Gesundheitswesen

Kein Tatenschutz aus Datenschutz

 

Berlin (28. April 2020) – Der Sachverständigenrat Gesundheit empfiehlt der Bundesregierung dringend Strukturänderungen. Covid-19 zeigt fatale Symptome auf.

Prof. Dr. Beate Jochimsen im Interview zu Ursachen und notwendigen Maßnahmen.

 

Sie haben zusammen mit den anderen Mitgliedern des Expert/innengremiums außerplanmäßig eine aktuelle Bestandsaufnahme des deutschen Gesundheitswesens veröffentlicht. Weshalb?

Die weltweite Coronakrise, die wir gerade erleben und mit allen Mitteln versuchen so gut es geht einzudämmen, bringt einige Probleme auch im deutschen Gesundheitswesen deutlich ans Licht. Viele dieser Probleme, wie der mancherorts bestehende Pflegekräftemangel, ungeklärte Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern oder eine in vielen Bereichen noch auf dem Austausch von Faxen bestehende Kommunikation, sind keineswegs neu, aber sie erfahren im Moment eine nie dagewesene Aufmerksamkeit. Das ist eine große Chance, um unseren Änderungsvorschlägen Nachdruck und Gehör zu verschaffen.

 

Liegen Fehler im System und wenn ja, wo?

Ursachen sehe ich beispielsweise im nicht immer gut aufeinander abgestimmten Nebeneinander von Bund- und Länderkompetenzen im Gesundheitswesen und im fehlenden digitales Register- und Meldesystem. Ein deutschlandweites Register für freie und belegte Intensivbetten musste beispielsweise erst angelegt werden. Deutlich wird dies zudem an den Meldewegen von COVID-19-Infektionen und Genesungen und Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung. Die Datenübermittlung zwischen Gesundheitsämtern und Robert-Koch-Institut könnte viel sicherer und schneller erfolgen, die Auswertung und Diagnostik zielgenauer sein, wäre alles klarer geregelt und digitalisiert.

 

Wie? Könnten Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Mit einer sektorenübergreifenden elektronischen Patientenakte könnte man die Risikogruppen besser identifizieren sowie verlässlicher und einfacher auswerten, welche Vorerkrankungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus besonders fatal sind. Die elektronische Patientenakte kommt aber erst 2021. Diagnostik und Behandlung wären auf der Basis digital verfügbarer Informationen effizienter abzustimmen und zu koordinieren zwischen Hausarzt, Facharzt und Krankenhaus.

 

Im aktuellen Papier des Sachverständigenrats ist die Rede von einer strukturellen Abschottung zwischen Kliniken und Praxen. Warum gibt es diese?

Das ist vor allem der rückständigen Digitalisierung geschuldet. Sie ist in den letzten Jahrzehnten nicht konsequent genug vorangetrieben worden. Es kam immer wieder zu Verzögerungen bei der Umsetzung. Hierfür gibt es technische, rechtliche, psychologische und organisatorische Ursachen. Im Probebetrieb tauchen Probleme bei der Softwareinstallation in den Arztpraxen und Sicherheitslücken auf.

 

Das wirkt sich auch negativ auf die Bewältigung der gegenwärtigen Pandemie aus?

In der Corona-Krise wird einmal mehr deutlich, dass durch Patientenverwaltung auf Papierkarteikarten und der Kommunikation zwischen Ärzten per Fax das deutsche Gesundheitswesen in einer Koordinationskrise steckt. Davon profitiert niemand, es lähmt. Wichtig ist jedoch, alle Beteiligten auf dem Weg der Digitalisierung mitzunehmen, Vorbehalte und Ängste zu überwinden – und zwar sowohl auf Seiten der Ärztinnen und Ärzte, als auch bei den Patientinnen und Patienten.

 

Welche Rolle spielt der Datenschutz?

