Deutscher Diabetes-Kongress 2018

Diabetische Neuropathie:
Früher erkennen – besser behandeln

Berlin (9. Mai 2018) – Neuropathien treten bei Patienten mit Diabetes mellitus deutlich früher auf als bisher angenommen. Häufig bleiben sie jedoch lange Zeit unerkannt, wie aktuelle Daten zeigen. Dabei gilt: Je früher, umso besser lässt sich die Progression der folgenschweren Nervenschädigung aufhalten. Das komplexe Krankheitsgeschehen erfordert eine multikausale Behandlung, die neben der Hyperglykämie auch weitere nervenschädigende Faktoren berücksichtigt. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang ein diabetes-assoziierter Vitamin B1-Mangel. Über aktuelle Erkenntnisse zur diabetischen Neuropathie, über Frühdiagnostik und moderne Therapieoptionen berichteten renommierte Experten auf einem Neuropathie-Symposium anlässlich des Diabetes-Kongresses 2018 (1).

Die diabetische Neuropathie ist keinesfalls eine „Spätkomplikation“ des Diabetes, wie über Jahrzehnte angenommen wurde: Aktuellen Daten zufolge setzt die Schädigung der Nerven in einem sehr frühen Stadium der Stoffwechselstörung ein und tritt gehäuft bereits beim Prädiabetes auf. Die schleichende Schädigung der Nervenfasern bleibt anfangs in der Regel unbemerkt. Doch bereits zu diesem Zeitpunkt müssten Maßnahmen zur Verhinderung der Neuropathie-Progression ergriffen werden, appellierte Prof. Karlheinz Reiners, Leiter der Neuromuskulären Ambulanz an der Neurologischen Klinik des Hermann-Josef-Krankenhauses Erkelenz. Denn die fortscheitende Nervenschädigung schränkt die Lebensqualität der Patienten zunehmend ein und erhöht das Sterblichkeitsrisiko: Viele Betroffene leiden unter teils quälenden Schmerzen und Missempfindungen wie Kribbeln oder Brennen in den Füßen, andere an schmerzlosen Fußulzera, die nicht selten Amputationen nach sich ziehen. Auch die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität steigen an.

Fußprobleme werden nicht ernst genommen

Trotz der schweren Folgen werden die Symptome an den Füßen offensichtlich häufig unterschätzt, wie die aktuell publizierten Daten der PROTECT-Studie zeigen (2), die der Studienleiter Prof. Dan Ziegler, Stv. Direktor am Institut für Klinische Diabetologie des Deutschen Diabetes Zentrums der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, vorstellte. An der Studie nahmen 1.850 Menschen mit und ohne bekannten Diabetes teil, die im Rahmen der Nationalen Aufklärungsinitiative zur diabetischen Neuropathie ihre Nervenfunktion in den Füßen untersuchen ließen. Das alarmierende Ergebnis: Fast 70 % der Patienten, bei denen eine Neuropathie nachgewiesen wurde, wussten zuvor nicht, dass sie unter dieser Nervenerkrankung leiden. Selbst bei Schmerzen oder Brennen in den Füßen war zwei Drittel der Betroffenen nicht bewusst, dass eine Neuropathie hinter den Beschwerden steckt. Noch größer war die Dunkelziffer bei schmerzloser Neuropathie, die symptomlos verläuft oder sich durch Taubheitsgefühl oder Parästhesien in den Füßen äußert: Sie war in 81 % der Fälle anamnestisch nicht diagnostiziert.

