14. Bamberger Gespräche: Blase und Gehirn

Einführung zum Thema Blase und Gehirn

 

Prof. Dr. med. Ingo Füsgen

 

Bamberg (4. September 2010) – Die letzen Jahre waren von zunehmenden Kenntnissen und Erfahrungen in der Diagnostik und Therapie von altersabhängigen und pathologischen Veränderungen an der Blase geprägt. Dies hängt damit zusammen, dass zu den Symptomen des unteren Harntrakts, die für die Betroffenen am meisten belastet sind, der imperative Harndrang und die Dranginkontinenz gehören. Die heute übliche Terminologie gemäß der Standardisierung der International Continence Society, ICS, mit der Symptomatik „überaktiven Blase“ und der urodynamischen Beobachtung der Detrusorhyperaktivität verweist offensichtlich dabei auf die Blase als Ursache. Dabei ist etwas in den Hintergrund getreten, dass Blasenfüllung und -entleerung normalerweise unter spinaler, subkortikaler und kortikaler Kontrolle stehen. Diese cerebrale Kontrolle erlangt das Kind im Verlauf der körperlichen und sozialen Entwicklung (Erziehung). Im übrigen können diese Fähigkeiten im Säugetierbereich, unabhängig von sonstiger Lernfähigkeit, nur noch Hund und Katze erwerben. Zum Hausschwein in der Wohnung gibt es unterschiedliche Meinungen. Bei dieser zentralen nervalen Kontrolle der Miktion handelt es sich um ein komplexes Geschehen mit vielen Einflußfaktoren.

 

 

Physiologie der Miktion

 

Es ist das Verdienst von Bradley und Scott (1978), das komplexe System der Innervation des unteren Harntraktes analysiert und definiert zu haben. In diesen vier Funktionskreisen, die miteinander kommunizieren müssen, spielt das Gehirn eine zentrale Rolle. Der erste Funktionskreis beinhaltet Bahnen zwischen Frontalhirn und der Formatio reticularis des Hirnstamms mit Verbindungen zu Thalamus, Basalganglien und Kleinhirn. Dieser Funktionskreis koordiniert die willentliche Kontrolle des Miktionsreflexes. Eine bildliche Darstellung des cerebralen Funktionsablaufes erfolgte mittels Positronenemissionsspektrographie bereits Ende der 90er Jahre. Auf dem 70. Seminar des Arbeitskreises Urologische Funktionsdiagnostik und Urologie wurden in diesem Jahr von Prof. Dipl.-Ing. Schäfer auf Pittsburg diese cerebralen Funktionsabläufe in Kombination von Urodynamik und funktioneller Magnetresonanztomographie noch einmal nachvollziehbar dargestellt. Prof. Dipl.-Ing. Schäfer kommt dabei abschließend zur Aussage „Die Bezeichnung überaktive Blase ist eher eine irreführende Vereinfachung. Offensichtlich handelt es sich um einen Verlust der Harntraktkontrolle, zu der viele Faktoren beitragen.“

 

Eine Schädigung dieser Strukturen bewirkt einen teilweisen oder völligen Verlust der willkürlichen Kontrolle über den Blasenreflex, es kommt zu einer Verminderung hemmender Impulse mit nachfolgender Hyperaktivität des Blasenmuskels. Die physiologischen Altersveränderungen bilden dabei die Basis. So ist nicht verwunderlich, dass die Detrusorhyperaktivität die häufigste Ursache der Harninkontinenz bei älteren Menschen ist. Nicht vergessen darf man dabei, dass neben dem Verlust der zentralen Kontrolle der Miktion die Hyperaktivität des Detrusors auch direkt durch Veränderung der Blasenmuskulatur im zellulären Bereich im Sinne einer Detrusordegeneration mit verursacht sein kann. Auch wenn nachfolgend insbesondere auf die Störung im cerebralen Bereich eingegangen wird, muß man immer den Zusammenhang mit Funktionsstörungen direkt an der Blase beachten.

 

Alle Einflüsse, Veränderungen oder Schädigungen im Gehirn beeinflussen dieses komplexe System der Innervation. Im Vordergrund stehen dabei physiologische Altersveränderungen des Gehirns, psychische Einflüsse, altersabhängige Krankheitsbilder und damit verbunden Medikamente (Tab. 1).

