BVMed-Konferenz zur ambulanten Wundversorgung

„Defizite bei der Wundversorgung durch bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit, Dokumentation und Information überwinden“

 

Bonn/Berlin (30. September 2009) – In Deutschland gibt es noch immer erhebliche Defizite bei der Versorgung chronischer Wunden. Das machte die BVMed-Konferenz „Ambulante Wundversorgung“ am 29. September 2009 in Bonn deutlich. So haben hydroaktive Wundauflagen, von denen Patienten besonders profitieren, in Deutschland nur einen Marktanteil von rund 30 Prozent. In Großbritannien sind es 55 Prozent. Die Defizite können nur gemeinsam überwunden werden: Im funktionierenden, interdisziplinären Zusammenspiel zwischen behandelndem Arzt, Pflegekraft oder Wundtherapeut, Patient und Produkteinsatz. Zur Verbesserung der Situation gehören auch eine bessere Dokumentation, eine bessere Datenlage sowie die Inanspruchnahme von Fortbildungsmaßnahmen, so die Experten der BVMed-Konferenz. Unter den 90 Teilnehmern waren unter anderem 35 Krankenkassenvertreter.

 

In Deutschland leiden rund vier Millionen Patienten an chronischen Wunden. Dr. Thomas Karl vom Klinikum Offenbach betonte die Bedeutung einer initialen Diagnostik – was verursacht die Wunde? – und der dann folgenden kausalen Therapie. Er plädierte für eine gemeinsame Dokumentation, für eine Verbesserung der Ausbildung im Wundbereich und für verbindliche Standards durch die medizinischen Fachgesellschaften. Wichtig sei auch eine adäquate Vergütung. Der MDK-Experte Dr. Alfred David plädierte für die Einführung eines Case-Managements für chronische Wunden sowie für die Etablierung von Integrierten Versorgungsverträgen mit geeigneten Therapeuten und Pflegediensten. Das Fazit der Beraterin Anette Skowronsky, die für den BVMed Schulungsmaßnahmen im Wundversorgungsbereich durchführt: „Eine interdisziplinäre und transsektorale Zusammenarbeit ist genauso wichtig wie die Verbreitung des Wissens über hydroaktive Wundversorgung.“

Die Apothekerin und freie Beraterin Anette Skowronsky führte in aktuelle Entwicklungen im Bereich der Wundversorgung ein. Auch nach über 40 Jahren sei die „moderne“ feuchte Wundversorgung noch nicht überall im ambulanten Bereich angekommen. „Die moderne Wundversorgung ist auch im EBM 2009 nur unzureichend abgebildet. Die Richtgrößen sind ein Hemmschuh bei der Verordnung hydroaktiver Produkte“, so Skowronsky. Sie betonte, dass die verschiedenen Sprechstundenbedarfsverordnungen aktuell sein sollten. Sachsen sei hier ein Vorreiter, während Bayern noch den Stand von 1999 habe. Nach Meinung der Expertin sollten „chronische Wunde“ als Richtgrößenbesonderheit generell bei den Verhandlungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) eingeführt werden. Eine Alternative könnten neue Versorgungsformen wie Homecare oder Integrierte Versorgungsverträge sein. Wichtig sei es auch, den Wissensstand in der Praxis zu verbessern. So biete der BVMed in Zusammenarbeit mit dem Verband medizinischer Fachberufe (VMF) seit 2007 rund 30 Schulungen im Jahr an. Für 2010 seien erneut 30 Schulungen mit dem ergänzenden Schwerpunkt Hygiene geplant. Bei den Fortbildungen geht es um Kosten und Abrechnungsmöglichkeiten der Wundversorgung, aber auch um eine Produktübersicht. Skowronskys Fazit: „Eine interdisziplinäre und transsektorale Zusammenarbeit ist genauso wichtig wie die Verbreitung des Wissens über hydroaktive Wundversorgung.“

Aktuelle Marktzahlen zur Wundversorgung im nationalen und internationalen Vergleich stellte Michael Poersch von IMS HEALTH vor. Im internationalen Vergleich liegen Großbritannien, Frankreich oder Spanien beim Einsatz hydroaktiver Wundversorgungsprodukte deutlich vor Deutschland. Vorreiter ist Großbritannien mit einem Anteil von rund 55 Prozent.

 

  • Im Apothekenbereich werden in Deutschland rund 370 Millionen Euro für Verbandmittel und Pflaster ausgegeben. Der Anteil der hydroaktiven Produkte liegt bei rund 30 Prozent (109 Millionen Euro). Bei den hydroaktiven Wundauflagen stellen die Schaumverbände nach wie vor das größte Segment. Der Abstand zu den  Hydrokolloiden ist größer geworden. Bei den Schaumverbänden ist ein Trend zu keimtötenden, silberhaltigen Produkten zu erkennen. Auch bei den Alginaten bestimmen Silberprodukte die Entwicklung. Alginate mit Silber gewinnen stark an Marktanteil. Der Versandhandel von Apotheken spielt bei hydroaktiven Wundauflagen praktisch keine Rolle.