Intensive Schulung und Kontrolle notwendig

Dass die diabetische Neuropathie unterschätzt und häufig nicht erkannt wird, könne einen negativen Einfluss auf die Entwicklung von diabetischen Fuß-Ulzera und auch von Amputationen haben, warnte Ziegler. Er hält es daher für notwendig, sich beim Thema Fußgesundheit nicht auf die – oft zu optimistische – Selbsteinschätzung der Patienten zu verlassen, sondern diese zu überprüfen. Bei Risikopatienten sollten regelmäßige Fußuntersuchungen und intensive Schulungen durchgeführt werden. Wichtig sei außerdem, so Ziegler, die Früherkennung des Diabetes zu fördern: Denn fast 40 Prozent der Studienteilnehmer, die angegeben hatten, keinen Diabetes zu haben, wiesen Langzeitblutzuckerwerte im Prädiabetes- oder Diabetes-Bereich auf. „Ein unerkannter Diabetes kann eine wesentliche Ursache für eine Neuropathie sein,“ warnte der Diabetologe.

Die PROTECT-Studie konnte zudem wichtige Risikofaktoren identifizieren:

  • Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes war die schmerzhafte Neuropathie mit einem höheren Body-Maß-Index (BMI) assoziiert und die schmerzlose Form mit einem niedrigeren BMI. Der Zusammenhang zwischen Neuropathie und Übergewicht scheint spezifisch für die schmerzhafte Ausprägung zu sein, so Zieglers Fazit.
  • Eine weitere neue Erkenntnis ist der Zusammenhang zwischen schmerzloser Neuropathie und männlichem Geschlecht, sowohl bei Typ-2- als auch bei Nicht-Diabetikern. Erst kürzlich wurde in einer anderen Studie (3) eine Assoziation zwischen weiblichem Geschlecht und schmerzhafter Neuropathie nachgewiesen.
  • In Übereinstimmung mit der o.g. Studie wiesen die Wissenschaftler um Ziegler nach, dass bei schmerzhafter Neuropathie eine schwerere Nervenschädigung vorliegt als bei schmerzloser Form.

    Die Basis des Therapieerfolgs: rechtzeitig diagnostizieren

    Um die Neuropathie erfolgreich behandeln zu können, ist eine frühzeitige Diagnose erforderlich. Wie der Neurologe Prof. Reiners erläuterte, sei der Nachweis einer diabetischen Neuropathie eine Ausschluss-Diagnose: Zu beachten sei, dass auch bei hochwahrscheinlich diabetogener Genese gleichzeitig andere – oftmals besser behandelbare – Ursachen einer distal-symmetrischen Polyneuropathie vorliegen könnten. „Hilfsmittel in der Differenzialdiagnose sind neben der Anamnese das klinische Muster und geeignete Laborparameter“, sagte Reiners. In Zweifelsfällen und bei untypischem Verlauf der Erkrankung rät er, einen Neurologen hinzuzuziehen, der mit Hilfe der Elektrodiagnostik zur Klärung beitragen könne.

    Nervenschäden stoppen und Symptome lindern

    Die Therapie stellt eine Herausforderung dar: Zum einen gilt es, die Progression der Nervenschädigung aufzuhalten, zum anderen die Symptome der Patienten zu lindern. Im Vordergrund steht daher die Behandlung der nervenschädigenden Faktoren. Wie PD Dr. med. Ovidiu Alin Stirban, Chefarzt der Abteilung für Innere Medizin, Diabetologie und Endokrinologie der Schön Klinik Nürnberg Fürth, ausführte, löst die Hyperglykämie verschiedene zellschädigende Prozesse aus, wie oxidativen Stress und die Bildung aggressiver Advanced Glycation Endproducts (AGEs), die Folgeerkrankungen verursachen.

    Gleichzeitig geht ein Diabetes oftmals mit einer verstärkten Vitamin-B1-Ausscheidung über die Nieren einher, wodurch sich ein gravierender Mangel an Vitamin B1 (Thiamin) entwickeln kann. In einer britischen Studie wurden bei Typ-1- und Typ-2-Diabetikern um durchschnittlich 75 % niedrigere Thiamin-Plasma-Spiegel nachgewiesen als bei Gesunden (4). Da das Vitamin zentrale Funktionen im Nerven- und Glukosestoffwechsel hat, fördert ein Defizit Nervenschäden und Störungen im Glukose-Metabolismus, die wiederum die Bildung gefäßschädigender Abbauprodukte wie der AGEs forcieren.