 

 

Tab.1: Einflüsse, Veränderungen oder Schädigungen im Bereich der cerebralen

Kontrolle

 

  • Physiologische Altersveränderungen
  • Psyche
  • Altersabhängige Krankheitsbilder (z.B. Demenz, Apoplex, M. Parkinson)
  • Multimorbidität
  • Medikation

 

 

Physiologische Altersveränderungen

 

Die mit zunehmenden Alter zu beobachtenden cerebralen Veränderungen mit Abnahme der Synapsen, Beeinflussung der Neurotransmission durch Abnahme der Rezeptordichte, Rezeptorfunktionalität und Transmitterkonzentrationen sowie signalbedingten Freisetzung von Transmittersubstanzen beeinflußt die Inhibition der Blasenfunktion. Eine Veränderung des Miktionsmusters ist bei Patienten über 65 Jahren so geläufig, dass die meisten von Ihnen eine milde Symptomatik von Seiten des unteren Harntraktes als natürliche Konsequenz des Alterns betrachten. Dabei steht eine Steigerung der Miktionsfrequenz und ein imperativer Harndrang im Vordergrund. Dazu gewinnen Reflexe, die bei jüngeren Menschen keine Rolle spielen (z.B. Miktionszwang bei kalten Füßen oder laufendem Wasser) eine zusätzliche Rolle. Diese physiologischen Alterungsveränderungen des Gehirns müssen im Zusammenhang mit den Veränderungen an der Blase gesehen werden.

 

 

Psyche

 

Bereits 1980 hat Burnside festgestellt: „Inkontinence wich is temporary and reversible may be related to anxiety, pain, hostility or inadequate attention.“ So können psychische Ursachen neben somatischen mitverantwortlich für das Entstehen von Inkontinenz sein, sie können aber auch die alleinige Ursache für eine Inkontinenz bei älteren Menschen darstellen. Die psychogen (mit)bedingte Inkontinenz bei älteren Patienten muß als somatische – oft regressive – Antwort auf den Zustand von Hoffnungslosigkeit, Resignation und Ohnmacht, als körperliche Reaktion auf eine eingetretene Verlustsituation gesehen werden. Die psychische Ursache kann bei Älteren bei einer bestehenden Drangsymptomatik das Umkippen in eine Dranginkontinenz bedeuten.

 

 

Altersabhängige Krankheitsbilder

 

Bei Kenntnis der physiologischen Abläufe ist es nicht verwunderlich, dass Erkrankungen des Gehirns wie z.B. Demenz, Schlaganfall, Morbus Parkinson alle mit Problemen der Kontinenz einhergehen. Jeweils unterschiedlich nach Ort der Schädigung im Gehirn treten diese Änderungen beim Krankheitsbild (z.B. der Demenz) frühzeitig auf (z.B. fronto-temporale Demenz) oder erst im späteren Verlauf (Alzheimer-Demenz). Mit zunehmender Störung der cerebralen Funktion kommt es zum Auftreten der Dranginkontinenz.

 

Dies bedeutet im mittleren Stadium der Alzheimer-Demenz, dass ca. 60 % der Patienten unter Inkontinenz leiden und im schweren Stadium bis zu 100 %. Dabei bedeutet das Auftreten einer Inkontinenz immer einen weiteren entscheidenden Lebensqualitätsverlust, wobei oft der Einfluß der Medikation gegen die Grundkrankheit schwer abzugrenzen ist (z.B. beim M. Parkinson). Bei kurzfristiger Schädigung des Gehirns, wie z.B. beim Apoplex sind über 50 % der Patienten von Inkontinenz betroffen. Dabei ist hier die Frühinkontinenz noch ein aussagekräftiger prognostischer Faktor für rehabilitativen Erfolg im Laufe des ersten Krankheitsjahres.

 

 

Multimorbidität

 

Das Risiko, eine Blaseninkontinenz zu entwickeln, steigt u.a. auch mit dem Ausmaß der Multimorbidität (gleichzeitiges Bestehen mehrere behandlungsbedürftiger Krankheiten). Wobei die Einflußnahme durchaus unterschiedlich sein kann. Die cerebrale Einflußnahme des Diabetes führt zur Drangsymptomatik, die periphere zur atonen Blase.

 

Bereits beim ersten Bamberger Gespräch 1996 mit dem Leitthema „Harninkontinenz, Multimorbidität und Medikamente“ war Multimorbidität ein zentraler Diskussionspunkt. In der damals dargestellten „Pflegeerhebung“ wurde deutlich, dass allein die Anzahl der behandlungsbedürftigen Krankheiten eine Rolle auf das Vorliegen einer Harninkontinenz zu haben scheint.

 

Inwieweit hier für das Auftreten einer Inkontinenz die Krankheitsbilder zentral, peripher oder die fast immer begleitende Medikation eine Rolle spielen, blieb dabei offen und konnte statistisch nicht geklärt werden. Viele altersabhängige Krankheitsbilder im Rahmen der Multimorbidität Älterer nehmen sowohl Einfluß auf die cerebrale Steuerung als auch direkt auf die Blasenfunktion. Beispielhaft sei hier das Krankheitsbild des Diabetes genannt, das bei vielen Älteren eine große Rolle spielt.