 

  • Im Klinikbereich liegen die Ausgaben für Verbandmittel und Pflaster bei 243 Millionen Euro. Der Sachbedarf in der Klinik weise mit plus 3,8 Prozent ein moderates Wachstum aus. Die hydroaktive Wundversorgung hat einen Anteil von knapp 30 Prozent, wächst aber stärker als die klassischen Wundprodukte. Die spezielle Wundversorgung ist auch in der Klinik der Trend. Bei den speziellen Wundauflagen ist die Vakuumtherapie in der Klinik führend.

 

Der Dermatologe Dr. Andreas Körber vom Universitätsklinikum Essen sprach von „guten Erfahrungen“ mit der hydroaktiven Wundversorgung, aber von „keiner guten Evidenz“. Es gebe nur wenige Studien, die meist methodisch schlecht seien. Sein Appell: „Wir brauchen evidenz-schaffende Studien.“ Die Grundprinzipien seien seit über 40 Jahren klar: die feuchte Wundbehandlung ist der Goldstandard. Die Wundtherapie sei aber eher eine Erfahrungsmedizin, es gebe wenig Evidenz. Die wissenschaftliche Datenlage durch Leitlinien, Reviews, HTA-Berichte, prospektive Studien oder Metaanalysen sei eher schwach. Es gebe 148 Übersichtsarbeiten (Reviews) zum Thema Wunden, aber nur rund 20 Arbeiten zur lokalen, produktbezogenen Wundtherapie. Am besten untersucht sei die VAC-Therapie, mit der es im Krankenhausbereich sehr gute Erfahrungen mit einer signifikanten Überlegenheit geben, aber wegen fehlender Studien keine hohe Evidenzstufe. Insgesamt müsse die Datenlage und die wissenschaftliche Grundarbeit auf dem Gebiet der Wundversorgung verbessert werden. Bis dahin gelte die derzeitige Evidenz als „best evidence“.  Körber berichtete, dass eine Leitlinie zur lokalen Wundtherapie der betroffenen Fachgesellschaften derzeit in Arbeit sei, die künftig als Basis dienen könne. 

Probleme der Wundversorgung im klinischen Alltag beschrieb Dr. Thomas Karl, Leitender Oberarzt an der Klinik für Gefäßchirurgie des Klinikums Offenbach. Ein Problem sei die Qualifikation der Akteure. Wundbehandlung sei kein Lehrinhalt im Medizinstudium. Zudem sei die Vergütung zu unattraktiv. Deshalb hätten die Ärzte „Terrain“ bei der Wundbehandlung verloren, die von Pflegeberufen dominiert werden. Über Honorare und eine Zusatzbezeichnung müssten daher Anreize für eine bessere Qualifikation gegeben werden. Um die Vergütung zu verbessern, müsse es eine transparente Kostenerfassung und Auswertung geben. Um Schnittstellenprobleme zu beseitigen, müssen gemeinsame verbindliche Behandlungsstandards erarbeitet werden. Nötig sind außerdem EDV-gestützte gemeinsame Wunddokumentationen, telemedizinische Modelle zur Fallbesprechung sowie Integrierte Versorgungsmodelle oder die Vereinbarung von Leistungspaketen.

Die Begutachtungspraxis des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) stellte Dr. Alfred David vor. Er ist Ärztlicher Koordinator der Beratungs- und Begutachtungszentren im MDK Nordrhein in Düsseldorf. Er gab zunächst einen Überblick über die Anzahl der Patienten und die Behandlungskosten. Rund 800.000 Patienten leiden an einem Dekubitus, 200.000 Patienten an einem diabetischen Fußsyndrom und zwischen 250.000 und 800.000 Patienten an einem Ulcus cruris. Die Kosten liegen alleine bei der Behandlung von Dekubitalulcera jährlich bei 1,7 Milliarden Euro Sachkosten und 3,5 Milliarden Euro Gesamtbehandlungskosten. Trotz des hohen Kostenfaktors erhält der MDK Begutachtungsaufträge nur zu zwölf zum Bereich der häuslichen Pflege oder Hilfsmittel. Die Begutachtung erfolgt meist nach Aktenlage. Nur in fünf Prozent der Fälle sieht man den Patienten. Probleme der Begutachtung seien das sehr späte Aufgreifen von chronischen Fällen oder fehlende Standards für die Dokumentation. Hinweise auf Probleme und Fehlentwicklungen würden dabei nie von den behandelnden Ärzten kommen, eher von den Pflegediensten oder Krankenkassenmitarbeitern. David appellierte an seine ärztlichen Kollegen, sich chronische Wunden regelmäßig anzuschauen und sich nicht auf den Pflegedienst zu verlassen. Fortbildung in moderner Wundtherapie und Überweisung von Problemwunden an spezialisierte Zentren seien ebenfalls wichtige Aspekte. Als Maßnahmen zur Verbesserung der Situation schlug der MDK-Experte die Einführung eines Case-Managements für chronische Wunden, die Etablierung von Integrierten Versorgungsverträgen mit geeigneten Therapeuten und Pflegediensten sowie ein Angebot von Fortbildungsmaßnahmen für Behandler und Pflegedienste vor.

