wettbewerblichen Gesichtspunkten heraus den gesetzlichen Krankenkassen die Möglichkeit gegeben werden, auf die Bildung dieses Marktes zu reagieren. Prof. Dr. Stefan Felder, ebenfalls hochgradig spezialisierter Gesundheitsökonom an der Universität Duisburg-Essen, stellt dazu in dem Gutachten den volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen eines solchen Versicherungssystems dar. Die drei Experten haben zur Lösung des Problems folgenden Vorschlag unterbreitet:
1. Den Krankenkassen wird gesetzlich die Möglichkeit eingeräumt, aufgrund kassenindividueller Entscheidung die Mehrkosten für Höchstbetragsmedikamente zu übernehmen. Die Entscheidung für eine solche Satzungsleistung bedeutet, dass eine finanzielle Belastung der Versicherten durch erhöhte Beiträge unterbleibt.
2. Um den individuellen Präferenzen der Versicherten nach Risikoabsicherung in bestimmten Bereichen Rechnung zu tragen, können die Krankenkassen die Übernahme der Kosten auch als Wahltarif anbieten. Hierfür müsste sich der Versicherte entscheiden und einen entsprechende Zusatzbeitrag leisten.
3. Schließlich können die Krankenkassen auch private Zusatzversicherungen anbieten, die, wie alle anderen Versicherungen auch, mit risikoorientierten Prämien kalkuliert sind.
4. Um die finanzielle Belastung des Systems dabei trotzdem in Grenzen zu halten, wird die Möglichkeit, mit den Arzneimittelherstellern Rabattverträge abzuschließen, auch auf diese Versicherungssituation ausgedehnt. So kann die Refinanzierung erfolgen, ohne dass die Versicherten Zusatzbeiträge zahlen müssen.
Der Mezzanine-Markt
Wird damit das bisherige Konzept des umfassenden Leistungsanspruchs in der GKV auf den Kopf gestellt? Oder nur der schleichenden Rationierung einer Zwei-Klassen-Medizin ein weiterer Weg gebahnt? Weder noch, meinen die Gutachter: Nach Ihrer Auffassung kann eine solidarisch finanzierte Gesetzliche Krankenversicherung in Zeiten fortschreitender medizinischer Innovation einen umfassenden Versorgungsanspruch nicht garantieren. Gerade im Bereich innovativer Arzneimitteltherapien steht dem auch entgegen, dass immer mehr Medikamente bei immer weniger Patienten wirken. Medizinische Experten sprechen hier vom beschränkten Nutzen für „Subpopulationen“ oder „individualisierter Medizin“.
Im Klartext: Viele teure Medikamente wirken nur bei einem Teil der Patienten. Weshalb die kritische Frage erlaubt sein muss, ob die Gesamtheit der Versicherten für die Kosten aufkommen soll. „Die Individualisierung der Medizin stellt uns vor große sozialrechtliche, haftungsrechtliche, ja sogar datenschutzrechtliche Herausforderungen“ weiß Christian Dierks. Die Gutachter sehen ihren Vorschlag als einen Weg, der den Patienten mehr individuelle Entscheidungen ermöglicht, ihnen diese aber auch abverlangt.
Der neue Markt bedeutet keinen Umsturz in der Welt der Gesundheitsversorgung. Er wird zunächst nur langsam wachsen, da die Medikamente schrittweise aus dem System herausgefiltert werden. „Wir gehen davon aus, dass jedes Jahr ein paar Medikamente dazukommen werden. Der Mezzanine-Markt wird sich schrittweise entwickeln, so dass wir ausreichend Gelegenheit haben, mit den neuen Versicherungsformen umzugehen“ schätzt der Ökonom Stefan Felder die zukünftige Situation ein.
Innovative Diskussionskultur
Das Zwischengeschoss des Mezzanine-Marktes wir also erst nach und nach bezogen. Die Gutachter sehen ihre Vorschläge auch nicht in Stein gemeißelt: „Wir verstehen das als Diskussionsbeitrag. Jeder kann sich an der Diskussion beteiligen“ erklären alle drei Experten unisono auf einer Pressekonferenz in Berlin am 23.10.2009. Das neue Konzept der Mezzanine-Märkte wird sich auch in einem neuen Konzept der kooperativen Diskussionskultur wiederfinden. Die Gutachter stellen ihren Vorschlag in ein „Wiki“ ein, in dem jeder Änderungsvorschläge und kritische Anmerkungen ergänzen kann. So können alle, die an der Diskussion teilnehmen wollen, bei der Ausgestaltung des Zwischenmarktes zwischen Basisleistungen und Selbstzahlerleistungen mitwirken. Wenn das Konzept umgesetzt wird, können die Kassenpatienten der Zukunft zwischen Krankenkassen mit unterschiedlichen Satzungsleistungen bei Höchstbetragsmedikamenten wählen oder Wahltarife und Zusatzversicherungen für bestimmte Risiken abschließen. Petra Meier und andere Patientinnen hätten dann die Wahl, erweiterte Versicherungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Doch zunächst muss sich zeigen, ob die Gesellschaft und die Gesundheitspolitiker bereit sind, diese Diskussion über die Weiterentwicklung des Marktes zu führen.
Anmerkung
* Name und Handlung sind fiktiv.
Download
Quelle: Pressekonferenz zum Thema „Mezzanine Märkte in der Krankenversicherung – ein Zugang zu innovativen Gesundheitsleistungen“ am 23.10.2009 in Berlin (Triad Projektgesellschaft) (tB).