Neugeborenen-Screening auf Sichelzellkrankheit kann Todesfälle vermeiden

 

  • Frühere Diagnose kombiniert mit Infektionsprophylaxe sowie Schulung von Angehörigen erhöht die Lebenserwartung

 

Köln (19. September 2019) — Nach einem SCD-Screeningmit anschließender Infektionsprophylaxe sowie der Schulung von Fachpersonal und Angehörigen sterben voraussichtlich weniger Kinder an Sichelzellanämie. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) untersucht, ob ein systematischer Test von Neugeborenen auf die Sichelzellkrankheit (englisch sickle cell disease, kurz SCD) in Deutschland sinnvoll wäre.

Aus einer retrospektiven, historisch vergleichenden Screening-Studie an Kindern auf Jamaika leiten die IQWiG-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler einen Anhaltspunkt für einen Nutzen ab. Die Studienergebnisse unterliegen zwar einem hohen Verzerrungspotenzial, sind also mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, aber der beobachtete Unterschied zwischen Interventions- und Vergleichsgruppe ist sehr groß, denn die Sterblichkeit sinkt um den Faktor 10: Bis zum ersten Lebensjahr verstarben in der Gruppe der frühzeitig behandelten Kinder 0,01 %, in der Gruppe der unbehandelten Kinder dagegen 0,1 %.

„Laufende Studien zur Screening-Kette waren zwar nicht zu identifizieren. Doch angesichts des deutlichen Interventionseffekts dieser retrospektiven Studie und dessen großer Bedeutung für die besonders vulnerable Gruppe von Säuglingen und Kindern lässt sich der Nutzen hier klar erkennen – auch ohne randomisierte kontrollierte Studien (RCT)“, stellt Stefan Lange, stellvertretender Leiter des IQWiG, klar.

 

Geeignete Testverfahren für die Diagnose

Anhand von Studien zur diagnostischen Güte überprüften die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IQWiG ergänzend die Frage nach geeigneten diagnostischen Testverfahren für ein SCD-Screening in Deutschland. Die Datenlage aus diesen Studien reichte für verlässliche Aussagen nicht aus, aber der positive prädiktive Vorhersagewert (PPV) einzelner Studien zeigt an, dass es durchaus Testverfahren mit hoher Spezifität gibt: Von den mittels Tandem-Massenspektrometrie (MS/MS) und Hochleistungsflüssigkeitschromatografie (HPLC) identifizierten Babys waren bei diesen Verfahren alle tatsächlich von einer Sichelzellkrankheit betroffen.

 

Todesfälle durch Organversagen und Infektionen

Die erbliche Sichelzellkrankheit betrifft den roten Blutfarbstoff Hämoglobin, der den Sauerstoff im Blut transportiert: Durch genetische Veränderungen des Hämoglobins verformen sich die roten Blutkörperchen sichelförmig und zerfallen schneller als gesunde Zellen. Das führt zu Blutarmut (Anämie), schlechterer Durchblutung des Körpers und zu verstopften Blutgefäßen. Dadurch werden wichtige Organe und auch die Abwehrreaktion des Körpers chronisch geschädigt bis hin zu Flüssigkeitsverlust, Sauerstoffmangel, Fieber und Infektionen, die auch zum Tod führen können. Die Symptome zeigen sich allerdings erst ab etwa dem dritten Lebensmonat.

 

Frühere Diagnose und frühzeitige Infektionsprophylaxe

Vor allem Kinder in den ersten Lebensjahren sind sehr anfällig für lebensgefährliche Infektionen. Deshalb ist das Ziel eines Neugeborenen-Screenings auf SCD die möglichst frühe Identifikation und Behandlung der betroffenen Kinder. Die deutsche Leitlinie des Konsortiums der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) empfiehlt daher zur SCD-Behandlung nicht nur präventive Verhaltensmaßnahmen (etwa die Aufklärung der Eltern über Anzeichen und die richtige Reaktion auf akute Komplikationen), sondern auch eine Infektionsprophylaxe inklusive Impfungen sowie eine lebenslange strukturierte Langzeitüberwachung und Therapie von Betroffenen.

 

Blutprobe genügt

Die Sichelzellkrankheit lässt sich über eine einfache Blutprobe diagnostizieren – genauso wie die anderen Zielerkrankungen, die bereits in das deutsche Neugeborenen-Screening nach der Kinder-Richtlinie des G-BA integriert sind: In der 36. bis 72. Lebensstunde wird eine Blutprobe des Neugeborenen auf Filterpapierkarten getropft und auf verschiedene Krankheiten hin untersucht. Der SCD-Test ließe sich somit sehr einfach in die Analyse einschließen.

Laut einer Erhebung anhand von Routinedaten von AOK-versicherten Kindern der Geburtsjahrgänge 2009 und 2010 findet in Deutschland gegenwärtig eine frühe Diagnosestellung der Sichelzellkrankheit im ersten oder zweiten Lebensquartal nur in 15,4 % der Fälle statt. In den USA, England, Frankreich, Spanien, den Niederlanden und Belgien ist ein Neugeborenen-Screening auf die Sichelzellkrankheit schon länger etabliert.

 

Wenig Betroffene in Deutschland

SCD kommt regional sehr unterschiedlich häufig vor und ist mit der Verbreitung von Malaria verknüpft, weil Betroffene weniger anfällig für Malaria sind. Mangels verlässlicher Angaben zur Zahl der in Deutschland mit Sichelzellanämie geborenen Kinder gibt es dazu nur Schätzungen: Derzeit leben demnach etwa 3000 Menschen in Deutschland mit dieser Krankheit. Aus Hochrechnungen lassen sich für Deutschland etwa 200 Neugeborene mit Sichelzellanämie pro Jahr annehmen. Es ist davon auszugehen, dass die SCD in Deutschland aktuell überwiegend bei Nachfahren aus der afrikanischen Subsahara, dem östlichen Mittelmeerraum, dem Nahen Osten und Indien auftritt.

 

Zum Ablauf der Berichtserstellung

Den Vorbericht zum Neugeborenen-Screening auf Sichelzellanämie hatte das Institut im April 2019 publiziert. Im anschließenden Stellungnahmeverfahren gingen aus vier Stellungnahmen Ergänzungen in den Abschlussbericht ein, die aber nicht zu einer Änderung des Fazits führten. Die schriftlichen Stellungnahmen sind nun ebenfalls auf der Website des Instituts abrufbar.

 

Weitere Informationen

 


Quelle: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), 19.09.2019 (tB).

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