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10. Bamberger Gespräche 2006
„Therapie der überaktiven Blase – Fortschritte, Trends, Visionen“
Therapie der überaktiven Blase – Fortschritte, Trends, VisionenVon Prof. Dr. Ingo Füsgen
Bamberg (2. September 2006) – Seit dem 1. Bamberger Gespräch 2001 stand immer wieder die Drang-Symptomatik mit ihren Inkontinenz-Problemen im Vordergrund der Referate. Die Drangsymptome finden sich besonders häufig beim Älteren und sie gehen bei einem Drittel mit einer Drang-Inkontinenz einher (Herbison 2003). Drang-Symptomatik und Drang-Inkontinenz sind häufig mit dem älteren chronisch Kranken verbunden und deshalb kommt altersabhängigen Erkrankungen und der häufig im Alter bestehenden Multimorbidität in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. So standen in den Referaten auch immer begleitende und beeinflussbare Fakten beim älteren Patienten im Zusammenhang mit dem Drang im Vordergrund. Erinnert sei dabei an die Multimorbidität und Harninkontinenz 1996, Schlaganfall und Harninkontinenz 1997 oder Diabetes mellitus und Harninkontinenz 2003, Nykturie und Harninkontinenz 2004 und der ältere Patient mit Blasenfunktions-störungen letztes Jahr.
Die Dranginkontinenz stellt die häufigste Inkontinenzform mit zunehmendem Alter dar und bekommt damit für den Älteren eine hohe Bedeutung im Bezug auf die Lebensqualität und für die Gesellschaft eine hohe gesundheitspolitische Bedeutung, da Inkontinenz im Alter häufig auch mit Pflegebedürftigkeit verbunden ist. Durch den demographischen Wandel unserer Gesellschaft handelt es sich dabei um ein massiv wachsendes Problem. Im Rahmen eines solchen kleinen Jubiläums, dem 10. Bamberger Gespräch, erscheint es deshalb sinnvoll über Fortschritte, Trends, Visionen in der Therapie, über diesen Symptomenkomplex der Inkontinenz nachzudenken. Dies sollte auf der Basis der neueren Erkenntnisse und Erfahrungen der letzten Jahre erfolgen und in diesem Sinne sollten auch kurz einige wichtige Fakten aus diesem Bereich angesprochen werden.
Neue Definitionen
Nicht nur der Begriff Harninkontinenz hat eine neue Definition erfahren, sondern auch eine neue Definition im Hinblick auf die Dranginkontinenz wurde verabschiedet (Abrams 2003). Der Begriff „Überaktive Blase" wurde 2002 von der ICS (International Continence Society) eingeführt. Gegenüber den früheren Definitionen bringt diese neue Standarisierung den Vorteil, dass grundsätzlich jede Drangsymptomatik auch ohne Inkontinenz als Krankheitsbild erfasst und damit eine Behandlungsbedürftigkeit ausgedrückt wird (Tab. 1).
Tab. 1: Definition ‑ Überaktive Blase (Overactive bladder / OAB)
Imperativer Harndrang mit / oder ohne Miktionsfrequenzsteigerung
oder Nykturie im Beisein oder Fehlen einer Dranginkontinenz.
Da die Dranginkontinenz häufig in Zusammenhang mit Detrusorüberaktivität steht, war es sicherlich auch sinnvoll sie unter diesen Begriff mit der überaktiven Blase mit aufzunehmen. Dabei wird in der neuen Definition die Detrusoraktivität nach den Ursachen eingeteilt (neurogen oder ideopathisch). In der neuen Terminologie entfällt die motorische und sensorische Dranginkontinenz, auch die Detrusorhyperreflexie und Reflexinkontinenz werden nicht mehr aufgeführt (Tab. 2).