Rechtsanwalt Peter Hartmann schilderte die rechtlichen Rahmenbedingungen bei der Behandlung chronischer Wunden. Dabei ging es insbesondere um die Frage der Delegationsfähigkeit von ärztlichen Leistungen auf nicht ärztliches Personal. Gerade im Bereich der Wundversorgung sei die Arbeitsteilung durch Delegation sinnvoll. Dies könne auch funktionieren, wenn qualifizierte Mitarbeiter, eine Anordnung des Arztes und die Überwachung durch den Arzt gegeben sind. Delegiert werden kann nicht die Diagnostik und die Therapieentscheidung, aber beispielsweise die Versorgung unkomplizierter Wunden und im Einzelfall auch die Versorgung komplizierter und sekundär heilender Wunden. Wichtig ist nach Ansicht Hartmanns, dass folgende Grundsätze dabei beachtet werden:

 

  • Die Leistung muss sachlich und persönlich delegationsfähig sein.
  • Alle Aufsichts-, Auswahl- und Sorgfaltspflichten müssen eingehalten werden.
  • Es darf keine unzulässigen Doppelabrechnungen geben.

 

Der Allgemeinarzt Dr. Gerd W. Zimmermann, Stellvertretender Vorsitzender der KV Hessen, schilderte die Auswirkungen der Vergütungsreform und des Morbi-RSA auf das Verhalten der Ärzte insbesondere bei der Behandlung chronischer Wunden. Durch die Umstellung der ärztlichen Honorare von Kopfpauschalen auf eine Kopplung an die Morbiditätsentwicklung, den so genannten Morbi-RSA, ergeben sich völlig neue Anreize. Die gilt zunächst für die Krankenkassen, für die sich „kranke“ Versicherte plötzlich „lohnen“. Zimmermann: „Die Krankenkassen werden schnell die neuen Anreize an niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser und Pharmaindustrie weitergeben in Form von neuen Verträgen welche die RSA Regeln weitergeben in Form von neuen Verträgen, welche die RSA-Regeln berücksichtigen.“ Dadurch würden neue Schwerpunkte entstehen. Bislang für Krankenkassen uninteressante Bereiche rücken damit in den Fokus, beispielsweise die Dialyse. Die KVen werden ihre Vertragsangebote zukünftig auch am Morbi-RSA ausrichten, um erfolgreich zu sein, so Zimmermann. Die Zukunft von modernen Wundversorgungskonzepten sieht der KV-Vertreter nicht innerhalb des Gesamthonorars, sondern eher bei Selektivverträgen, die ein festes Honorar in Euro unter bestimmten Auflagen (Produkte, Pflegedienst) festschreiben.

Erfahrungen mit der ambulanten Wundversorgung aus Sicht der Krankenkasse schilderte Astrid Sand, Gesundheitscoach bei der hkk in Bremen. So habe sie in einem Fall sehr kurzfristig einer kostenintensiven VAC-Therapie zugstimmt und dadurch eine Amputation vermeiden können, was nicht nur für den Patienten sondern auch für die Krankenkasse von Vorteil sei. Aus Sicht der Kassenexpertin muss eine qualitativ gute und wirtschaftliche Wundbehandlung folgende Faktoren beinhalten:

1. Therapierelevante Diagnostik
2. Systematischer Wundtherapieaufbau unter Einbeziehung des Patienten
3. Indikationsgerechte Wundtherapie unter Berücksichtigung der Primärerkrankung
4. Fach- und sachgerechte Anwendung der Verbandstoffe
5. Bedarfsgerechte Verbandwechselfrequenz
6. Phasengerechter Materialeinsatz
7. Patienteninformation – Patientencompliance

Im Rahmen der Konferenz präsentierte die zertifizierte Wundmanagerein Bianka Rausch Praxisfälle und berichtete über ihre Versorgungserfahrungen mit Patienten mit chronischen Wunden.

 


 

Quelle: Pressemitteilung des Bundesverbandes Medizintechnologie e.V. (Bvmed) vom 30.09.2009.

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