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AOK-Gemeinschaft fordert Aussetzen der „Manipulationsbremse“ im Morbi-RSA
Hoyer: „Nicht Manipulation, sondern Morbidität wird ausgebremst“
Berlin (7. Juni 2021) — Bevor die sogenannte Manipulationsbremse im Finanzausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen tatsächlich in Kraft tritt, sollten Wirkungsmechanismen und Nebeneffekte noch einmal genauer überprüft werden. Das fordert der AOK-Bundesverband anlässlich der heutigen Anhörung zum Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG). Zuletzt waren massive Zweifel an der Zielgenauigkeit der neuen Regelung im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) geäußert worden. Gleichzeitig haben sich die finanziellen Perspektiven der Krankenkassen für das Jahr 2022 nicht nur durch Corona deutlich verdüstert.
AOK-Vorstand Jens Martin Hoyer kritisiert: „Das neue Vollmodell des Morbi-RSA soll alle Krankheitsgruppen in den Blick nehmen. Gegen diese Vollerfassung von Morbidität wirkt die sogenannte Manipulationsbremse, indem sie pauschal gerade die fünf Prozent der Krankheitsgruppen mit der höchsten Bedeutung für die morbiditätsorientierten Zuweisungen und den höchsten Steigerungen im Diagnosegeschehen aller Krankenkassen wieder aus der Betrachtung herausnimmt. So wird letzten Endes nicht die Manipulation, sondern die Morbiditätsorientierung des Morbi-RSA ausgebremst. Das wirkt sich zu Lasten von Kassen mit einem überdurchschnittlichen Anteil an kranken Versicherten beziehungsweise zu Gunsten von Kassen mit einem vergleichsweise gesunden Versichertenklientel aus. Vulnerable Versichertengruppen mit hoher Krankheitslast fallen dann plötzlich wieder durchs Raster der Berücksichtigung. Und für Krankenkassen lohnt sich damit paradoxerweise abermals die Risikoselektion nach jungen und gesunden Versicherten beziehungsweise die Diskriminierung von alten und kranken Versicherten.“
Geplanter GKV-Bundeszuschuss von sieben Milliarden nicht ausreichend
Neben den grundsätzlichen Zweifeln an der Manipulationsbremse sieht der AOK-Bundesverband vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der jüngsten Gesetzgebung noch weitere finanzielle Unsicherheiten für die gesetzliche Krankenversicherung. So habe die Koalition zuletzt zwar die Absicht bekundet, den durchschnittlichen Zusatzbeitragssatz 2022 auf 1,3 Prozent zu begrenzen. Die vereinbarte Erhöhung des Bundeszuschusses in Höhe von sieben Milliarden Euro sei allerdings nicht ausreichend, um dieses Ziel zu erreichen, so Hoyer. Darum sollten die Regierungsfraktionen noch vor der Bundestagswahl die notwendigen Beschlüsse fassen: „Um für die Kassen Planungssicherheit zu schaffen, muss die Höhe des gesamten ergänzenden Bundeszuschusses für das Jahr 2022 zum Zeitpunkt der Beratungen des Schätzerkreises Mitte Oktober 2021 feststehen, um den durchschnittlichen GKV-Zusatzbeitrag für das Jahr 2022 mit 1,3 Prozent festlegen zu können.“
Unwägbarkeiten erwartet Hoyer auch noch an anderen Stellen: „Ausgerechnet die durch die Coronavirus-Pandemie massiv beeinflussten Morbiditätsdaten sollen nun mit Einführung der Manipulationsbremse dazu verwendet werden, mechanisch und pauschal vermeintliches Fehlverhalten zu identifizieren. Am Ende könnten gerade solche Krankheiten unter Manipulationsverdacht geraten, deren Behandlung aufgrund ihrer Dringlichkeit und Schwere nicht verschoben werden konnte.“ Laut AOK-Bundesverband bleibt bei der sogenannten Manipulationsbremse auch im Dunkeln, wie sie mit dem kürzlich beschlossenen Rücklagenzugriff und den Auffälligkeitsprüfungen nach Paragraf 273 zusammenwirkt.
„Tatsächliche Manipulation muss unterbunden werden. Aber die Effekte, die mit den neuen Instrumenten erreicht werden sollen, müssen dann auch eintreten und die Bekämpfungsmittel zielgerichtet wirken. Das ist in Bezug auf die derzeitigen Regelungen nicht gegeben.“ Es könne gut sein, dass Wechselwirkungen dazu führten, dass die Krankenkassen mehrfach geschröpft würden, so Hoyer weiter. „Bei so viel Intransparenz, Interdependenz und Unsicherheit wäre es ein Gebot der Vernunft, die Morbiditätsbremse noch einmal ganz grundsätzlich zu überprüfen, bevor man sie scharf stellt. Wir plädieren daher für ein Aussetzen.“
Hintergrundinformationen zur Wechselwirkung von Vermögensabbau und Manipulationsbremse:
Morbiditätsorientierter Rissikostrukturausgleich
Die AOK-Gemeinschaft ist mit einem Anteil in Höhe von 4,2 Milliarden Euro überproportional vom Vermögensabbau betroffen. Durch die RSA-Prüfungen für die zurückliegenden Jahre seit 2013 werden nun voraussichtlich rückwirkend Korrekturen mit Wirkung auf abgeschlossene Bilanzen vorgenommen. Die Korrekturforderungen aus den Prüfungen greifen auf Bilanzvermögen zu, das den Krankenkassen nach dem Gesetz zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung (GPVG) ab dem Jahr 2021 gar nicht mehr zur Verfügung steht. Konsequenterweise hätte die Vermögensabführung gemäß § 272 SGB V erst nach einer etwaigen Korrektur der Vorjahre erfolgen dürfen. Berücksichtigt man die zeitlich überlappende Wirkung der „Manipulationsbremse“, die überproportionale Morbiditätsveränderungen im Zeitraum von 2017 bis 2020 korrigieren soll, erfolgt de facto eine dreifache Vermögenskorrektur durch nachträgliche Zuweisungsveränderungen für abgeschlossene Geschäftsjahre. Dieses Problem lässt sich nur dadurch lösen, dass die vermögensändernden Korrekturen aus den Prüfungen nach § 273 SGB V für die zurückliegenden Jahre ausgesetzt und erst ab dem Berichtsjahr 2020 wieder durchgeführt werden.
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Quelle: AOK Bundesverband, 07.06.2021 (tB).
Schlagwörter: AOK, Finanzausgleich, Gesundheitspolitik, Morbi-RSA, Risikostrukturausgleich