Tab. 2: Terminologie
Terminologie 1988 (alt) Terminologie 2002 (neu)
Motorischer Drang Überaktive Blase mit Detrusorüberaktivität
Sensorischer Drang Überaktive Blase ohne Detrusorüberaktivität
Detrusorinstabilität Idiopathische Detrusorüberaktivität
Detrusorhyperreflexie Neurogene Detrusorüberaktivität
Motorische Dranginkontinenz Detrusorüberaktivitäts‑Inkontinenz mit Drang
Sensorische Dranginkontinenz Urethral‑Relaxierungs‑Inkontinenz mit Drang
Reflexinkontinenz Detrusorüberaktivitäts‑Inkontinenz ohne Sensation
Für die Pflege sind dieses Jahr im Rahmen eines Expertenstandards neue Pflegeprofile definiert worden. Der neue Expertenstandard „Förderung der Harnkontinenz in der Pflege" bringt allerdings nichts Spezifisches zur Drangsymptomatik, auch wenn die meisten angesprochenen Themenbereiche die pflegerische Betreuung der Dranginkontinenz betreffen (Expertenstandard 2006). Die Aussagen der Expertenstandards werden aber zunehmend infrage gestellt (Meyer 2006). Der vorliegende Expertenstandard zur Inkontinenz ist aber allein schon deshalb wertvoll, weil hier erstmalig vonseiten der Pflege versucht wird, Praxis und medizinische Erkenntnisse im Hinblick auf die Betreuung von Inkontinenten zusammenzufassen und damit auch die Inkontinenz im Pflegebereich bewusster anzugehen.
Dranginkontinenz im Zusammenhang mit Krankheiten
Der direkte Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Inkontinenz und bestimmten Krankheiten ist in vielen Untersuchungen belegt worden (z.B. bei Schlaganfall, Morbus Parkinson, Harnwegsinfekt, Prostatahyperthrophie). Dabei kommen neben der im Vordergrund stehenden Krankheit häufig noch den Altersveränderungen, den Komorbiditäten, der Medikamenteneinnahme und der Umwelt eine besondere Bedeutung zu. Dieser Zusammenhang gilt in besonderer Weise für die Drangproblematik. Wie die Untersuchungen von Pfisterer und Mitarbeiter (2006) zeigten, stellt die Reduktion der Blasenkapazität neben der Kontraktionsverminderung des Detrusors, der Sensibilitätsverminderung und der Verminderung des Urethraldrucks ein spezielles Problem der überaktiven Blase dar. Kommen dazu noch spezielle Krankheitsbilder, vielleicht sogar mit einer hier beeinflussenden Medikamenteneinnahme, sowie entsprechenden Umwelteinflüssen kippt die Drangsymptomatik bei noch bestehender Kontinenz schnell in eine Dranginkontinenz um.
Zwei Krankheiten sind hier besonders herauszugreifen, weil sie besondere Bedeutung für unsere Gesellschaft haben. Die zwei Krankheiten des 21. Jahrhunderts sind die Demenz und der Diabetes mellitus. Dies wird nicht nur in den entsprechenden medizinischen Publikationen deutlich, sondern auch in den offiziellen gesundheitspolitischen Aussagen (z.B. Familienbericht der Bundesregierung 2005).
War der Typ‑II‑Diabetes (Altersdiabetes) in Deutschland im Jahr 1946 so gut wie nicht vorhanden, so beträgt die Prävalenz heute in der Gesamtbevölkerung 7 bis 9 %, bei den Älteren bis zu 25 %. Im Rahmen des demographischen Wandels ist ein weiterer massiver Anstieg dieses Krankheitsbildes zu erwarten (Füeßl 2006). Ähnliches gilt für das Krankheitsbild der Demenz. Die Zahl der heute etwas über 1 Millionen Patienten mit Demenz wird sich wahrscheinlich bis zum Jahr 2035 verdoppeln und bis 2050 weiter auf rund 2,5 Millionen Patienten ansteigen (Hallauer 2005). Beide Krankheitsbilder sind indirekt bzw. direkt mit der Inkontinenz verbunden. Die Inkontinenz ist es dabei, die direkt die Lebensqualität des Betroffenen und seiner Angehörigen beeinträchtigt. Lange Zeit wurde sie tabuisiert, rückt jetzt aber aufgrund der großen Patientenzahlen zunehmend in den Blickpunkt des medizinischen Interesses.
