Abb.: Der Zusatznutzen eines Arzneimittels wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bewertet. © G-BANutzenbewertung älterer Arzneimittel

Dossier: Bestandsmarkt-Aufruf

 

Darmstadt (23. Januar 2014) – Die Absicht der Großen Koalition, die seit Jahr 2011 mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz mögliche Nutzenbewertung älterer Arzneimittel bis 1. April 2014 wieder abzuschaffen, geht nicht sang- und klanglos über die parlamentarische Bühne. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) hält dies für falsch und wehrt sich öffentlich dagegen. Das Thema dürfte daher Fachwelt und Öffentlichkeit in den nächsten Wochen beschäftigen. Um was geht es?

 

 

Ein Blick zurück

 

Am 1. Januar 2011 ist das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) in Kraft getreten. Es hat die Rahmenbedingungen für die pharmazeutische Industrie grundlegend verändert. Durch das AMNOG wurde der Paragraf 35 a im Sozialgesetzbuch V neu gefasst. Damit wurde de facto das bis dahin geltende Recht des pharmazeutischen Herstellers abgeschafft, den Preis für patentgeschützte Arzneimittel selbst festzusetzen. Der Betrag, den die Krankenkassen erstatten, ist nun abhängig vom Zusatznutzen, den das Medikament gegenüber bereits bekannten Therapien nachweist.

Der Zusatznutzen wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bewertet. Er stützt sich dabei auf die Expertise des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Erkennt der G-BA keinen Zusatznutzen an, wird das Medikament einer Festbetragsgruppe zugeordnet. Wird ein Zusatznutzen anerkannt, ist sein Ausmaß Basis für die Verhandlungen des Herstellers mit dem GKV-Spitzenverband um einen angemessenen Erstattungsbetrag.

Bei den Verhandlungen geht es formal um einen Rabatt auf den Listenpreis, den die Hersteller allen Krankenversicherungen in Deutschland gewähren müssen. Die Konstruktion hat der Gesetzgeber bewusst gewählt, um die Fiktion der freien Preisbildung aufrecht zu erhalten, da der Preis in Deutschland international als Referenzpreis gilt.

Für die Nutzenbewertung gibt es zwei Varianten: die Frühe Nutzenbewertung für neue Arzneimittel und die Bestandsmarktbewertung für ältere Medikamente.

Frühe Nutzenbewertung: Innovative Arzneimittel, die erstmals auf den Markt kommen, müssen binnen eines Jahres den zusätzlichen Nutzen gegenüber schon vorhandenen Arzneimitteln im Verfahren der Frühen Nutzenbewertung nachweisen. Nur im ersten Jahr wird der Listenpreis des Herstellers von den Versicherungen anerkannt. An der Frühen Nutzenbewertung rüttelt die Koalition nicht. Sie soll beibehalten werden.

 

 

Hierum geht es

 

Bestandsmarktaufruf: Die Pläne der Koalition betreffen den sogenannten Bestandsmarkt, also alle noch patentgeschützten Arzneimittel, die vor dem 1. Januar 2011, also vor Inkrafttreten des AMNOG und damit der Änderung des Sozialgesetzbuchs V, auf dem Markt waren. Der Paragraf 35a, Absatz 6, lautet derzeit:

„Für bereits zugelassene und im Verkehr befindliche Arzneimittel kann der Gemeinsame Bundesausschuss eine Nutzenbewertung veranlassen. Vorrangig sind Arzneimittel zu bewerten, die für die Versorgung von Bedeutung sind oder mit Arzneimitteln im Wettbewerb stehen, für die ein Beschluss nach Absatz 3 vorliegt. Die Absätze 1 bis 5a und 7 bis 8 gelten entsprechend, wobei Absatz 8 mit der Maßgabe gilt, dass auch gegen die Veranlassung nach Satz 1 eine gesonderte Klage unzulässig ist. Bei Zulassung eines neuen Anwendungsgebiets für ein Arzneimittel, für das der Gemeinsame Bundesausschuss eine Nutzenbewertung nach Satz 1 veranlasst hat, reicht der pharmazeutische Unternehmer ein Dossier nach Absatz 1 spätestens vier Wochen nach Zulassung ein.“

Der Bestandsmarktaufruf hat bislang keine große Rolle gespielt. Am 7. Juni 2012 macht der G-BA davon erstmals Gebrauch. Er ruft die zur Behandlung von Diabetes eingesetzte Wirkstoffgruppe der Gliptine zur Nutzenbewertung auf.

Anlass waren Wettbewerbsnachteile für die Anbieter neuer Wirkstoffe für dasselbe Indikationsgebiet. Während sie sich der Frühen Nutzenbewertung und den anschließenden Erstattungsbetragsverhandlungen unterziehen müssen, bleibt die Konkurrenz, die vor dem Stichtag ihre Medikamente eingeführt hatte, davon verschont und kann ihre alten Preise zunächst beibehalten.