Der Schutz von Patientendaten ist enorm wichtig, um Diskriminierung und Benachteiligung zu verhindern. Doch die Nutzung von Gesundheitsdaten, deren digitale Erfassung und Auswertung, sind auch wichtig, um besser forschen zu können und damit weltweit eine bessere Patientenversorgung zu ermöglichen. Datenschutz darf nicht zum Tatenschutz werden und Menschenleben kosten. In einer Solidargemeinschaft halte ich es – gerade auch aus ethischer Sicht – sogar für geboten, die Daten, die durch solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung zustande kommen, auch dem Gesundheitssystem zur Verfügung zu stellen. Damit kommen sie dem Wohl aller Patienten und Patientinnen zugute, der heutigen und der zukünftigen.

 

Sie sprechen vom „solidarisch finanzierten Gesundheitssystem“. Gelten Ihre Forderungen auch für privat Versicherte?

Gesellschaftliche Solidarität ist und sollte an die rechtliche Form der Krankenversicherung geknüpft sein. Da privat Versicherte vom medizinischen Fortschritt, der unter anderem aus der Auswertung großer Datenmengen vorangetrieben werden kann, ja genauso profitieren wie gesetzlich Versicherte, ist es für sie ebenso geboten, ihre Daten zur Verfügung zu stellen. Ich sehe da keinen Unterschied.

 

Kann die Digitalisierung auch dazu beitragen, die Engpässe im Pflegebereich zu überwinden?

Überwinden würde ich nicht sagen, aber eine digitale Vernetzung ist sicher eine Stellschraube zur Entlastung des Personals.

 

Hätten Sie ein praktisches Beispiel dafür?

Durch die digital unterstützte Überwachung von Patientinnen und Patienten, indem Vitalparameter wie Körpertemperatur, Blutdruck oder Herzschlagfrequenz telemedizinisch erfasst werden, können Arztpraxen und Krankenhäuser entlastet werden. Das Personal wird frei für andere Aufgaben und in solchen Situationen wie der COVID-19-Pandemie auch vor Infektion geschützt.

 

Was bleibt von der Coronakrise? Wird die Politik Lehren ziehen aus dem Digitalisierungsnotstand?

Mit der Einrichtung eines Registers für Intensivbetten sowie einigen jüngst verabschiedeten Gesetzen (zum Beispiel zu Apps auf Rezept) hat die Politik ja bereits damit begonnen. Ich hoffe nun allerdings, dass sie auf dem eingeschlagenen Weg weiter mutig und zügig voranschreitet.

 

Frau Prof. Jochimsen, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin.

 

 

Zur Person

Prof. Dr. Beate Jochimsen ist Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft und Studiengangsleiterin des Bachelorstudiengangs Economics an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin. Seit Februar 2019 ist die Expertin für Gesundheitsökonomie, Fiskalföderalismus und öffentliche Haushalte Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung zur Begutachtung der Entwicklung des Gesundheitswesens.

 

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

Die Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin ist mit über 11 500 Studierenden eine der großen Hochschulen für angewandte Wissenschaften – mit ausgeprägtem Praxisbezug, intensiver und vielfältiger Forschung, hohen Qualitätsstandards sowie einer starken internationalen Ausrichtung. Das Studiengangsportfolio umfasst Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts- und Sicherheitsmanagement sowie Ingenieurwissenschaften in über 60 Studiengängen auf Bachelor-, Master- und MBA-Ebene. Die HWR Berlin unterhält 195 aktive Partnerschaften mit Universitäten auf allen Kontinenten und ist Mitglied im Hochschulverbund „UAS7 – Alliance for Excellence“. Als eine von Deutschlands führenden Hochschulen bei der internationalen Ausrichtung von BWL-Bachelorstudiengängen und im Dualen Studium belegt die HWR Berlin Spitzenplätze in deutschlandweiten Rankings und nimmt auch im Masterbereich vordere Plätze ein. Die HWR Berlin ist einer der bedeutendsten und erfolgreichen Hochschulanbieter im akademischen Weiterbildungsbereich und Gründungshochschule. Die HWR Berlin unterstützt die Initiative der Hochschulrektorenkonferenz „Weltoffene Hochschulen – Gegen Fremdenfeindlichkeit“.

 


Quelle: Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, 28.04.2020 (tB).

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