2003 waren der Diabetes mellitus und die Harninkontinenz Leitthema der Bamberger Gespräche. Damit wurde ein Anstoß durch die Deutsche Kontinenz Gesellschaft gegeben, sich im Bereich der Harninkontinenz bewusster mit der Kombination Diabetes und Harninkontinenz bzw. der Komplikation Harninkontinenz bei Diabetes mellitus zu beschäftigen. Eine Reihe von internationalen Untersuchungen liegen inzwischen zur Bedeutung des Diabetes mellitus als Riskiofaktor für eine Urininkontinenz vor (Lit. bei Lifford 2005). Im Gegensatz zu früheren Ansichten ‑ die immer die chronische Harnretention im Mittelpunkt beim Diabetes sahen ‑ weiß man heute, dass der überaktiven Blase wahrscheinlich beim Diabetes mellitus die viel größere Bedeutung zukommt (Lifford 2005, Brown 2005). Inwieweit man von einer eigenen diabetogen bedingten Detrusorhyperaktivität sprechen kann (Tong 1999), muss allerdings hinterfragt werden. Madersbacher hat schon 2002 darauf hingewiesen, dass es sich beim älteren Diabetiker häufig um einen Komplex aus Multimorbidität, chronisch rezidivierenden Harnwegsinfektionen, Blasenauslassobstruktionen, zerebraler Enthemmung und Detrusordegeneration handeln kann. Erstmalig wurde im Leitfaden für die Behandlung des älteren Diabetikers 2005 von der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und der Deutschen Gesellschaft für Diabetologie die Harninkontinenz als wichtige Komplikation dieses chronischen Krankheitsbildes hervorgehoben. Evidenzbasierte Aussagen dazu konnten aufgrund fehlender bisheriger Untersuchungen und Erkenntnisse nicht gemacht werden. Im amerikanischen Diabetes‑Präventionsprogramm wurde aber der Zusammenhang deutlich. Durch Änderung des Lebensstils konnte bei Frauen mit negativer Glukosetoleranz nicht nur eine Reduktion der Diabeteshäufigkeit erreicht werden, sondern auch eine signifikante Reduktion des Auftretens einer Dranginkontinenz (Brown 2004). In Deutschland läuft zurzeit eine große Erhebung unter der Leitung von Herrn Dr. Wiedemann mit Unterstützung der Firma Dr. R. Pfleger GmbH, um die Besonderheiten des älteren Diabetikers (Typ-II-Diabetiker) mit Harninkontinenz aus klinischer Sicht darzustellen und daraus Konsequenzen für den Umgang mit Diabetikern ziehen zu können.
Aus pathophysiologischer Sicht ist gut nachvollziehbar, dass es bei entsprechenden Schädigungen im Gehirn zum Auftreten einer Inkontinenz kommt. PET‑Untersuchungen bestätigten die zerebrale Bedeutung für die Blasenfunktion (Block 1997). SPECT‑Scan‑Untersuchungen zeigten dazu den direkten Zusammenhang mit kognitiven Einschränkungen auf (Griffiths 1998). So ist bei Demenzkranken die Häufigkeit des Auftretens einer Harninkontinenz mindestens doppelt so hoch wie in einer gleichaltrigen Vergleichsgruppe und traf in einer schwedischen Untersuchung 50% der Männer und 60% der über 85‑jährigen Frauen (Hellström 1994). Störungen der Harninkontinenz mit ihrem vermehrten Pflegeaufwand und insbesondere auch nächtlicher Harnabgang gehören zu den Hauptrisikofaktoren für eine Heimeinweisung. Entsprechend sind in Alten‑ und Pflegeheimen bis zu 90% der Bewohner inkontinent (Thomm 1998, Aggazzotti 2000).