 

Am 18. April 2013 allerdings hat der Gemeinsame Bundesausschuss allgemeingültige Kriterien vorgelegt, in welcher Reihenfolge die vielen älteren, aber noch geschützten Arzneimittel zur Nutzenbewertung aufgerufen werden sollen. Das Umsatzvolumen wird mit 80 Prozent gewichtet, die Zahl der verkauften Packungen mit 20 Prozent. Ziel ist es, zunächst die Arzneimittelgruppen zu erfassen, die das größte Einsparvolumen erwarten lassen.

Am 12. September 2013 überrascht der Unabhängige Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken, bei der Vorstellung des Arzneiverordnungs-Reports des Wissenschaftlichen Instituts der Krankenkassen (WIdO) mit skeptischen Aussagen zur Nutzenbewertung im Bestandsmarkt.

Am 17. Oktober 2013 wird er beim 10. IGES Innovationskongress deutlicher. Er spricht angesichts zahlreicher rechtlicher und praktischer Umsetzungsprobleme von einer „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ und davon, dass den Kassen die Bewertung „oller Kamellen“ finanziell nichts bringe. Er plädierte daher für die Aufhebung des Bestandsmarktaufrufs. Er führte zahlreiche Argumente an, u.a.

  • dass viele Medikamente längst zur Standardtherapie geworden seien und es daher nahezu unmöglich sei, eine zweckmäßige Vergleichstherapie zu finden,
  • dass mit zunehmender Zulassungsdauer auch wachsendes Erkenntnismaterial geprüft und bewertet werden muss und
  • dass letztlich viele Medikamente ohnedies bald aus dem Patentschutz fielen und der anschließende generische Wettbewerb zu einem absehbaren Preisverfall fallen würde.

 

Am 14. November 2013 ruft der G-BA dennoch erneut Wirkstoffgruppen für fünf Indikationsgebiete auf, obwohl sich in den Koalitionsverhandlungen längst Pläne für eine Abschaffung des Bestandsmarktaufrufs abzeichnen. Hecken begründet dies damit, dass der G-BA an bestehendes Recht und Gesetz gebunden sei. Insgesamt sind 25 Wirkstoffe aus dem Bestandsmarkt aufgerufen.

Am 27. November 2013 legen CDU, CSU und SPD ihren Koalitionsvertrag vor. Darin heißt es zum Bestandsmarktaufruf:

„Wir werden den gesamten Bestandsmarktaufruf (§ 35a Abs. 6 SGB V) beenden. Dies gilt auch für laufende Verfahren. Um das hier geplante Einsparvolumen zu erreichen, werden wir das Preismoratorium auf dem Niveau der Preise vom 1. August 2009 nahtlos fortführen und den Herstellerrabatt auf verschreibungspflichtige Arzneimittel (§ 130a Abs. 1 SGB V) ab dem Jahr 2014 von sechs auf sieben Prozent erhöhen.“

Am 11. Dezember 2013 veröffentlicht die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) eine vierseitige Stellungnahme, in dem sie sich gegen die Abschaffung der Bestandsmarktbewertung ausspricht. Das Verfahren bereits nach Aufruf der ersten Wirkstoffgruppe jetzt wieder zu beenden, konterkariere die Zielsetzung einer rationalen Arzneimittelversorgung und erschwere die unabhängige Information von Ärzten und Patienten.

Auf die politische Weichenstellung hat dies keinen Einfluss. Am 18. Dezember wird der Entwurf eines 14. SGB V-Änderungsgesetzes vorgelegt und in Erster Lesung im Bundestag behandelt.

 

In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es:

„Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln im Bestandsmarkt, die bereits vor 2011 (vor Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes – AMNOG) in Verkehr gebracht worden sind, ist mit einem hohen methodischen und administrativen Aufwand verbunden, der denjenigen für die Nutzenbewertung neu zugelassener Arzneimittel deutlich überschreitet. Dies gilt sowohl für die Erstellung des Arzneimitteldossiers durch den pharmazeutischen Unternehmer als auch für die Durchführung der Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss und das von ihm beauftragte Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.“

Der Gesetzesvorschlag lautet: „Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), das zuletzt durch … geändert worden ist, wird wie folgt geändert: 1. § 35a Absatz 6 wird aufgehoben.“

Unabhängig davon ist bei der Substanzklasse der Gliptine der Bestandsmarktaufruf bereits erfolgt. Die Verhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband um den Erstattungsbeitrag werden zurzeit geführt.

Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) wehrt sich erneut gegen die Regelung. Am 14. Januar 2014 betont ihr Vorsitzender, Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, im Rahmen des Interdisziplinären Forums der Bundesärztekammer: „Die Nutzenbewertung für bereits auf dem Markt befindliche Arzneimittel ist für eine qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Arzneimittelversorgung unentbehrlich.“

 

 

Wie geht es weiter?

 

  • 12. Februar 2014: Öffentliche Anhörung zum Entwurf des 14. SGB V Änderungsgesetz im Bundestagsgesundheitsausschuss
  • 21. Februar 2014: 2. Und 3. Lesung im Bundestag

  • 14. März 2014: Beratung und Beschlussfassung im Bundesrat

  • 1. April 2014: Gesetz tritt in Kraft

 

 

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Quelle: Merck Serono, 23.01.2014 (tB).

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