    Behandlung nach dem 3-Säulen-Schema

    Angesichts der komplexen Pathogenese der Nervenschädigung ist eine multifaktorielle Intervention notwendig, so Stirban. Dazu eigne sich eine Behandlung nach dem 3-Säulen-Schema:

  • Die erste Säule bildet die Optimierung der Diabeteseinstellung, die die bedeutendste Maßnahme darstellt.
  • Die zweite Säule hat zum Ziel, in die Pathogenese der Neuropathie einzugreifen, Nervenschäden aufzuhalten und Symptome zu lindern. Dazu stehen gut verträgliche Substanzen zur Verfügung, wie Benfotiamin und die antioxidativ wirkende Alpha-Liponsäure. Benfotiamin* ist eine Vitamin-B1-Vorstufe, die eine ca. 5-fach höhere Bioverfügbarkeit aufweist als herkömmliches Thiamin (5). Dadurch kann sie einen Vitamin B1-Mangel ausgleichen und nervenschädigende Prozesse hemmen. Klinische Studien zeigten, dass eine längerfristige Behandlung mit Benfotiamin die Symptome der diabetischen Neuropathie, wie Kribbeln, Brennen und Taubheit in den Füßen, lindern kann (6 – 8).
  • Die dritte Säule bildet die symptomatische Therapie neuropathischer Schmerzen. Stirban gab hier aber zu bedenken, dass die Behandlung mit Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern, Antikonvulsiva oder Opioiden zwar symptomatisch wirksam sei, dass sie aber gleichzeitig auch die nebenwirkungsreichste Säule der Therapie sei und nicht die Grunderkrankung beeinflusse. Da für die meisten dieser Substanzen langfristige klinische Daten fehlten, hält er die Langzeittherapie für problematisch. Interessant seien nach Stirbans Meinung auch alternative symptomatische Therapien wie die lokale Behandlung mit Capsaicin oder die Elektrostimulation mittels Hochtontherapie.

Anmerkung

  • *Benfotiamin ist als milgamma® protekt rezeptfrei in Apotheken erhältlich.


Quellen

  1. Symposium „Diabetische Neuropathie: Früher erkennen – besser behandeln“ am 9. Mai 2018 in Berlin, veranstaltet von WÖRWAG Pharma.
  2. Ziegler D et. al: Painful and painless neuropathies are distinct and largely undiagnosed entities in subjects participating in an educational initiative (PROTECT-Study). Diabetes Res Clin Pract.2018;139:147-154
  3. Raputova J, Srotova I, Vlckova E et al. Sensory phenotype and risk factors for painful diabetic neuropathy: a cross-sectional observational study. Pain 2017; 158: 2340-2353
  4. Thornalley PJ et al. High prevalence of low plasma thiamine concentration in diabetes linked to a marker of vascular disease. Diabetologia 2007; 50: 2164-2170
  5. Schreeb KH et al. Comparative bioavailability of two vitamin B1 preparations: benfotiamine and thiamine mononitrate. Eur J Clin Pharmacol 1997; 52: 319-320
  6. Stracke H et al. Benfotiamine in diabetic polyneuropathy (BENDIP): Results of a randomised, double blind, placebo-controlled clinical study. Exp Clin Endocrinol Diab 2008; 116: 600–605
  7. Haupt E et al. Benfotiamine in the treatment of diabetic polyneuropathy – a three-week randomized, controlled pilot study (BEDIP Study). Int J Clin Pharmacol Ther 2005; 43: 71-77
  8. Stirban et. al. Neurodiab 2016; unveröffentlicht.

     


Quelle: Woerwag Pharma, 09.05.2018 (tB).

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