Im Vordergrund bei der Demenz steht die Dranginkontinenz. Bedingt durch die neurogene Degeneration fallen hemmende Einflüsse auf den Detrusorreflex weg. Entsprechend wurde früher von einer supraspinal bedingten Blasenfunktionsstörung gesprochen. Erschwerend bei Dementen kommt noch hinzu, dass die Blasenfüllung nicht bzw. teilweise zu spät wahrgenommen wird. Im fortgeschrittenen Stadium wird auch der Verschluss des Blasensphinkters nicht mehr willkürlich kontrolliert. Differentialdiagnostisch ist die Harninkontinenz ein Frühzeichen beim Typ der fronto‑temporalen Demenz, während die Harninkontinenz bei der Alzheimer‑Demenz in der Regel erst im mittleren bis späten Stadium auftritt. Beim Auftreten von Inkontinenz und kognitiven Defiziten ist auch immer an das Vorliegen eines Normaldruck‑Hydrocephalus zu denken. Für die Dranginkontinenz bietet sich hier die konservative Therapie mit Verhaltenstherapie und Medikation an. Anticholinergika müssen hier aber differenziert gesehen werden, wie nachfolgend noch extra ausgeführt wird.
Neues in Diagnostik und Therapie
Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie der Dranginkontinenz ist eine möglichst weitgehende Abklärung der vorliegenden Ursache. Bei der Definition der hyperaktiven Blase handelt es sich ja um ein Set von Symptomen hinter denen unterschiedlichste pathophysiologische Ursachen stehen können (Tab. 3). Deshalb kommt der korrekten Diagnostik besondere Bedeutung im Bezug auf die sich ergebende Therapie zu.
Tab. 3: Ursachen für den imperativen Drang
Urethritis,
Atrophische Vaginitis,
Subvesikale Obstruktion,
Blaseninfekt,
Neurogene Krankheitsbilder (z. B. Demenz, Schlaganfall, Parkinson),
Blasentumor,
Interstitielle Zystitis,
u.a.
Herr Professor Dr. Madersbacher geht in seinem Referat im Einzelnen auf die entsprechenden Punkte der Diagnostik und Therapie ein. Wichtig erscheint mir aber an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Inkontinenz beim Älteren nicht als „Isoliertes urodynamisches Problem der Blase" gesehen werden kann, sondern eine ganzheitliche Sichtweise des älteren Patienten auch vom spezialisierten Facharzt gefordert ist.
So ist in den letzten Jahren bei der Beurteilung einer Therapie der OAB zunehmend die Lebensqualität in den Vordergrund gerückt. Die Folge war das Entstehen einer Reihe von „Lebensqualitätserfassungsbögen". Lebensqualität ist aber immer etwas sehr Subjektives und wahrscheinlich auch erheblich durch soziale, kulturelle, psychische, somatische und altersabhängige Faktoren beeinflusst. Diese in einem einzigen Erhebungsbogen zu erfassen, erscheint mir vermessen.
Für die Diagnostik und den Erfolg einer Therapie sind aber die Motivation des Patienten bzw. seiner Angehörigen, sowie die Funktionalität und die soziale Situation des Betroffenen von Bedeutung. So sollte zu jeder Routinediagnostik des älteren Patienten neben der Motivationserfassung ein geriatrisches Assessment gehören. Gerade bei der hyperaktiven Blase haben Funktionsdefizite, z.B. der kognitiven Leistung, der Mobilität, der Sturzgefährdung eine hohe Bedeutung und müssen dementsprechend auch erfasst werden (Tab. 4).
Tab. 4: Geriatrische Einschätzung
Einschätzung der Motivation,
Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten (Uhrentest, MMSE, Demtek, SKT),
Einschätzung der körperlichen Fähigkeiten (Barthel‑Index, Timed‑„Up and Go"‑Test, Messung der Handgriffsstärke, Mobilitätstest nach Tinetti),
Einschätzung der Umgebungsfaktoren (z. B. Distanz zur Toilette, Höhe des Toilettensitzes, Lichtverhältnisse),
Einschätzung psycho‑sozialer Faktoren.