 

Neben der klassischen „diabetischen Zystopathie“ (atone Blase) können 30 – 50 % der Patienten Symptome der überaktiven Blase entwickeln. In der Wittener Diabetes-Studie, die auf dem Bamberger Gespräch 2007 vorgestelt wurde, wurde der direkte Zusammenhang der Drangproblematik mit der cerebralen Leistungsfähigkeit deutlich.

 

 

Medikamentöse Einflüsse

 

Im Vordergrund der Entgleisung der cerebralen Blasenkontrolle steht, wie oben angesprochen, die Verminderung hemmender Impulse mit nachfolgender Hyperaktivität der Blasenmuskel – Drangsymptomatik/ Inkontinenz. Häufig vergessen wird, dass Einfluß auf diesen ersten Funktionskreis auch Medikamente nehmen können. Ältere Patienten sind oft gezwungen, eine Vielzahl von Arzneien einzunehmen. Im Rahmen der Multimorbidität und damit oft verbundene Multimedikation sind häufig auch Medikamente darunter, die eine Wirkung auf die cerebrale Funktion ausüben und damit auch Einfluß auf die cerebrale Blasenkontrolle nehmen (Tab. 2).

 

Sie vermindern die cerebrale Blasenkontrolle. Problemhaft dabei ist, dass viele Medikamente aufgrund ihrer anticholinergen Nebenwirkung sowohl die kognitive Beeinflussung auslösen, aber auch gleichzeitig drangdämpfend auf den Blasenmuskel wirken. Diese Problematik gilt auch für den Einsatz von Anticholinergika bei der cerebral induzierten Drangsymptomatik. Auf der einen Seite wirken sie wunschgemäß auf den Blasenmuskel, haben aber gleichzeitig eine cerebrale Beeinflussung. Einzig die quaternären Amine haben keine Beeinflussung der cerebralen Funktion und sollten deshalb bevorzugt bei der Problemstellung „Blase und Gehirn“ eingesetzt werden.

 

 

Tab.2: Medikamente mit kognitiver Beeinflussung

 

  • Hypnotika Benzodiazepine
  • Anxiolytika Buspiron, Benzodiazepin
  • Antidepressiva Trizyklische AD, MOA-Hemmer
  • Antipsychotika Phenothiazin, Butyrophenon, Lithium
  • Antikonvulsiva Phenytoin, Barbiturate, Carbamazepin
  • Parkinson Med Levodopa, Bromocriptin, Pergolid, Selegilin
  • Parasympatholytika Atropin, Dicyclomin, Benzhexol, Orphenadrin
  • Analgetika Opioide
  • Antihistaminika Diphenhydramin, Promethazin, Chlorpheniramin
  • Antihypertensiva Betablocker, Methyldopa, Clonidin, Hydralazin
  • Kardiovaskulär Lidocam, Digoxin, Diuretika
  • Diabetes Med Insulin, Sulfonylharnstoff
  • Antibiotika Isoniazid, Gentamycin, Cephaosporine, Griseofulvin, Aciclovir
  • Andere Kortikosteroide, Cimetidin, Prochlorperazin

 

 

Komplexes Problem

 

Das Auftreten von Harninkontinenz muß bei Älteren als multifaktorielles Geschehen gesehen werden. Dabei sind geschlechtsunabhängige Risikofaktoren: Alter, Gebrechlichkeit, Immobilität, intellektueller Abbau, bestimmte Erkrankungen, Harnwegsinfekte, Medikamente und Umweltbedingungen. So muß die Diagnostik eine Reihe der genannten Einflußfaktoren in ihre Überlegungen einbeziehen und bewerten. Eine besondere Bedeutung beim Entstehen der Inkontinenz kommt ohne Zweifel der geistigen und körperlichen Aktivität zu. Dies bedeutet, dass eine Besserung der geistigen Funktion schon allein eine Besserung der Inkontinenzproblematik bedeutet, wie wir aus Untersuchungen bei bestimmten cerebralen Krankheiten wissen (z.B. Demenz und Harninkontinenz). Auch im Gehirn können nach einem neuronalen Schaden Regeneration- und Plastizitätsprozesse zur partiellen Wiederherstellung einer gestörten Funktion beitragen. Die Therapie der Harninkontinenz darf sich also nicht nur auf die Blasenfunktion zentrieren, sondern muß die ganze betroffene Persönlichkeit im Blick haben. Dazu gehören bei der Diagnostik und Therapie nicht nur die medizinischen Fragestellungen sondern es müßten auch die pflegerischen Konsequenzen beachtet werden.

 

 


Quelle: 14. Bamberger Gespräche 2010 der Firma Dr. Pfleger zum Thema „Blase und Gehirn“ am 04.09.2010 (tB).

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