„Man kann nichts ignorieren, was man nicht vorher wahrgenommen hat“

Magdeburg (16. August 2022) — Was wir mit den Augen wahrnehmen, wird im visuellen Cortex verarbeitet. So entstehen im Gehirn Sinneseindrücke von Farben, die je nach Wellenlänge des Lichts unterschiedlich aussehen. Ein Forscherteam des Leibniz-Instituts für Neurobiologie (LIN) Magdeburg hat in einer aktuellen Studie im Fachmagazin Communications Biology untersucht, wie man Farben bewusst wahrnimmt oder eben auch ignoriert – mit überraschendem Ergebnis.

Ob an der Ampel im Straßenverkehr oder beim Einkaufen im Supermarkt: Ständig müssen wir im Alltag Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Dabei verlassen wir uns oft auf Farbsignale. Doch was passiert im Gehirn, wenn man auf der Suche nach roten Tomaten und grünen Avocados in der Gemüseabteilung zuerst auf die Tomaten trifft? Kann das Gehirn in dem Moment schnell auf „Rot“ schalten und „Grün“ ignorieren? „Wir wollten in der Studie herausfinden, wie das Gehirn seine Aufmerksamkeit auf etwas richtet und vor allem wie schnell es wechseln kann, wenn es mehrere Dinge gleichzeitig verarbeitet, wie in dem Beispiel mit den roten Tomaten und grünen Avocados“, erläutert Erstautorin Dr. Mandy Viktoria Bartsch.

Dafür bat sie 22 Probandinnen und Probanden einfache Aufgaben zu lösen. Die Untersuchten sollten sich auf die Zielfarben (z.B. Rot oder Grün) im linken Bereich eines Bildschirms konzentrieren. „Auf der rechten Seite blendeten wir dann entweder die gleiche Farbe ein oder eine andere, die sogenannte Störfarbe. Per Tastendruck mussten die Teilnehmer entscheiden, ob sie auf der linken Seite gerade Rot oder Grün gesehen haben. Vor allem hat uns aber die Gehirnantwort zu der potentiell störenden Farbe auf der rechten Bildschirmseite interessiert.“ Um die elektromagnetische Aktivität des Gehirns zu messen, hatten die Teilnehmenden während des 60-minütigen Experiments eine EEG-Haube auf dem Kopf und saßen in einem Magnetoenzephalographen, der schnelle Aktivitätsänderungen misst.

Bartsch und ihr Team hatten erwartet, dass die rote Farbe zuerst verarbeitet werden würde, wenn das präsentierte Zielobjekt rot war. „Das war jedoch nicht der Fall. Erstaunlicherweise reagierten die Probanden zunächst auf den in diesem Moment irrelevanten grünen Farbton, also die Störfarbe, bevor sie sich ganz auf Rot fokussierten. Unsere Aufmerksamkeit scheint sich erst um die Dinge zu kümmern, die uns ablenken, bevor sie sich dem eigentlichen Ziel zuwendet. Wir nennen diesen Mechanismus ,selection for rejection´. Ein Reiz wird selektiert, um ihn danach besser unterdrücken zu können.“

Außerdem fanden sie in ihrer Studie heraus: „Versuchspersonen konnten schneller auf einen roten Reiz antworten, wenn sie zuvor stärker Grün selektiert hatten“, so Bartsch. Das heißt: Je stärker die ablenkende Farbe wahrgenommen wurde, desto besser konnte sie anschließend ausgeblendet werden. Für unseren Supermarktbesuch bedeutet das: Wollen wir rote Tomaten und grüne Avocados kaufen, kommt es darauf an, auf was wir als Erstes treffen: Sind es die roten Tomaten, werden wir wohl erst einmal alles Grüne im Regal ausblenden, sprich Gurken, Brokkoli, Zucchini und Co. Erst, wenn die grüne Farbe erfolgreich unterdrückt wurde, wenden wir uns den roten Tomaten zu.

Spannend sind diese Forschungsergebnisse auch in psychologischer Hinsicht: Wie können wir also etwas bewusst ignorieren? „Paradoxerweise scheinen wir in unserem Gehirn erst das wahrzunehmen, was wir eigentlich unterdrücken wollen. Sprich: kein Ignorieren ohne voriges Wahrnehmen.“

 

 

Originalpublikation

 

 

 

Abb. oben: Farbwahrnehmung im Magnetenzephalographen: Die Probandin löst per Tastendruck Aufgaben, während dabei die elektromagnetische Aktivität in der Hirnrinde gemessen wird. © Dirk Mahler CBBS

 

 


Quelle: Leibniz-Institut für Neurobiologie, 16.08.2022 (tB).

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