Im Gegensatz zur Belastungsinkontinenz, wo in den letzten Jahren neue therapeutische Vorstellungen diskutiert wurden und werden (z. B. Stammzelltherapie, Einführung des Wirkstoffes Duloxetin), sind die therapeutischen Vorstellungen für die Drangsymptomatik mit oder ohne Inkontinenz gleich geblieben. Neben der Verhaltenstherapie stehen die Anticholinergika im Vordergrund der therapeutischen Möglichkeiten. Wobei beide möglichst kombiniert eingesetzt werden sollten (Burgio 2000). Allerdings ist mit der Einführung von neuen Galeniken und auch neuen Substanzen eine Anticholinergika‑Diskussion aufgeflammt. Aus meiner Sicht sind dabei nachfolgend kurz angeführte Themenbereiche von Interesse (siehe Tab. 5).
Tab. 5: Anticholinergika‑Diskussion
Unterschiede in der Wirksamkeit,
„Anticholinergika‑Resistenz",
Beeinflussung der kognitiven Funktion,
Interaktion im Rahmen der Polypharmakologie,
Individuelle Dosierung.
Unterschiede in der Wirksamkeit der Anticholinergika
Eine Zunahme der funktionellen Blasenkapazität mit der daraus resultierenden Abnahme der Miktionsfrequenz und der Frequenz der Inkontinenzepisoden ist für alle auf dem Markt befindlichen Anticholinergika in placebokontrollierten Untersuchungen belegt. Die Wirksamkeit der Anticholinergika hängt dabei von der Dosis ab. Wenn Vergleiche von „Festdosierungen" in Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen führen (z. B. Tolterodin gegenüber Solifenacin, Chapple 2004), dann werden hier vermutlich Dosierungen verglichen, die eben in ihrer Stärke so nicht vergleichbar sind. Bei ähnlicher Wirksamkeit liegen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Anticholinergika im Nebenwirkungsprofil, das auch zunehmend von den verschiedenen Firmen betont wird.
„Anticholinergika ‑ Resistenz"
Immer wieder fällt auf, dass manche Patienten auf ein Anticholinergikum nicht ansprechen. In der Regel wird dann empfohlen ein anderes zu probieren, was dann oft auch den gewünschten Erfolg bringt. Eine wissenschaftlich nachvollziehbare Begründung für diese „Anticholinergika‑Resistenz" liegt bisher nicht vor. Als Alternative werden jetzt Botulinum AToxin‑Injektionen in den Detrusor empfohlen (Kessler 2005). Es ist eine Methode mit zeitlich begrenztem Erfolg und bedarf einer Überwachung des Restharns.
Beeinflussung der kognitiven Funktion
Eine Reihe von Artikeln in Fachzeitschriften weist seit 1997 darauf hin, dass liquorgängige Anticholinergika zentral‑nervöse Nebenwirkungen aufweisen können (Donellan 1997). Dies hat besondere Bedeutung für den älteren Patienten, der altersphysiologisch schon bestimmte kognitive Leistungen mit zunehmendem Alter abbaut. Allein das quaternäre Amin Trospiumchlorid zeigt in den vorliegenden Untersuchungen (z. B. im Hinblick auf die Schlafbeeinträchtigungen) keine negativen Beeinträchtigungen der kognitiven Leistung auf (Diefenbach 2003), was sich auch in den Fachinformationen der anticholinergikaproduzierenden Firmen widerspiegelt.
Letztes Jahr ist Herr Professor Dr. Madersbacher ausführlich auf die gesamte Thematik hier in Bamberg eingegangen (Madersbacher 2005). Wichtig erscheint mir im Zusammenhang mit den obigen Ausführungen zur Bedeutung des Krankheitsbildes Demenz für unsere Gesellschaft der Hinweis, dass demente Patienten eine besondere Risikogruppe für anticholinerge Nebenwirkungen sind. Durch die Degeneration cholinerger Zellen im Gehirn fällt Acetylcholin als wichtiger Neurotransmitter partiell aus. Dementsprechend sind Cholinesterasehemmer eine wichtige Arzneimittelgruppe bei der Behandlung der Alzheimererkrankung. Unabhängig davon, dass tertiäre Amine die cerebrale Situation weiter verschlechtern könnten, wäre hier die Behandlung der Inkontinenz mit Anticholinergika mit cerebraler Beeinflussung bei gleichzeitiger Antidementivatherapie „Therapie gegen die Therapie".
