Der Rückenschmerz nervt?! Debatte ohne Ende oder Ende der Debatte?

Der Rückenschmerz ist nozizeptiv!

 

  • Priv.-Doz. Dr. Rainer Freynhagen, Zentrum für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Schmerztherapie und Palliativmedizin, Schmerzzentrum am Starnberger See, Benedictus Krankenhaus Tutzing

 

Hamburg (24. Oktober 2013) – Die Argumentation in dieser Debatte soll verdeutlichen, dass bei den meisten Rückenschmerz-Patienten nozizeptive Schmerzkomponenten im Vordergrund stehen, wenn auch unbestreitbar in sehr individuellem Ausmaß neuropathietypische Symptome im Zusammenspiel mit nozizeptiven Komponenten als sogenanntes Mixed-Pain-Syndrom auftreten.

 

Nozizeptiver Schmerz ist neben neuropathischem Schmerz eine der zwei wesentlichen Schmerzarten und im Hinblick auf Rückenschmerzen der bei weitem häufigere und besser verstandene Typ. Er ist definiert als Schmerz, der infolge einer Reizung ansonsten intakter Schmerzrezeptoren (freie Nervenenden oder Nozizeptoren) entsteht.

 

Das Symptom „Rückenschmerz“ ist ätiologisch durch sicher mehr als 100 unterschiedliche Erkrankungen erklärbar. Ein großer Teil aller Rückenschmerzen hat eine mechanische Ursache, häufig handelt es sich aber auch um unspezifische Probleme, bei welchen sich kein spezifisches ursächliches Korrelat nachweisen lässt. Diese Beschwerden sind im überwiegenden Teil der Fälle zumeist selbstlimitierend und klingen zumeist innerhalb weniger Wochen ab. So führen beispielsweise Überlastungen oder Verletzungen der Rückenmuskeln zu schmerzhaften muskulären Verspannungen mit sekundären Reizzuständen von Bändern und Sehnen entlang der Muskelfunktionsketten (Insertionstendinosen). Wachstumsstörungen der jugendlichen Wirbelsäule können zu einer schmerzhaften Fehlhaltung führen (z.B. M. Scheuermann), degenerative Prozesse der älter werdenden Wirbelsäule führen zu statischen Veränderungen mit Beteiligung der kleinen Zwischenwirbelgelenke (Facetten) oder größerer Gelenke wie den Iliosakralgelenken. Alles das sind zumeist rein nozizeptive Schmerzprozesse.

 

Vor allem spielen auch entzündliche Erkrankungen eine wichtige Rolle bei der Entstehung nozizeptiver Rückenschmerzen. Arthrosen und Polyarthrosen führen zu entzündlichen Begleitphänomenen. Auch manifeste Entzündungen im Sinne einer Arthritis, Spondylarthritis,

 

Myositis, Bursitis oder Tendinitis bis hin zu Spondylodiszitiden oder Epiduralabszessen sind typische Gründe für nozizeptive Beschwerden.

 

Entzündlich-rheumatische Erkrankungen sind weitere wichtige Differenzialdiagnosen. Zu den häufigsten entzündlich rheumatischen Ursachen gehören seronegative Spondarthropathien wie die ankylosierende Spondylitis (Morbus Bechterew). Bei einer Prävalenz von ca. 0,5 % der deutschen Gesamtbevölkerung ist davon auszugehen, dass ca. 5 % der Patienten mit chronischem Rückenschmerz davon betroffen sind. Auch eine Psoriasisarthritis kann Ursache für akute oder anhaltende nozizeptive Rückenschmerzen sein.

 

Weitere Gründe sind darüber hinaus z.B. Blockierungen der Wirbelsäule, Spondylolisthesen, Tumoren mit Skelettmetastasen oder viszerale Erkrankungen (v. a. retroperitoneal und urogenital).

 

Als eine der häufigsten Ursachen akuter und chronischer (neuropathischer) Rückenschmerzen wird immer wieder die Bandscheibe benannt. Da die gesunde Bandscheibe aber über keine nervale Versorgung verfügt, können bandscheibenbedingte Schmerzen erst dann entstehen, wenn es zu pathologischen Veränderungen kommt, die andere Gewebestrukturen einbeziehen. Daher führt die überwiegende Pathologie der Bandscheiben zunächst zu nozizeptiven Schmerzbildern und pseudoradikulären Syndromen. Vom Bewegungssegment ausgehende Schmerzen und Sensibilitätsstörungen werden via Myotomen und Head-Zonen fortgeleitet und vom Patienten pseudoradikulär in den Extremitäten wahrgenommen. Der Patient klagt dann meist über nicht segmental ausstrahlende dumpf ziehende Rückenschmerzen evtl. auch mit Ausstrahlung in den dorsalen Oberschenkel, nicht aber über radikuläre Beinschmerzen. Klinisch finden sich typischerweise nicht dermatombezogene Dysästhesien und Muskelverspannungen mit sekundären Tendinosen.

 

Biologische Reiz-Reaktions-Modelle reichen aber bei weitem nicht aus, um alle Phänomene des Rückenschmerzes zu beschreiben. Ausgehend vom Zusammenspiel zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren müssen moderne Diagnose- und Therapieempfehlungen auf dem bio-psycho-sozialen Modell aufbauen.

 

 

Eigene dazu publizierte Literatur 

  1. Förster M, Mahn F, Gockel U, Brosz M, Freynhagen R, Tölle TR, Baron R. Axial low back pain: one painful area – many perceptions and mechanisms. PLoS One 2013; 2; 8(7):e68273.
  2. Mahn F, Hüllemann P, Gockel U, Brosz M, Freynhagen F, Tölle TR, Baron R. Sensory symptom profiles and co-morbidities in painful radiculopathy. PLoS One 2011 May 9; 6(5):e18018.
  3. Baron R, Freynhagen R, Tölle TR, Cloutier C, Leon T, Murphy TK, Phillips K, on behalf of the A0081007 Investigators. The efficacy and safety of pregabalin in the treatment of neuropathic pain associated with chronic lumbosacral radiculopathy. Pain 2010; 150:420-7.
  4. Freynhagen R, Baron R. The evaluation of neuropathic components in low back pain. Curr Pain Headache Rep 2009 Jun; 13(3):185-90.
  5. Freynhagen R, Rolke R, Baron R, Tölle TR, Rutjes AK, Schu S, Treede RD. Pseudoradicular and radicular low-back pain – A disease continuum rather than different entities? Answers from quantitative sensory testing. Pain 2008 Mar; 135(1-2):65-74.
  6. Koch A, Zacharowski K, Böhm O, Stevens M, Lipfert P, von Giesen H-J, Wolf A, Freynhagen R. NO and pro-inflammatory cytokines in correlation with pain intensity of chronic pain patients. Inflammation Research 2007 Jan; 56(1):32-7.
  7. Freynhagen R, Baron R, Gockel U, Tolle TR. painDETECT: a new screening questionnaire to identify neuropathic components in patients with back pain. Curr Med Res Opin 2006; 22:1911-20.
  8. Freynhagen R, Baron R, Tölle TR, Stemmler E, Gockel U, Stevens MF, Maier C. Screening on neuropathic pain components in patients with chronic back pain: prospective observational pilot study (MIPORT). Curr Med Res Opin 2006; Mar 22; (3):529-37.

 


 

Quelle: Symposium der Firma Pfizer anlässlich des Schmerzkongresses 2013 in Hamburg, 24.10.2013 (tB) Thomas Backe

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