Interaktionen im Rahmen der Polypharmakologie
Im Rahmen der Diskussion um die Beeinflussung der kognitiven Funktion durch Anticholinergika ist leider die wichtige Frage nach möglichen Arzneimittelinteraktionen in den Hintergrund getreten. Dabei sollte bei der Wahl des entsprechenden Anticholinergikums nicht nur die Inkontinenz als Problem berücksichtigt werden, sondern gerade beim älteren Menschen auch die meistens im Rahmen der Multimorbidität vorhandenen Begleiterkrankungen und damit eingenommenen Medikamente. Gerade ältere Patienten sind oft gezwungen, eine Vielzahl von Arzneien einzunehmen. Deshalb ist im Rahmen der Multimorbidität und der damit oft vorhandenen Multimedikation auch darauf zu achten, ob eingesetzte Präparate evtl. einen Nebeneffekt auf die Blasenfunktion haben. Dazu kommt, dass Arzneimittel sich in ihrer Wirkung überlagern, verstärken oder aufheben oder allein durch direkte Nebenwirkungen für eine Inkontinenz verantwortlich sein können. Es wird dann gerne von einer medikamentös induzierten Blasenfunktionsstörung gesprochen. Im Zusammenhang mit der Anticholinergikagabe müssen die Effekte der Interaktion bzw. einer möglichen Überlagerung beachtet werden. Herr Professor Dr. Mutschler wird sicherlich in seinem Referat detaillierter darauf eingehen. Es handelt sich um ein wichtiges Zukunftsthema, das wie oben erwähnt zurzeit nicht entsprechend ihrer Bedeutung wahrgenommen wird.
Individuelle Dosierung
Die Ausprägung des Symptoms Inkontinenz ist meist sehr unterschiedlich und auch die Pharmakokinetik weist individuell häufig eine große Streubreite auf. Sowohl altersbedingte anatomische und physiologische Veränderungen als auch Krankheitsfolgen können die Arzneimittel‑Disposition und Pharmakodynamik beeinflussen. Art und Schwere von begleitenden Erkrankungen im Rahmen der häufig im Alter bestehenden Multimorbidität, Ernährungszustand und ‑gewohnheiten, sowie die Begleitmedikationen üben entscheidenden Einfluss aus. Aufgrund im Alter zunehmender Variabilität in der Ausprägung dieser Einzelfaktoren ist es unmöglich, allgemeingültige Dosierungsrichtlinien für ein bestimmtes Lebensalter zu geben. Voraussetzung für eine wirksame und sichere Arzneimitteltherapie auch bei der Dranginkontinenz ist deshalb die individuelle Anpassung an den einzelnen Patienten. Da auch die Nebenwirkungsrate der Anticholinergika von der jeweiligen Dosishöhe entscheidend beeinflusst ist, ist eine individuelle Dosierung ‑ vielleicht sogar ein Herantasten an die notwendige Höhe der Dosis ‑ Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie mit möglichst geringer Nebenwirkung. Die jetzt häufig propagierten festen Dosierungen müssen deshalb hinterfragt werden.
Der imperative Harndrang mit / oder ohne Miktionsfrequenzsteigerung oder Nykturie im Beisein oder Fehlen einer Dranginkontinenz beeinträchtigt erheblich die Lebensqualität der Betroffenen und beim älteren Patienten auch die der Angehörigen. Es handelt sich um ein Symptom und kein Schicksal, das hingenommen werden muss. Nach einer entsprechenden Diagnostik kann bei vielen Betroffenen eine erfolgreiche Therapie durchgeführt werden. Es gibt allerdings noch viel zu tun. Eine Reihe offener Fragen im Bezug auf Diagnostik und Therapie der überaktiven Blase werden uns aufgrund ihrer Bedeutung für den älteren Patienten nicht nur beim 10. Bamberger Gespräch, sondern auch weiterhin beschäftigen.
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